Kriminologie im Nationalsozialismus: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 8. April 2009, 20:49 Uhr


Die Kriminologie im "Dritten Reich" zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie unter weitgehender Zurückdrängung soziologischer und psychologischer Aspekte der Kriminalität den Schwerpunkt auf kriminalbiologische Erklärungsansätze legte. Kennzeichnend war, dass diese primär kriminalbiologische Ausrichtung nunmehr auch von solchen Forschern vertreten wurde, die wie Franz Exner noch während der Weimarer Zeit in der Hauptsache kriminalsoziologisch argumentiert hatten. Rein äußerlich trat die zunehmend kriminalbiologische Ausrichtung der Kriminologie durch die Umbenennung der "Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform" ab 1937 in "Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform", sowie deren fortschreitende Institutionalisierung in Erscheinung.

Situation der Kriminologie zu Beginn des Nationalsozialismus

Die Kriminologie war bereits zur Zeit der Weimarer Republik stark naturwissenschaftlich, positivistisch und sozialdarwinistisch geprägt. Insbesondere aufgrund der rasanten Entwicklung verschiedener Wissenschaftszweige, vor allem der Medizin, die sich in unzählig verliehenen Nobelpreisen in jener Zeit widerspiegelte, nahm Wissenschaft per se einen wesentlichen Stellenwert in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ein. So stand die Kriminologie unter dem Einfluss von Medizinern und Psychiatern, aber auch von Juristen, die vornehmlich den Blick auf den Täter richteten, kriminogene Faktoren als angeboren und ursächlich erachteten.

Franz von Liszt (1851 – 1919), der als Strafrechtsreformer gesellschaftliche Einflüsse als vordergründig betrachtete, überkam zwar mit einem „Sowohl-als-auch“ von Anlage- und Umweltfaktoren bereits vor der Jahrhundertwende zunächst den vorherrschenden Anlage-Umwelt-Streit (s. hierzu auch: Kriminologie im deutschen Kaiserreich (1871-1918) ). Dennoch blieb vornehmlich eine kriminalbiologische Ausrichtung dominant, deren beginnende Institutionalisierung sich bereits 1927 mit der Gründung der kriminalbiologischen Vereinigung manifestierte. Die politische Ausrichtung des Nationalsozialismus zu Beginn des Dritten Reiches führte zu einer Wechselwirkung zwischen dem totalitären Staat auf der einen und dem Wissenschaftszweig der Kriminologie auf der anderen Seite. Das dominierende Anlagedenken konnte einerseits als Legitimation unter dem Deckmantel der Wissenschaft ideologisch genutzt werden, zumal Gesellschaftsschutz unter Aspekten von Reinhaltung der Rasse eine wesentliche strafrechtliche Ausrichtung im Nationalsozialismus war. Andererseits bot sich aus Sicht der Kriminologie die Durchsetzung wissenschaftlicher Konzepte an, die unter der parlamentarischen Demokratie Weimars nur schwer umsetzbar waren. So war eine Konzentration auf erbbiologisches Denken mit einem politischen und wissenschaftlichen Konsens Terrain der Kriminalpolitik, welche im Verlauf des Hitlerregimes eskalierte, indem sie sich unter dem Aspekt der Rassenhygiene zunächst auf den Täter und später schließlich auf ganze Bevölkerungsgruppen verdichtete.

Rassenhygiene

Der Begriff der Rassenhygiene wird meist ausschließlich mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht. Der Rassediskurs entwickelte sich jedoch schon zu Ende des 19. Jhd. auf der Grundlage der Lehre Charles Darwins von der Entstehung der Arten und etablierte sich als Wissenschaft. Der Begriff der Eugenik, geprägt durch den britischen Anthropologen Francis Galton (1822-1911), stellt seit 1883 einen separaten Wissenschaftszweig der Genetik dar, der ursprünglich die Idee verfolgte, humangenetische Erkenntnisse u.a. auf Gesundheitspolitik anzuwenden, positive Erbanlagen sollten maximiert, negative minimiert werden. Der Mediziner Alfred Ploetz (1860-1940) führte sodann 1895 den deutschen Begriff der Rassenhygiene ein. Erst im Verlauf des Dritten Reiches wurde die Idee der Auslese hochwertiger Erbanlagen ideologisch für eine "Züchtung der arischen Rasse" genutzt, sodass schließlich führende Nationalsozialisten auf der Grundlage wissenschaftlicher und später vor allem auch kriminologischer Erkenntnisse Entscheidungen darüber fällten, wer ein Recht auf Leben und wer ein Recht auf Kinder haben sollte.

Kriminologische Wegbereiter

Insbesondere Edmund Mezger, (1983-1962) und Franz Exner (1881-1947), prägten den kriminologischen Diskurs zur Zeit des Nationalsozialismus. Beide werden in der Literatur vielfach in einem Atemzug genannt, unterscheiden sich dabei jedoch in ihrem Denken und Schaffen erheblich. So war Exner als Schüler Franz v. Liszts insbesondere während der Weimarer Zeit eher kriminalsoziologisch, zur Zeit des dritten Reichs dann jedoch schwerpunktmäßig anlageorientiert ausgerichtet. Exner war nie Mitglied der NSDAP, stand rechtsphilosophisch in der Tradition Max Webers und hatte Kontakte mit US-amerikanischen Kriminologen, wie Edwin H. Sutherland. Bis weit nach Kriegsende wirkten die verschiedenen Auflagen seines Lehrbuchs „Kriminalbiologie“ richtungsweisend. Darin enthaltene rassistische Passagen wurden auch in einer letzten Auflage von 1949 weder durch den veränderten Buchtitel „Kriminologie“, noch durch konsequente Streichungen eliminiert. Die Rolle Exners bleibt bis heute umstritten. Mezger, in erster Linie Jurist und Strafrechtsdogmatiker, war zunächst als Rechtsanwalt, später als Staatsanwalt und Richter tätig. Bereits zur Weimarer Zeit lehrte er u.a. Straf- und Strafverfahrensrecht, erst von 1942 an auch Kriminologie. Mit seinem 1931 erschienenen Strafrechtslehrbuch verschaffte sich Mezger einen Namen. Er wirkte als Mitglied der Strafrechtsreformkommission an verschiedenen Gesetzesvorhaben und -änderungen mit. So brachte er die sogenannte Analogienovelle von 1935 (Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28.05.1935) mit auf den Weg, die das „Analogieverbot“ aufhob und „das gesunde Volksempfinden“ maßgeblich für eine Bestrafung werden ließ (§ 2 StGB-damals).

Auch Gustav Aschaffenburg (1866-1944) und Hans von Hentig (1887 – 1974), Begründer bzw. Mitherausgeber der „Monatsschrift“ und später aufgrund politischer Verstrickung im Exil lebend, wirkten in jener Zeit nachhaltig mit ihren Arbeiten. Als Gerichtsmediziner und Rassehygieniker wird Ferdinand von Neureiter (1893-1946) vielfach in der Literatur benannt. Er leitete in der Zeit von 1937 – 1939 die kriminalbiologische Forschungsstelle; in dieser Funktion war er Vorgänger von Robert Ritter (1901-1951) und stand damit im Dienst des Reichsgesundheitsministeriums.

Forschungsfelder

Exner, Mezger und von Neureiter vertraten Vorstellungen, die Erbanlagen als Ursachen von Verbrechensentstehung und kriminellen Persönlichkeiten sahen. Ihre Ideen bauten auf Forschungen auf, die bereits während der Weimarer Republik stattfanden und ab 1933 neuen Aufwind bekamen:

  • Vererbungs- und Sippenforschung

Sippenuntersuchungen wurden vielfältig durchgeführt. So sah Robert Ritter (1901-1951) 1937 die „Gaunereigenschaft“ als vererblich an. Die Psychologin Eva Justin(1909-1966), engste Mitarbeiterin Ritters, kam zu dem Ergebnis, dass das Erbschicksal „artfremd erzogener Zigeunerkinder und ihrer Nachkommen“ nicht eine Integration sondern Unfruchtbarmachung nach sich ziehen sollte. Ludwig Kuttner forderte aufgrund seiner Studien ebenfalls Unfruchtbarmachung, Heinrich W. Kranz untersuchte 1941 das „Asozialenproblem“. Friedrich Stumpfl legte neben Ergebnissen zur Zwillingsforschung in seiner 1936 publizierten Studie „Erbanlage und Verbrechen“ auch Resultate seiner Sippenforschung dar. So verglich er Schwerverbrecher und Leichtkriminelle hinsichtlich Kriminalität und psychischer Störungen, wobei Stumpfl zufolge die Sippen der Schwerverbrecher ein erhöhtes Maß an beidem auswies.

  • Zwillingsforschung

Mit der Zwillingsforschung hatte Johannes Lange (1891-1938) 1929 erstmalig Erbeinfluss auf kriminelles Verhalten untersucht. Lange verglich in seiner Studie an kriminellen Zwillingen eineiige und zweieiige Zwillingspaare, wobei sich eine höhere Konkordanz bei den eineiigen Paaren herausstellte, sodass er Erbanlage als Verbrechensursache schlussfolgerte. Er sah „Verbrechen als Schicksal“, wie dem Titel seiner damaligen Studie zu entnehmen ist und stellte gar Verhütungsforderungen auf. Zu ähnlichen Ergebnisse kamen Heinrich Kranz („Lebensschicksale krimineller Zwillinge“ - 1936) und Friedrich Strumpfl („die Ursprünge des Verbrechens“ – 1936) mit differenzierteren Untersuchungen. Wenngleich die damalige Zwillingsforschung als Wegbereiter kriminalbiologischer Theorie gesehen werden kann, ist ihre Aussagekraft insbesondere aufgrund geringer Fallzahlen nicht zu hoch zu bewerten.

  • Konstitutionsbiologie

Die Lehre des deutschen Psychiaters Ernst Kretschmer (1888 – 1964) über die Zusammenhänge zwischen Körperbau und Charakter war für die Kriminologie, insbesondere für Mezger und Exner, wegweisend. Sie folgerten, dass insbesondere psychische Merkmale den Abweichler zu einem Anlageverbrecher machten.

  • Psychopathie

Die Lehre Kurt Schneiders (1887- 1967 ), ebenfalls deutscher Psychiater, der psychopatische Persönlichkeiten kategorisierte und nicht nur das individuelle Leiden des Abweichlers, sondern auch das Leiden der Gesellschaft unter dem Abweichler in den Vordergrund stellte, wurde von den Kriminologen mit der Formel „Gewohnheitsverbrecher sind Psychopaten“ übernommen. Stumpfl, Mezger und Exner nahmen die Gedanken Schneiders auf. So waren für Stumpfl Rückfallverbrecher Psychopaten; für Exner befand sich eine hohe Zahl an Psychopaten bei den Schwerverbrechern und Mezger sah in dem psychopatischen Verbrecher einen besonders gefährliche Verbrecher. Des Weiteren sahen Exner und Stumpfl Psychopathie als Erbkrankheit an. Stumpfl forderte gar rassenhygienische Maßnahmen. Diese Einschätzung führte letztendlich zu Forderungen von „Gegenmaßnahmen“ wie Eheverbot, Sterilisation und Sicherungsverwahrung (vgl. Dölling, 1989; Streng 1993).

  • andere Strömungen

Die damalige Kriminologie beschränkte sich nicht ausschließlich auf einen biologischen Diskurs. So fallen Exners Prognoseforschung bezüglich Rückfälligkeit, sowie Ansätze der Viktimologie und Dunkelfeldforschung ebenfalls in diese Zeit. Geisteswissenschaftlich orientierte Ansätze von Hellmuth Mayer (1895-1980), Wilhelm Sauer (1879-1962) und auch von Mezger waren zu verzeichnen, nahmen jedoch keinen bedeutenden Stellenwert in jener Zeit ein.

Institutionalisierung der Kriminologie

Die Gründung der kriminalbiologischen Gesellschaft am 06.06.1927 in Wien, dessen erster Präsident und späterer Ehrenvorsitzende Adolf Lenz (1868-1959) war, ging mit dem ersten zunächst in Bayern gegründeten kriminalbiologischen Dienst einher, wodurch sich mehr und mehr die Institutionalisierung der Kriminalbiologie etablierte. 1937 wurde der kriminalbiologische Dienst schließlich landesweit eingerichtet. Er umfasste 73 kriminalbiologische Untersuchungsstellen, die in den Strafanstalten integriert waren, sowie 9 kriminalbiologische Sammelstellen, die wiederum für die Erstellung von Gutachten und die Evaluation der Untersuchungen zuständig waren. Zudem wurden rassenhygienische und kriminalbiologische Forschungsstellen des Reichsgesundheitsamtes, sowie das kriminalbiologische Institut der Sicherheitspolizei ins Leben gerufen.

Zweck der kriminalbiologischen Gesellschaft, bestehend aus Juristen, Mediziner, Psychologen und Pädagogen aus Theorie und Praxis, war u.a. die biologische Betrachtung des Verbrechers in Wissenschaft und Strafrechtspflege. Dieser Zweck war in ihrer Gründungssatzung dokumentiert, die bereits 1927 kriminalsoziologische Vorstellungen gänzlich ausgeklammert hatte (vgl. Schöch, 1986, S.362; Streng 1993, S. 144). Die Satzung hatte bis 1967 Gültigkeit. Die Gesellschaft entwickelte sich durch ihre Fachtagungen, Veröffentlichungen und nicht zuletzt durch ihre politische und wissenschaftliche Vernetzung seinerzeit schnell zu DER kriminologischen deutschen Vereinigung.

Tätertypologie und die Rolle des Strafrechts

Mit den bereits im 19. Jhd. geprägten Begrifflichkeiten des „geborenen Verbrechers“ durch Lombroso und der später durch Franz v. Liszt vorgenommenen Klassifizierung in „Abschreckbare, Besserungsfähige und unverbesserliche Täter“ stand nicht nur die biologisch geprägte Kriminologie in der Tradition der Tätertypologie. So spiegeln die im Dritten Reich auch kriminalpolitisch und strafrechtlich genutzten Bezeichnungen des „Gewohnheits-, Zustands- oder Gelegenheitsverbrechers“, des „Mehrfach- oder Hangtäters“ nicht nur anlagebedingtes Denken, sondern auch die nationalsozialistische Ideologie des Gemeinschaftsschutzes und demzufolge die hierfür notwendige Ausgrenzung devianter Personengruppen wider. Zudem war insbesondere das damalige Strafgesetzbuch seinerzeit nicht nur mit tätertypisierenden Begriffen versehen, wenn etwa die Rede war vom „gefährlichen Sittlichkeitsverbrecher“ - gleichzeitig wurde eine beschreibende Abwertung vorgenommen. In der Zeit des Nationalsozialismus erlassene oder verifizierte Gesetze, zeigen somit kriminalbiologisches und tätertypologisiertes Denken auf:

So sah das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.1933 Sicherheitsverwahrung und Entmannung für gefährliche Gewohnheitsverbrecher vor. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.07.1933 ermöglichte die Sterilisation bzw. Unfruchtbarmachung von Erb- und schwer Alkoholkranken. Im Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18.10.1935 war ein Eheverbot zum Schutz der Volksgemeinschaft und zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ enthalten. Mit der Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 04.11.1941 ging eine Verschärfung gegen "gefährliche Täter" einher. Demnach drohte gefährlichen Gewohnheits- und Sittlichkeitsverbrechern die Todesstrafe, wenn Sühne oder Gesellschaftsschutz dies erforderten. Die am 04.10.1939 verabschiedete Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher ließ bei entsprechender geistiger Reife eine Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf Jugendliche ab 16 zu. § 20 des Reichsjugendgerichtsgesetzes vom 06.11.1943 verschärfte das Jugendstrafrecht weiter. Danach konnte auch auf Minderjährige ab 14 Erwachsenenstrafrecht angewandt werden, und zwar unabhängig von ihrer geistigen Reife unter Hervorhebung des Gesellschaftsschutzes, was Exner seinerzeit begrüßte (vgl. Dölling, 1989).

Neben dem Gemeinschaftsfremdengesetz, das als förmliches Gesetz nie zustande kam, existierten unzählige Erlasse, Protokolle, Verfügungen oder Vollzugsvorschriften, die von "hartem Vorgehen gegen Wohnungslose" über "Anweisungen zu verschärfenden Strafvorschriften von Bettlern oder Prostituierten" zu "Vernichtung Asozialer als Aufgabe der Justiz" reichten und inhaltlich den Gemeinschaftsfremden typologisierten. Gegen die Tätertypenlehre hatte sich bereits 1943 der Psychiater Hans Walter Gruhle (1880-1959) insbesondere wegen ihrer Vagheit, Unbestimmtheit und der daraus resultierenden Vernachlässigung von Tatbeständen zugunsten eines "völkischen Täterstrafrechts" ausgesprochen (vgl. Streng, 1993, S. 158). Denn die Konzentration auf Tätertypen zog strafprozessuale Folgen nach sich. Nicht die Tat, sondern der Täter stand im Mittelpunkt, wodurch sich letztendlich ein Feindstrafrecht etablierte. Der Täter wurde zum Gesellschaftsfeind, dieses Feindbild wurde schließlich auf ganze Bevölkerungsgruppen übertragen. So beschäftigte sich Exner während seines Aufenthalts in den USA mit „Negerkriminalität“. Er schrieb „den Negern“ aufgrund ihrer Rasse ein hohes Maß an Kriminalität zu und folgerte aus dem Arischsein der Norddeutschen ein geringes Aufkommen von Kriminalität. Weiterhin bestand nach Exner die jüdische Straffälligkeit im Begriff des „Gewinnsuchtverbrechertums“. Die folgenschwere Schlussfolgerung „Judentum ist Erbverbrechertum“ ebnete wohl mit den Weg zum Holocaust (vgl. Dölling, 1989).

Kriminologie im Dienste der Kriminal- und Rassenpolitik

Die Gesetzesentwürfe des Gemeinschaftsfremdengesetzes in der Zeit von 1941 - 1944 stellten den Eskalationshöhepunkt des kriminalbiologischen Diskurses im damaligen Strafrecht dar, wobei insbesondere der letzte Enwurf das Zusammenwirken von Kriminolgie und Kriminalpolitik aufzeigte. Insgesamt existierten 3 Entwürfe zum geplanten aber nie durchgesetzten Gemeinschaftsfremdengesetz, dessen wahrhaftige Bedeutung im Begriff des Gemeinschaftsfremden an sich lag. Ein erster Entwurf scheiterte 1941 am Widerstand des Reichsjustizministers Otto Georg Thierak (1889-1946), der einen Kompetenzverlust der Justiz gegenüber polizeilichen Maßnahmen entgegenwirken wollte. Der zweite Entwurf scheiterte 2 Jahre später an Joseph Goebbels (1897-1945), der die geplante Klassifizierung in u.a. "Schmarotzer, Versager, Taugenicht" ablehnte, da diese im Volksmund gebraucht und der Typologisierung in den geplanten gesetzlichen Bestimmungen nicht entsprachen und damit irreführten. Ein letzter Entwurf erschien 1944, er sah eine Einteilung der Gemeinschaftsfremden u.a. in "Versager, Arbeitsscheue und Liederliche" vor. Die Unfruchtbarmachung Gemeinschaftsfremder hätte mit diesem letzten Entwurf umsetzbar werden sollen. Dieser letzte Gesetzesentwurf bezog sich konkret auf Erblehre und Kriminalbiologie. Exner und Mezger waren nicht nur inhaltlich maßgeblich beteiligt gewesen, sie sollten, so das Reichsjustizministerium, zudem kriminalbiologische Schulungskurse abhalten (vgl. Werle, 1989). Schließlich scheiterte das Gesetzesvorhaben aufgrund der Kapitulation Deutschlands.

Der Tendenz zur Verpolizeilichung des Strafrechts standen Exner und Mezger jedoch nicht unkritisch gegenüber. So forderte Mezger einen „justizmäßig klaren Gesetzesaufbau“ und Exner „scharfe und reinliche Gesetzesbegriffe“ (vgl. Werle, 1989). Dennoch bleibt die Rolle Mezgers umstritten. In verschiedenen Auflagen seines Werkes "Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage" zwischen 1934 bis 1944 schrieb er der Kriminalpolitik die Aufgabe der "rassenmäßigen Aufartung des Volkes" zu, "der entartete Schädling solle ausgemerzt werden".

Auseinandersetzung mit der Kriminologie nach Kriegsende und in der Spätmoderne

Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg fand keine Auseinandersetzung mit den Verstrickungen der Kriminologie während der Zeit des Dritten Reiches statt. Stillschweigend wurden durch Exner und Mezger Literatur umbenannt oder Inhalte pseudo-modifiziert. Exner trat während der Nürnberger Prozesse als Verteidiger auf, während Mezger seines Amtes enthoben, in den Nachkriegsjahren jedoch vollständig rehabilitiert wurde. In Vergessenheit gerieten lange Zeit Kriminologen wie Hans von Hentig, der wegen seiner politischen Opposition 1935 seine Professur verlor (s. auch: Kieler Schule), in die USA emigrierte und nach dem Krieg erneut in Bonn lehrte. Er gilt heute als entscheidender Wegbereiter der Viktimologie. Auch die jüdischen Kriminologen Herbert Mannheim und Max Grünhut gerieten in Vergessenheit, die letztendlich dem nationalsozialistischen Diskurs ihrer Kollegen zum Opfer fielen und nach Flucht bzw. Emigration an britischen Eliteuniversitäten Fuß fassten. So resümiert David Garland den großen Verdienst Mannheims und Grünhuts an der Entwicklung der Kriminologie als eigenständige Wissenschaft in Großbritannien (vgl. Oxfordjournal).

Eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Verstrickungen der Kriminologie während des Dritten Reiches begann erst im späten 20 Jhd. Während sich vereinzelt Autoren kritisch mit den Machenschaften Exners und Mezgers auseinandersetzen (u.a.: Ina Pfennig, Francisco Munoz Conde, Gerit Thulfaut), reflektieren andere die Zusammenhänge zwischen Kriminologie als Wissenschaft und dem nationalsozialistischen Diskurs oder betreiben analytische Ursachenforschung (u.a.: Dölling, Streng). So hebt beispielsweise Streng in einem ganzen Kapitel kritisch auf die weichenstellende Rolle Franz v. Liszt s ab. Dölling reflektiert die allmähliche Entwicklung des Schulterschlusses zwischen kriminologischem und politischem Diskurs, den auch Werle am Beispiel der Entwicklung des Gemeinschaftsfremdengesetzes umfassend erläutert.

Rückblick/Ausblick

Sowohl eine Überbetonung des kriminalbiologischen Diskurses als auch aufkommende Sympathie für nationalsozialistische Gesellschaftsveränderungen durch wissenschaftliche Randfiguren und Stimmführer führten zur Anfälligkeit für Missbrauch der damaligen, in der biologischen Tradition der Weimarer Zeit stehenden Kriminologie. Mit oftmals auf schmaler empirischer Basis gestelltem wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn, damit verbundenem Wissenschaftsmissbrauch unter Außerachtlassung von Ethik und Moral, wurde die Kriminalbiologie zur Legitimationswissenschaft, zum „Stützpfeiler oder zur Garnitur des Unrechts“ (Streng, 1993) der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Im Bann der ideologischen Anziehungskraft des Nationalsozialismus versäumte es ein ganzer Wissenschaftszweig, den damaligen Zeitgeist ausreichend zu hinterfragen (vgl. Dölling, 1989, Streng, 1993).

Derzeit hinterfragt insbesondere die kritische Kriminologie die sporadisch immer wieder auflebende Renaissance des biologischen Diskurses, von dem eine "eigentümliche Faszination" auszugehen scheint (vgl. Kunz, 2004).

Literatur

  • Wolfgang Ayaß, "Gemeinschaftsfremde". Quellen zur Verfolgung von "Asozialen" 1933 - 1945. Koblenz: Bundesarchiv (Materialien aus dem Bundesarchiv, 5) - 1998
  • Imanuel Baumann, Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980, Göttingen 2006
  • Dieter Dölling, Kriminologie im "Dritten Reich", in: Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im "Dritten Reich", Frankfurt a.M. 1989, S. 194-225.
  • Franz Streng, Der Beitrag der Kriminologie zur Entstehung und Rechtfertigung staatlichen Unrechts im "Dritten Reich", in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 76 (1993), S. 141-168.
  • Richard F. Wetzell, Inventing the Criminal. A History of German Criminology 1880-1945, Chapel Hill und London 2000, insbs. S. 179-231.
  • Günther Kaiser, Kontinuität und Diskontinuität in den Diskursen über Kriminalität und strafrechtliche Sozialkontrolle im Lichte wissenschaftshistorischer Betrachtung in Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 89 (2006), S. 314-327.
  • Gerhard Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich Berlin 1989, S. insbs. 636-658
  • Gerit Thulfaut, Kriminalpolitik und Strafrechtslehre bei Edmund Mezger - Eine wissenschaftsgeschichtliche und biographische Untersuchung, Baden-Baden, 2000
  • Heinz Schöch, Die gesellschaftliche Organisation der deutschsprachigen Kriminologie, Ausblick und Rückblick in Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, Berlin 1986, S.355-372
  • Karl-Ludwig Kunz, Kriminologie - eine Grundlegung Bern, 2004
  • Reinhard Schütz, Kriminologie im Dritten Reich. Erscheinungsformen des Faschismus in der Wissenschaft vom Verbrechen, 1972
  • Jürgen Simon, Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920 - 1945, Münster: Waxmann (Internationale Hochschulschriften, 372) - 2001
  • Jan Telp, Ausmerzung und Verrat. Zur Diskussion um Strafzwecke und Verbrechensbegriffe im Dritten Reich, Frankfurt am Main: Lang (Rechtshistorische Reihe, 192) - 1999

weblinks