Kriminologie

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Als Kriminologie bezeichnet man ein interdisziplinäres Forschungsgebiet aus Soziologie, Philosophie, Pädagogik, Psychologie, Ethnologie und Rechtswissenschaften (hier insbesondere der Strafrechtswissenschaft).

Definition

Gemeinsam ist den jeweiligen Forschern ein Erkenntnisinteresse in Hinblick auf Ursachen, Formen und Möglichkeiten der Prävention von kriminellen Handlungen. Sie blickt gewissermaßen "von oben" auf die Entwicklung der Kriminalität insgesamt und ihrer Untergliederungen, also auf den quantitativen und qualitativen Wandel der Gewalt-, der Eigentums- und Vermögenskriminalität, der Jugend-, der Alters-, der Frauen-, der Männer-, der In- und Ausländer-, der Wirtschafts-, Drogen-, Sexual-, Raub-, Mord-, Computer- und/oder der Umweltkriminalität und sie fragt dabei in aller Regel nach zweierlei: erstens den Ursachen und zweitens den Möglichkeiten ihrer Beeinflussung. So wird auch das Anzeigeverhalten der Bevölkerung, die Tätigkeit der Polizei und der Staatsanwaltschaft, der Gerichte und des Strafvollzugs zum Gegenstand empirischer Forschung. Gerne wird die Kriminologie - mit Edwin H. Sutherland und Donald Cressey (1974) - als die Disziplin beschrieben, die sich mit human- und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden um “lawmaking, lawbreaking and the reactions to lawbreaking” bemüht. Man kann auch sagen: Kriminologie ist die wissenschaftliche Befassung mit Kriminalität als einer sozialen Tatsache, wozu auch die Untersuchung von Straftätern, die Berücksichtigung von Opfern und die Frage der Bestrafung, Behandlung, Hilfe und Wiedergutmachung gehören. Oder: Kriminologie ist die wissenschaftliche Erforschung der Entstehung, der Bekämpfung und der Verhinderung, der Prävention, von Kriminalität, wobei in letzter Zeit neben der Figur des Straftäters auch diejenige des Opfers eine wichtige Rolle spielt (Viktimologie). Eine der Fragen, die sie umtreibt, ist die nach den Wirkungen (der Effektivität und den ungewollten Nebenwirkungen) der Strafen und der Maßregeln, bzw., im Jugendbereich, der sogenannten Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel.

Der Begriff der Kriminologie ist vom Begriff der Kriminalistik zu unterscheiden, welche die Aufklärung einzelner Verbrechen zur Aufgabe hat.

In Deutschland gehört die Kriminologie zu den Kriminalwissenschaften und ist somit (zumindest in Teilbereichen) den Rechtswissenschaften zuzurechnen. Sie ist bedeutsam im Zusammenhang mit dem Strafrecht und vor allem in Bezug auf das Strafvollzugsrecht bzw. bei dessen Umsetzung durch im Strafvollzug tätige Juristen. Anwendung finden kriminologische Erkenntnisse im Strafrecht vor allem bei der Legalprognose im Zusammenhang etwa mit der Urteilsfindung oder auch der Aussetzung der Strafe zur Bewährung.

Geschichte und Strömungen der Kriminologie

Erstmals verwendet wurde der Begriff der Kriminologie von Raffaele Garofalo als Titel seines 1885 veröffentlichten Lehrbuchs "Criminologia". 1887 sprach Niccolo Colajanni von "Criminalogie". 1892 veröffentlichte in den USA Arthur MacDonald sein Werk "Criminology" (mit einem Vorwort von Cesare Lombroso). In Deutschland benutzte Theodor Reik den Begriff in seiner 1925 erschienenen Schrift "Geständniszwang und Strafbedürfnis. Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie". Einen ausführlichen Überblick über die Etymologie des Begriffs 'Criminology' bietet Jeffrey R. Wilson (2015).

18. und 19. Jahrhundert: Die "Klassische" und die "Positive" Schule

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Als (zumindest geistiger) Begründer einer sog. "Klassischen Schule der Kriminologie" − und der Disziplin Kriminologie überhaupt − wurde früher verbreitet der Italiener Cesare Beccaria angesehen. In seiner im 18. Jahrhundert veröffentlichten Schrift "Dei Delitti e delle Pene" (dt. "Über Verbrechen und Strafen") plädierte er als Utilitarist in einer Art Manifest gegen die Zustände des damaligen Strafrechtswesen dafür, die Überkommenen Methoden (wie Folter, Todesstrafe etc.) durch humanere und nützlichere Methoden zu ersetzen. Obwohl Beccarias Schrift zunächst auf große Zustimmung traf, verhallten seine Forderungen recht bald wieder, ohne für große Veränderungen gesorgt zu haben. Beccaria wird einerseits teilweise als Vorläufer einer ettiketierungstheoretisch orientierten Kriminologie bezeichnet (so vom Schweizer Kriminologen Karl-Ludwig Kunz), andererseits wird zunehmend bezweifelt, dass Beccarias Werk mangels empirischer Forschungsansätze überhaupt bereits der Kriminologie zuzuordnen ist.

Foto eines zeitgenössischen Ölbildes des Psychiaters Cesare Lombroso

Als Urheber einer empirischen Kriminologie gilt hingegen der italienische Mediziner Cesare Lombroso. Dieser begründete − gemeinsam mit den Juristen Raffaele Garofalo und Enrico Ferri − die "Positive Schule" der Kriminologie ("Secola Positiva" − Selbstbezeichnung). Im Jahre 1876 veröffentlichte Lombroso die erste Auflage seines Werkes "L'uomo delinquente" (dt. "Der Verbrecher"), in welchem er die These vertrat, dass man Verbrecher anhand physiologischer Merkmale erkennen könne. Nach dieser Theorie war das Verbrechen somit bei der Geburt determiniert, was zu dem Schluss führte, dass als Reaktion auf Verbrechen ausschließlich repressive Maßnahmen in Betracht kämen. Lombrosos Thesen basierten auf Untersuchungen (körperlichen Messungen), welche er zunächst in seiner Zeit als Militärarzt an Soldaten und später an Strafgefangenen vorgenommen hatte und anhand derer er Tafeln mit den unterschiedlichen "Verbrechertypen" aufstellte. Seine Theorien wurden allerdings bereits zu dessen Lebzeiten von anderen Wissenschaftlern widerlegt und werden heutzutage kaum noch vertreten. Insbesondere der österreichische Philosoph Peter Strasser bestreitet in seiner antilombrosianischen Streitschrift Verbrechermenschen (1. Auflage 1984) auch Lombrosos Selbstanspruch als empirischen Forscher. Die Kriminologie Lombrosos bezeichnet er als den "als Wissenschaft verbrämten Mythos".

20. Jahrhundert und Gegenwart

Die von Lombroso und seiner Schule begründeten anlagebedingten Erklärungsansätze wurden im 20. Jahrhundert durch die Adoptions- und die Zwillingsforschung, sowie die weniger populäre sog. "Phosphattheorie" (verstärkte Aggressionsbereitschaft durch übermäßigen Konsum phosphathaltiger Fleischprodukte) fortgesetzt. Ferner wurde zeitweilig von der Existenz eines sog. Mörderchromosomes ausgegangen (überzähliges Y-Chromosom - XYY), dessen Kausalität für das Begehen von Verbrechen jedoch wissenschaftlich widerlegt werden konnte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzten sich zunehmend solche Stimmen durch, welche die Verbrechensursachen nicht ausschließlich in den Anlagen des Menschen vermuteten, sondern vielmehr auch die Umwelt als Ursache mit einbezogen. In diesem Zusammenhang entwickelte sich die von Franz von Liszt aufgestellte sog. Anlage-Umwelt-Formel, wonach er das Verbrechen als Resultat der Eigenart des Täters und den diesen zur Tatzeit umgebenden äußeren Einflüssen beschrieb. Während der nationalsozialistischen Herrschaft gewannen die anlagebedingten Theorien nochmals an Bedeutung - was sich etwa in der Ausweitung strafrechtlicher Sanktionen auf Familienangehörige des Straftäters (siehe auch Sippenhaftung) widerspiegelte.

Theorien

Heutzutage gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Erklärungsansätze. Diese lassen sich grob einteilen in: - täterorientierte Theorien - gesellschaftsorientierte Theorien - multifaktorielle Ansätze (zu den einzelnen Theorien siehe auch Kriminalitätstheorien).

In der kritischen Kriminologie wird, entsprechend der Doppeldeutigkeit des lateinischen Begriffsursprungs crimen, was sowohl Beschuldigen, als auch Verbrechen bedeuten kann, unter „Kriminalität“ die Gesamtheit der Aktionen und Interaktionen zwischen den für Rechtsetzung und -durchsetzung zuständigen Institutionen einerseits und den für Rechtsbruch verantwortlichen und von Rechtserleidung betroffenen Individuen andererseits verstanden.

Vertreter des sich seit den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts formierenden Labeling Approaches (dt. Etikettierungsansatz) (in Deutschland z.B. Fritz Sack und Peter-Alexis Albrecht) gehen davon aus, dass Kriminalität ubiquitär (d.h. allgemein verbreitet) sei und lediglich gewisse Schichten der Gesellschaft seitens des Gesetzgebers, sowie der Strafverfolgungsbehörden als Verbrecher "herausselektiert" - und damit etikettiert - würden. In bewußter Abgrenzung zur ätiologisch orientierten Kriminologie, erklären die Anhänger des Etikettierugsansatzes die Entstehung von Kriminalität nicht dadurch, dass sie kausal auf in der Person des Täters oder in der gesellschaftlichen Struktur gelegene Ursachen zurückführen. Kriminalität ist dieser Ansicht zufolge vielmehr das Ergebnis eines gesellschaftlichen Zuschreibungsprozesses. Teile des Labeling-Approaches sind dem (strafrechtlichen) Abolitionismus (Kriminologie) zuzuordnen (einer Strömung, welche die Abschaffung jeglicher Art von Freiheitsentzug fordert).

Die Kriminologie ist vom Begriff her die Lehre vom Verbrechen. Die Ursachenforschung von Kriminalität spielt heute eine wichtige Rolle im Alltag. Die Kriminalitätsfurcht insbesondere älterer Menschen ist Thema der Kriminalpolitik wie auch die erhebliche Kriminalitätsbelastung von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden.

Aufgabengebiet und Arbeitsweise

Der Begriff der Kriminologie ist vom Begriff der Kriminalistik zu unterscheiden. Beide Wissenschaften können als Hilfswissenschaft der jeweils anderen betrachtet werden. Während primäres Ziel der Kriminologie die abstrakte (also nicht auf einen bestimmten Fall bezogene) Erkenntnisgewinnung über die Ursachen und Erscheinungsformen von Kriminalität ist, beschäftigt sich die Kriminalistik mit der konkreten - praxisbezogenen - Fragestellung der Verhütung (Prävention), Bekämpfung und Aufklärung von Straftaten.

Zentrale Betrachtungspunkte der Kriminologie stellen das Verbrechen, der Verbrecher, das Verbrechensopfer, sowie die Verbrechenskontrolle dar.

Kriminologie umfasst insbesondere die Kriminalitätstheorien (darunter auch die Kontrolltheorien und „Halttheorien“, welche der Frage nachgehen, warum Menschen sich konform verhalten - also nicht kriminell werden); zur Kriminologie muss weiterhin auch der Bereich der Sinnhaftigkeit von Strafe gestellt werden.

Betrachtet man Kriminalität als Massenerscheinung, benutzt die Kriminologie auch die bekannten Kriminalstatistiken. Diese haben dann auch erheblichen Anteil an der praktizierten Kriminalpolitik, die sich mit leicht zu vermittelnden Zahlen besser verbreiten lässt, als Hinweise auf komplizierte Untersuchungen. Zentrale Begriffe hierbei sind das Hellfeld und das Dunkelfeld. Problematisch ist in diesem Zusammenhang stets die begrenzte Aussagekraft der Statistiken.


Autonome Wissenschaft?

David Garland (2011) vertritt in seinem Beitrag "Criminology's Place in the Academic Field" (in: What is Criminology? by Mary Bosworth and Carolyn Hoyle, [Published to Oxford Scholarship Online: September 2011DOI:10.1093/acprof:oso/9780199571826.003.0021] die These, dass disziplinäre Autonomie für die künftige Entwicklung der Kriminologie nicht gut wäre. Sie würde dazu tendieren, "to become more inward-looking and will lose its vital connection to the more basic disciplines as it grows more autonomous, institutionally and intellectually; as it increasingly trains recruits by immersing them primarily in its own literature; as its practitioners focus more and more on criminology's own research agendas; and as they proceed to publish only in its own journals. The possibility of an ‘independent’ criminology ought to be regarded as a temptation to be resisted rather than a goal to be embraced."

Stattdessen, so Garland, sollte man auf eine Kriminologie hinarbeiten, "that is intellectually and institutionally integrated in the wider university. It advocates a vision of criminology that would operate as a multi-disciplinary, policy-oriented subject, addressing problems of crime, criminal justice, security, and punishment in a variety of ways and drawing upon a range of academic disciplines."


Kriminologie als Studienfach

Kriminologie als Studienfach wird insbesondere als Grundlagenfach oder als Annexfach zum Strafrecht gesehen. In Berlin und vielen weiteren Universitäten (bspw. Köln) gibt es die Möglichkeit, im Rahmen eines Schwerpunktbereiches im Hauptstudium Kriminologie zu belegen und im Examen darin geprüft zu werden. Ein Master-Studiengang Internationale Kriminologie existiert derzeit an der Universität Hamburg (Abschluss: „Master of Arts (MA)“, früher „Dipl.-Kriminologe“). Seit dem Wintersemester 2005/2006 gibt es an der Ruhr-Universität Bochum einen Masterstudiengang „Kriminologie und Polizeiwissenschaft“, der ab 2008 als viersemestriges "blended learning"-Studium angeboten wird. Der Studiengang ist praxisbezogen und richtet sich sowohl an Bewerber mit mindestens einem abgeschlossenen rechtswissenschaftlichen Studium als auch an Personen aus den Bereichen der Polizei, Sozialarbeit sowie aus anderen Berufsfeldern mit einem geeigneten Fachhochschulabschluss und einschlägiger Berufserfahrung.

Fast sämtliche Universitäten mit juristischer Fakultät besitzen einen Lehrstuhl für Kriminologie.

Seit 2007 gibt es auch an der neugegründeten Deutschen Hochschule der Polizei in Münster (ehemals Polizei-Führungsakademie einen Lehrstuhl für Kriminologie - sowie einen Lehrstuhl für Polizeiwissenschaft.

Literatur

  • Peter-Alexis Albrecht: Kriminologie. Eine Grundlegung zum Strafrecht. 3. Auflage. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53870-3.
  • Britta Bannenberg, Dieter Rössner: Kriminalität in Deutschland. Beck, München 2005, ISBN 3-406-50884-7.
  • Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis., Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3525351720
  • Michael Walter: Jugendkriminalität. Stuttgart 2005, 3. Auflage, ISBN 3415035131.
  • Michael Bock: Kriminologie. München 2000, ISBN 3800625830.
  • Helga Cremer-Schäfer, Heinz Steinert: Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie. Münster 1998.
  • Wolfgang Daschner, Die Geschichte des Verbrechens, Kriminalistik 02/1996 - 06/1996
  • Ulrich Eisenberg: Kriminologie. C. H. Beck, 6. Auflage, München 2005, ISBN 3406531652.
  • Silviana Galassi: Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2004.
  • Garland, David (2011) “Criminology’s Place in the Academic Field” in M. Bosworth and C. Hoyle (eds) What is Criminology?, Oxford University Press.
  • Günther Kaiser: Kriminologie. 3. Auflage, Heidelberg 1996.
  • Hans-Jürgen Kerner (Hrsg.): Kriminologie Lexikon. 4. Auflage, Heidelberg 1991.
  • Stefan Krauth: Zur Querfront von Kriminologie und Hirnforschung. In: Phase 2, #17/2005 .
  • Karl-Ludwig Kunz: Kriminologie. 4. Auflage. Stuttgart 2004.
  • Bernd-Dieter Meier: Kriminologie. 3. Auflage, München 2007, ISBN 3406559824.
  • Hans-Dieter Schwind: Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen 17. Auflage, Heidelberg 2007, ISBN 3783200334.
  • Karsten Uhl: Das „verbrecherische Weib“. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800-1945. Münster u.a.: LIT 2003; ISBN 3-8258-6593-2
  • Jeffrey R. Wilson “The Word Criminology: A Philology and a Definition”. Journal of Criminology, Criminal Justice, Law & Society 16.3 (2015): , 16, 3, 61-82. Web.
  • Michael Windzio, Matthias Kleinmann: Die kriminelle Gesellschaft als mediale Konstruktion?. In: Soziale Welt, 2006, S. 193-215
  • Klaus-Stephan von Danwitz: Examens-Repetitorium Kriminologie 1. Auflage, 2004, ISBN 3811490370

Weblinks


Siehe auch