Kriminalbiologie

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Als Kriminalbiologie bezeichnet man im kriminalätiologischen Diskurs eine Disziplin, die sich mit den körperlichen, inbesondere auch den erblichen Merkmalen des Verbrechers und des Verbrechens beschäftigt. Früher wurde verbreitet auch die Bezeichnung Kriminalanthropologie synonym verwendet

Ursprünge

Die Kriminalbiologie spielte im Gefolge der Rezeption von Charles Darwin (1859) eine zunehmend wichtige Rolle im Wissenschaftsdiskurs über das Verbrechen. Der Verbrecher, einst als moralisch gestrauchelter Mensch angesehen, wurde nunmehr eher als biologisch defektes Wesen, als "verhinderter" mehr denn als "gefallener" Mensch, angesehen (Becker). Mit Lombrosos Studien (1876) und den Diskussionen darum etablierte sich der biologische Ansatz als eine unter mehreren Strömungen, die in den 1880er und 1890er Jahren die Entstehung der Kriminologie als Wissenschaft beeinflussen sollten.

Chronologie

  • 1924 Kriminalbiologischer Dienst in Bayern sammelt Angaben zu den physischen Merkmalen von Gefangenen.
  • 1927 Hofrat und Professor Adolf Lenz: "Grundriss der Kriminalbiologie".
  • 1927 Adolf Lenz (Graz) gründet die Kriminalbiologische Gesellschaft. Bis 1937 kommt es zu fünf Tagungen. Publikation der Referate in den "Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft"
  • 1929 Johannes Lange: "Verbrechen als Schicksal. Studien an kriminellen Zwillingen" (13 eineiige; 17 gleichgeschlechtliche zweieiige Zwillingspaare).
  • 1930 Der Exner-Schüler Rudolf Bernhardt untersucht die "Erbbiologische Kartei" des Sächsischen Justizministeriums und veröffentlicht als Dissertation seine "Studien über erbliche Belastung bei Vermögensverbrechern".


  • 1933 Exner-Schüler Franz Rattenhuber erklärt in seiner Dissertation "Der Gefährliche Sittlichkeitsverbrecher", dass vor allem die "ostische Rasse" für diese Delikte anfällig sei.
  • 1933 Wilhelm Sauer schreibt in seiner "Kriminalsoziologie" (1933: 753, 755) über "rassenhygienische Höherzüchtung" und die "Verhütung Minderwertiger" durch "Absonderung in Arbeitskolonien", "Sterilisation", "Kastration" und "Abbruch der Schwangerschaft".
  • 1933 Ernst Seelig (1933: 131) erklärt, dass, "wem die kriminalbiologische Qualität unserer kommenden Jugend (...) am Herzen liegt, der gelangt zu der Erkenntnis, dass der Kampf gegen die kriminogene Anlage das kriminalpolitische Gebot der Gegenwart ist."
  • 1935 Friedrich Stumpfl: "Erbanlage und Verbrechen. Charakterologische und psychiatrische Sippenuntersuchungen"
  • 1935 Der Exner-Schüler Karl Schnell publiziert "Anlage und Umwelt bei 500 Rückfallverbrechern" auf der Grundlage von Material der Bayerischen Kriminalbiologischen Sammelstelle. Er kommt auf einen Anteil von ca. 80% echter "Anlageverbrecher".
  • 1936 Heinrich Kranz: "Lebensschicksale krimineller Zwillinge". Friedrich Stumpfl: "Die Ursprünge des Verbrechens - dargestellt am Lebenslauf von Zwillingen."
  • 1937 Robert Ritter: Ein Menschenschlag. Erbärztliche und erbgeschichtliche Untersuchung über die - durch 10 Geschlechterfolgen erforschten - Nachkommen von 'Vagabunden, Jaunern und Räubern"
  • 1937 Ein "Kriminalbiologischer Dienst im Bereich der Reichsjustizverwaltung" umfasst 73 in Strafanstalten integrierte "Kriminalbiologische Untersuchungsstellen" und 9 übergeordnete "Kriminalbiologische Sammelstellen". Letzere zuständig für Gutachten etwa zu Sterilisation oder Entmannung.
  • 1937 Umbenennung der Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform in Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform. Ferdinand von Neureiter wird Leiter der Kriminalbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt, des Kriminalbiologischen Dienstes der Reichsjustizverwaltung und Professor für Kriminalbiologie an der Universität Berlin
  • 1938 Franz Exner Volkscharakter und Verbrechen (Monatsschrift).
  • 1939 Franz Exner: Kriminalbiologie (2. Auflage 1944). - Ferdinan von Neureiter wird Ordinarius auf dem neu geschaffenen Lehrstuhl für Gerichtliche Medizin an der Universität Hamburg (Antrittsvorlesung: „Verbrechen und Vererbung”). Geht 1941 an die Reichsuniversität Straßburg.

Drittes Reich

Die Biologie wurde zur Leitwissenschaft. Auf sozialdarwinistischer Grundlage (Bagehot 1872) lehrte man schon die Schüler die Konzepte des "Lebenskampfs", "Sieg des Stärkeren" und "Rassereinheit". 1935 machten Unterrichtsanweisungen die Biologie zum wichtigsten Schulfach. Lernziel war, dass "kein Knabe und kein Mädchen die Schule verlässt, ohne zur letzten Erkenntnis über die Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit geführt zu sein." Die "biologischen Grundtatsachen" zu kennen, sei "für die Erneuerung unseres Volkes unerlässliche Voraussetzung". Biologisches Denken wurde nicht nur ein stundenmäßig dominierendes Fach, sondern zudem auch "Unterrichtsgrundsatz", dem sich insbesondere auch Deutsch, Geschichte, Erdkunde" unterzuordnen hatten (Amtsblatt 1935).

Theorie

In der Theorie dominierte die Kriminalbiologie alle anderen disziplinären Ansätze wie z.B. die Kriminalsoziologie und die Kriminalpsychologie.


Praxis

In der Praxis spielte der Kriminalbiologische Dienst eine wichtige Rolle.

Literatur

  • Amtsblatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung v. 5.2.1935
  • Bagehot, Walter (1872) Physics and Politics, or: Thoughts on the Application of the Principles of 'Natural Selection' and 'Inheritance' to Political Society.
  • Hagemann, Max (1936) Rasse, in: Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Band, hrsg. v. A. Elster und H. Lingemann. Berlin: de Gruyter: 454 ff.
  • Seelig, Ernst (1933) Anlage, Persönlichkeit und Umwelt bei jugendlichen Schwerverbrechern Österreichs, in: Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft, Band IV: 113-131.