Kriminalität

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Einleitung

Kriminalität (abgeleitet von lat. crimen = Verbrechen; die Lateiner haben schon die Bedeutungen Schuld, Beschuldigung und Verbrechen zusammengefaßt) meint Verbrechen als soziale Erscheinung. Sie ist die Summe der strafrechtlich missbilligten Handlungen. Es handelt sich also um die mit einem besonderen Unwerturteil belegten Rechtsbrüche (Kaiser 1996).

Die Erfassung eines möglichst realitätsnahen Bildes von der Verbrechenswirklichkeit bereitet insoweit Schwierigkeiten, als es „die“ Kriminalität als einen naturalistisch gegebenen und zu messenden Sachverhalt überhaupt nicht gibt. Die Eigenschaft „kriminell“ wohnt einem Verhalten nämlich keineswegs a priori inne, sondern wird ihm auf der normativen Grundlage vorgängiger gesellschaftlicher Festlegungen (formeller Verbrechensbegriff) im Wege mehrstufiger Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse zugeschrieben. Ob ein deskriptiv feststellbarer Sachverhalt wie die Tötung eines Menschen durch einen anderen als fahrlässige Tötung, Mord oder Totschlag oder doch nur als unverschuldeter Unfall zu deuten ist, lässt sich immer erst durch einen zusätzlichen askriptiven, auf die Normen des Strafrechts bezogenen Wertungsschritt beantworten. Wie von den Vertretern der Etikettierungsansätze zutreffend dargelegt, ist Verbrechen somit kein klar fassbarer ontologischer Befund im Sinne eines Realphänomens, sondern ein durch Interpretation der sozialen Wirklichkeit gewonnenes Konstrukt. Die für die soziale Konstruktion von Kriminalität maßgeblichen Wahrnehmungs- und Definitionsprozesse sind sehr komplex und können individuell und institutionell zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. So ist die Perspektive des Täters typischerweise eine andere als die des Opfers. Die Beobachtungen und Interpretationen der Tatbeteiligten können wiederum von der Bedeutung divergieren, die ein Dritter einem bestimmten Vorgang beimisst. Schließlich können die von den Instanzen informeller Sozialkontrolle vorgenommenen Parallelwertungen in der Laiensphäre erheblich von denjenigen juristischen Einschätzungen abweichen, die von den formellen Kontrollinstanzen wie Polizei und Strafjustiz getroffen werden. In Abhängigkeit der jeweiligen Perspektive treten somit sehr verschiedene Realitätskonstruktionen nebeneinander. Um ein möglichst vollständiges und breit gefächertes Bild von Kriminalität als gesellschaftliches Massenphänomen entwerfen zu können, müssen diese unterschiedlichen Konstitutionsebenen zusammengeführt werden. (Göppinger 2008)

Klassifikationen

Angesichts der schier unendlichen Nuancierungsmöglichkeiten ist keine vollständige, sondern nur eine typisierende Darstellung angezeigt (Kunz).

Göppinger lässt sich zur „Formalität“ einer Kriminalitätsphänomenologie aus, d.h. für die Beschreibung der Erscheinungsformen von Kriminalität als Massenphänomen wird „die“ Kriminalität nicht nur in der Kriminologie, sondern auch in der polizeilichen Praxis und in der kriminalpolitischen Diskussion nach verschiedenen formalen Gesichtspunkten klassifiziert. Dabei werden unter anderem Kriterien verwendet wie Alter und Geschlecht (zum Beispiel Jugendkriminalität, Alterskriminalität, Frauenkriminalität), soziale Stellung und ethnische Herkunft (zum Beispiel Kriminalität der Mächtigen oder Ausländerkriminalität), Deliktsgruppen (zum Beispiel Gewaltkriminalität, Rauschgiftkriminalität, Sexualkriminalität oder Verkehrskriminalität) oder Begehungsmodalitäten (zum Beispiel Organisiertes Verbrechen oder jugendliche Banden).

Schneider meint, es ist das Wesen der psycho- und soziodynamischen, realistischen Definition des Verbrechens, dass sie die Reaktion auf Kriminalität berücksichtigt, dass sie sich an der kriminellen Wirklichkeit orientiert und dass sie die Kriminalität nicht nur als Endprodukt beurteilt, sondern sich ihre prozeßhafte Entwicklung, ihr Werden angelegen sein lässt. Der psycho- und soziodynamischen, realistischen Definition kommt es nicht so sehr wie der strafgesetzlichen Definition auf eine statische, formale Begriffsbestimmung an, sondern darauf, dass Kriminalität im engeren Sinne als Resultat eines konkreten informellen oder formellen Benennungsprozesses verstanden wird. Um einer realitätsnahen, prozeßhaften Entwicklung Rechnung zu tragen, ist eine solche Differenzierung des Kriminalitätsbegriffs notwendig. Denn einerseits will man die volle Variationsbreite der Kriminalität erfassen, andererseits ihr Bedeutungsfeld so eingrenzen, dass der Kriminalitätsbegriff praktisch und theoretisch gehandhabt werden kann. Die Differenzierung des Kriminalitätsbegriffs ist ferner erforderlich, weil die Kriminalität durch die Art der Reaktion ihre Qualität ändert. Es müssen also Schnitte in die sozialen und individuellen Kriminalisierungsprozesse gelegt werden.

Eisenberg stellt die registrierte der vermuteten tatsächlichen Kriminalität gegenüber. Untersuchungen über Entstehungszusammenhänge von Kriminalität sind nahezu ausschließlich auf diejenigen Stufen strafrechtlicher Beurteilung beschränkt, deren Ergebnisse zur Aufnahme in amtliche Statistiken geführt haben. Dabei ist die diesbezügliche kriminologische Forschung dem prinzipiellen Einwand ausgesetzt, die einschlägigen Statistiken als ihre zentralen Datenquellen seien allein zum Nachweis behördlicher Tätigkeit oder des Geschäftsanfalls geeignet und spiegelten lediglich Struktur und Intensität informeller und formeller Strafverfolgung wider. Hingegen seien sie keine geeigneten Instrumente zur Erfassung vermuteter tatsächlicher Kriminalität, da es ihnen insoweit an den Voraussetzungen gültiger (valider) und zuverlässiger (reliabler) Messung fehle.

Kaiser erstellt Konzepte zur Erklärung der Kriminalität als Sozialerscheinung. Eine solche Beurteilung gilt sowohl für die Deutung der Kriminalität in einem bestimmten Zeitpunkt (Querschnittanalyse) als auch für jene der Kriminalitätsentwicklung (Längsschnittsanalyse). Dies schließt freilich nicht aus, dass Theoriebruchstücke oder formelhaft verkürzte Erklärungsansätze an die Stelle von sonst genauer ausgearbeiteten Theorien treten. Vor allem trifft dies für die Anomietheorie zu, die trotz aller Schwächen neben der Kulturkonflikttheorie noch immer reiches Erklärungspotential enthält und Chiffren zur Entschlüsselung der zeitgenössischen Kriminalität liefert.

Sozialpsychologische Kriminalitätstheorien sind soziale Lerntheorien, Kontrolltheorien und die Interaktionstheorie welche gemeinsam davon ausgehen, dass Sozialabweichung, Delinquenz und Kriminalität in Sozialprozessen entstehen. Die Interaktionstheorie studiert nicht so sehr Verhalten und Menschen, die als kriminell definiert und ihr Verhalten als kriminell eingestuft werden. Es kommt ihr auf die Bedeutung an, die der Mensch seinem eigenen Verhalten zumisst und die andere menschlichem Verhalten geben. Immer steht die Interaktion, die wechselseitige Beeinflussung zwischen Person, Verhalten und Umwelt im Mittelpunkt sozialpsychologischen Denkens. Die Interaktion ist die Brücke zwischen Person und Gesellschaft. Menschliche Verhaltensweisen werden erlernt und sind deshalb von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. (Schneider)

Der Begriff der Kriminalität wird aber auch mit sehr unterschiedlichen Zielrichtungen und Bedeutungsinhalten gebraucht. Hess und Scheerer (1997) unterscheiden z.B. vier solcher Bedeutungen im sozialen Leben:

  1. Strafrechtlich definierte bzw. theoretische Kriminalität: Hierbei handelt es sich um Kriminalität als Summe der mit Strafe bedrohten Handlungen.
  2. Moralunternehmerisch definierte Kriminalität: Damit ist gemeint, was nach Ansicht des jeweiligen Sprechers sehr anstößig ist – im Sinne eines empörten Ausrufs: „Das ist ja kriminell!“ – oder was nach anderen Kriterien und im Gegensatz zum positiven Recht „wirkliche Kriminalität“ sein soll oder aufgrund von Ableitungen aus überpositivem Recht bereits ist.
  3. Informell definierte Kriminalität: Hier wäre die Masse jener Handlungen zu registrieren, die unter die Kategorien der theoretischen Kriminalität subsumiert werden könnten, allerdings nur von den Tätern selber, von Opfern, Beobachtern, Kriminologen etc., so Michel Foucaults illégallismes.
  4. Formell definierte Kriminalität: Die tatsächlich von den Kontrollinstanzen verarbeitet und in die Kriminalstatistik eingegangene Menge von Handlungen werden so tituliert.

Da die Erscheinungsformen der Kriminalität mannigfaltig sind und die Einteilung von Verhaltensweisen nach dem strafrechtlich vorgegebenen Begriffen oft zu eng und zu wenig aussagekräftig sind, versucht die Wissenschaft seit langem, umfassendere Strukturen zu erkennen. So beschreibt Günther Kaiser (1993) die Kriminalität

  • in Form des Verbrechens als Sozialerscheinung und beschreibt die strafrechtlich missbilligten Handlungen nach Raum (national, regional, lokal) und Zeit sowie Umfang (Zahl der Delikte) und Struktur (Art und Schwere der Delikte);
  • nach reinen Angriffs- und Gewinndelikten;
  • oder differenzierter nach Eigentums-, Gewalt-, Drogen-, Sexual-, Umwelt-, Wirtschafts- und Straßenverkehrsdelikten;

Diese an der strafrechtlichen Legalordnung orientierte Deliktsgruppierung befriedigt jedoch nicht stets. Deshalb gehen andere Einteilungsversuche dahin, nach zwischenmenschlicher, politischer und kollektiver Gewalt zu differenzieren: • Oberwelt-, Alltags-, Gewalt-, organisierter, politischer, berufsmäßiger und die öffentliche Ordnung verletzender Kriminalität; • Eine stärker kriminalsoziologisch orientierte Verbrechenstypologie will nach den situationsspezifischen Rollenverhalten der Neuerung, der Auflehnung und des Rückzugs differenzieren; • Andere Ansätze zur Typologisierung versuchen, Tätermerkmale einzubeziehen und überdies Aspekte der Strafrechtssystematik sowie der Sozialkontrolle zu integrieren.

Kunz (2008) sieht Kriminalität als einen Begriff, der zur Vergewisserung der Grenze zwischen öffentlicher Toleranz und förmlich sanktionierter Missbilligung dient. Diese verschiebt sich im sozialen Wandel und ist für jede geschichtlich-gesellschaftliche Situation neu zu fixieren. Insofern sei Kriminalität ein gesellschaftstheoretischer Begriff, dessen Konturen als Metaphern eines bestimmten Gesellschaftsbildes zu verstehen seien. In dieser theoretischen Bedeutung bleibt Kriminalität eine latente, nicht direkt beobachtbare Größe, die sich von der Gesamtzahl der in einem bestimmten Raum-Zeit-Gebiet festgestellten strafrechtlichen Gesetzesverstöße unterscheidet.

Eine Besonderheit gilt für den Kriminalitäts-Begriff des Labeling Approach. Danach ist "kriminell" eine zugeschriebene Eigenschaft und Kriminalität daher ein "negatives Gut" (Fritz Sack), dessen Verteilung sich unter umgekehrtem Vorzeichen nach denselben Kriterien richtet wie die gesellschaftliche Verteilung positiver Güter.

Über die Zusammenhänge zwischen Kriminalität und anderen Elementen der materiellen Realität ließ sich lange Zeit erstaunlich wenig (gesichertes) Wissen beibringen. Henner Hess und Sebastian Scheerer wagten sich dann 1997 erstmals, eine konstruktivistische Kriminalitätstherorie zu skizzieren: Die zentrale Aufgabe der allgemeinen Kriminalitätstherorie bestand darin, einen Weg zu finden, auf dem sich die übliche Trennung makro- und mikroperspektivischer Devianztheorien überwinden ließ. Denn bisher beschränkten sich Kriminalitätstherorien bei ihren Erklärungsversuchen entweder auf das Handeln von Individuen oder aber auf die Erklärung unterschiedlicher Kriminalitätsraten und anderer Phänomene auf der Makro-Ebene. Eine allgemeine Kriminalitätstherorie sollte aber Antworten auf beide Arten von Fragen erlauben. Sie sollte Makro-Phänomene zwar von individuellen Handlungen analytisch trennen, aber beides im Zusammenhang sehen und eins ins andere übersetzen. Zu diesem Zweck schien ihnen ein Modell besonders geeignet, das das Mehrebenen-Problem in drei Schritten bewältigt. Im ersten Schritt geht es um die Widersprüche in der gesellschaftlichen Struktur, die zur Entstehung von bestimmten Risiken und zu deren Kategorisierung als "Kriminalität" führen. Im zweiten Schritt geht es um die Transformation dieser gesellschaftlichen Bedingungen in soziales Handeln und um Kriminalität als Handlung und situatives Ereignis. Im dritten Schritt geht es um die Frage, welche neuen überindividuellen Phänomene aus dem Handeln und Zusammenhandeln einer Vielzahl individueller Akteure entstehen und wie - geleitet durch bestimmte Transformationsregeln - die Vielzahl krimineller Ereignisse in neue Makro-Phänomene übersetzt wird. Diese Skizze einer konstruktiven Kriminalitätstheorie von Henner Hess und Sebastian Scheerer im Kriminologischen Journal 2/97 abgedruckt, diente der Kriminologie als Theoriediskussion über die zentrale Frage - Was ist Kriminalität?

Geschichte der Kriminalität

Die Kriminalitätsgeschichte verweist auf die Notwendigkeit, Kriminalität auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu beziehen, die im Strafrecht ihren Ausdruck finden. Im England des 18. Jahrhunderts ist der Zusammenhang von Strafrecht und Sozialkontrolle besonders eng (Hay 1975). Die englische Kriminalitätsgeschichte hat mit Energie und Erfolg versucht, für die vormoderne Zeit Kriminalitätsstrukturen in regional abgegrenzten Räumen herauszuarbeiten (Cockburn 1977). Die Überlieferung von Grafschafts-, Kirchen- und Adelsgerichten ist dabei die wichtigste Quelle. Schon für das 17. Jahrhundert belegen Zeitreihenanalysen eine eindeutige Dominanz der Eigentumskriminalität. Vor drei Grafschaftsgerichten (Essex, Hertfordshire, Sussex) standen z.B. in dem Zeitraum 1559-1625 über 70 Prozent der Angeklagten wegen Diebstahl oder Raubes vor Gericht. Auch die französische Kriminalitätsgeschichte hat sich sehr intensiv mit der vorrevolutionären Zeit befasst (Deyon 1975; Castan 1980). Die Überlieferung erlaubt es, auch schon für das Ancien régime auf breiter Basis den Zusammenhang von Delinquenz, Strafsystem und Strafpraxis anzugehen. Dabei wird ein für die Geschichte der Kriminalität wichtiger Gesichtspunkt herausgestellt. In Frankreich gab es ein breit gefächertes System informeller Strafkontrolle („se faire justice soimême“) mit einer sehr langen Lebensdauer. Es beeinflusste stark die durch Bürokratien registrierte Kriminalität. Erst im 19. Jahrhundert gewannen die Instanzen staatlicher Strafgewalt Gewicht und Durchschlagskraft. Für den größten deutschen Einzelstaat, Preußen, sind die engen Verflechtungen von Gesellschafts- und Kriminalitätsgeschichte herausgearbeitet worden (Blasius 1976; 1978). Dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts Kriminalität zum Massenphänomen wurde, hat eindeutig sozialökonomische Ursachen. Die Geschichte der Kriminalität rückt Armut und Not nachdrücklich ins Zentrum jenes Motivspektrums, das insbesondere hinter Massendelikten steht. Die Grenzlinien zwischen einem vormodernen, agrarisch geprägten und einem modernen, städtisch-industriell bestimmten Verbrechertyp sind nicht scharf zu ziehen. Mit Industrialisierung und Urbanisierung, die in Deutschland erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts voll einsetzten, stellte sich keineswegs ein Deliktschub bei Diebstählen ein; den gab es vielmehr vorher. Die historische Kriminalitätsforschung beschäftigt sich zwar primär mit Kriminalität als Abbreviatur der sozialen und ökonomischen Entwicklung; doch verstärkt wendet sie auch ihre Aufmerksamkeit der Lebenswirklichkeit jener Schichten zu, die mit Recht in Konflikt gerieten. Nicht um eine falsche Romantisierung des Verbrechens geht es dabei, sondern um den Zusammenhang von Verbrechen und Gesellschaft sowie um die Markierung gesellschaftlicher Warnsignale. Für die moderne Kriminologie ist die Sozialgeschichte der Kriminalität von produktivem Erinnerungswert. (Kaiser 1993)

Kriminologische Relevanz

Kriminologie bedeutet wörtlich Lehre von der Kriminalität (Kunz 2008). Ohne den Begriff der Kriminalität gäbe es wohl keine Kriminologie. Wie David Garland schon 1985 sagte: "The discovery of criminality, then, is the discovery of criminology itself." Das ist die zentrale kriminologische Relevanz dieses Begriffs. Die kriminologische Befassung mit Kriminalität erfolgt dreidimensional. Zum einen gilt das Interesse den Regeln des Gebrauchs der Kriminalitätsdefinition im informellen gesellschaftlichen Diskurs und durch die Instanzen der Kriminalitätskontrolle. Zum anderen wird nach Regeln geforscht, denen das damit bezeichnete Verhalten folgt. Drittens schließlich gilt das Interesse den Regeln, nach denen die möglichen Anwendungen des Gebrauchs der ersten beiden Regeln phänomenologisch in Subkategorien (Gewalt-, Sexual-, Umweltkriminalität usw.) eingeteilt werden können. Die Kriminologie betrachtet diese drei Arten von Regeln des crime talk unter dem Aspekt ihres tatsächlichen Gebrauchs: nicht in ihrer logischen Konsistenz oder der normativen Korrektheit ihrer Anwendung, sondern in einer effektiven Verwendung in der gesellschaftlichen Praxis. (Kunz 2008) Die Kriminalität dient in der Kriminologie durch das wissenschaftliche Begleiten der Fallzahlen, der Modi Operandi, der Dunkelfeldforschung und vieler weiterer Module zur empirisch gesicherten Erkenntniserlangung. (Liebl 2004) Für eine sozialwissenschaftlich orientierte Kriminologie ist die Kriminalität als gesellschaftstheoretische Kategorie, nicht als Summe kriminell definierten Verhaltens von Interesse. (Kunz 2008) Die Kriminologie als anwendungsbezogene Bedarfsforschung benötigt die Werkzeuge, respektive Module der Kriminalitätstheorien. Denken wir nur an die biologischen Theorien (Evolutionstheorie, Neuronale Hirnforschung), die biosozialen Theorien (Chromosomen-Studien, Zwillingsforschung), die Kontrolltheorien (Bindungstheorien), Persönlichkeitstheorien (Psychoanalyse), an die sozialstrukturellen Konzepte (Anomietheorien, entwicklungsbezogene Kriminologie, an die multifaktoriellen Kriminalitätstheorien, Neutralisationstechniken, Sozialisationstheorien, Subkulturtheorie) und die vielen anderen. Da sich die Phänomenbereiche der Kriminalität ständig wandeln, werden die Anforderungen an die Kriminologie stets differenzierter. (Liebl 2004) Eine allgemeine Theorie der Kriminalität, so meinen viele Kriminologen, würde sowohl an der prinzipiellen Unvereinbarkeit der erkenntnistheoretischen Prämissen gegenwärtiger Erklärungsansätze (von der Anomietheorie bis zum Labeling) als auch an der Unvergleichbarkeit der unter Strafe gestellten Delikte (vom Ladendiebstahl bis zum Völkermord) scheitern. Und manche sehen darin gar nicht einmal ein Problem, weil sie die aktuelle „fragmentation of crimonology“ (Ericson und Carriere 1996) sowieso vorziehen. In postmoderner Skepsis gegenüber „Wahrheit“, Wissenschaft“ und „objektiver Erkenntnis“, in denen sie nicht mehr als die Mythen einer „Großen Erklärung“ sehen, plädieren sie dafür, jeglichen „Anspruch auf eine wie auch immer geartete Wissenschaftlichkeit“ aufzugeben und dem herrschenden Diskurs über Kriminalität und Kontrolle „originelle Neubeschreibungen“ entgegen zu setzen (vgl. Kreissl 1996: 34-36; siehe auch Henry und Milovanovic 1996 zu ihrem Programm des „replacement discourse“). Hinzu kommt, dass man selbst dort, wo man von der Möglichkeit und Wünschbarkeit einer „general theory of crime“ ausgeht, dem eigenen Anspruch oft nicht genügt und sich unter Ausklammerung der gesamtgesellschaftlichen Dimension dann doch wieder auf die bloße Erklärung kriminellen Handelns – also auf die Mikroperspektive – beschränkt (vgl. z.B. Gottfredson und Hirschi 1990; Tittle 1995). „Allgemein“ sollte eine Theorie aber sinnvollerweise erst dann genannt werden, wenn sie neben der Begehung von Delikten auch die makro-perspektivisch zu analysierenden Voraussetzungen und Folgen von Kriminalität als Handlung in den Blick nimmt, von der Rechtssetzung bis zum Kriminalitätsdiskurs. „Die Kriminalität der Gesellschaft“ (Krasmann 2003) – das ist ein komplexes Ensemble von Akteuren und Handlungen, von Institutionen und Bewegungen, von sozialen Netzen und rechtlichen Regeln, von Machtverhältnissen und Konflikten, aber auch von Gefühlen, Phantasien, Symbolen, Diskursen und Geschichten der unterschiedlichsten Art, in dem sich jedes Element letztlich nur in seinem und durch seinem Kontext begreifen lässt. Eine wirklich allgemeine kriminologische Theorie, d.h. eine Theorie, deren Hauptzweck darin gesehen wird, zu einem besseren Verständnis des Gesamtphänomens der Kriminalität beizutragen, sollte deshalb auf jeden Fall breit genug angelegt sein, um alle genannten (und überhaupt alle für diese Aufgabe relevanten) Phänomene berücksichtigen zu können. (Hess, Henner / Scheerer, Sebastian, 2004)

(Post-) Strukturalismus und Kriminalität

In den "Konturen einer Allgemeinen Theorie der Kriminalität als sozialer Praxis" gehen Dollinger, Rudolph, Schmidt-Semisch und Urban (2013) auf Gedanken des Poststrukturalisten Ernesto Laclau und die Kontingenz der Zuschreibung des Etiketts Kriminalität ein.

Dieser Bezug zur Semantik und zum semantischen Dreieck wendet folgenden Gedankengang von Saussure bezüglich des differentiellen Charakters des Signifikanten auf die Kriminalität an: Ein Signifikant (ein Begriff, der hin und wieder auch - ungenau - als synonym mit "Referent" oder allgemein für "Zeichen" gebraucht wird) ist in seiner Bedeutung nicht durch sein Signifikat bestimmt (außer bei einigen wenigen lautmalerischen Wörtern wie „Kuckuck“), sondern durch die Abgrenzung (Differenz) zu anderen Signifikanten. Die Verbindung von Signifikant und Signifikat, Wort und Bedeutung, die uns im Sprachalltag so selbstverständlich erscheint, ist im Grunde „arbiträr“, d. h. beliebig, nicht natürlich.

Der Begriff des Signifikanten war schon - über die Rezeption des linguistic turn durch den labeling approach - von Bedeutung für die Kriminologie seit den 1960er Jahren.

Weblinks und Literatur

"Verbrechen existiert nicht. Es existieren nur Handlungen, denen man die Bedeutung von Verbrechen verleiht (Christie 2004, 3)" (H.J. Schneider, 2005
  • Eisenberg, Ulrich, Kriminologie, 6. Auflage, C.H. Beck, München, 2005
  • Flörchinger, Susana, Der Begriff Kriminalität. Eine Entstehungsgeschichte, Hamburg 2004
  • Garside, Richard (2011) Does Crime Exist?
  • Göppinger, Kriminologie, 6. Auflage, C.H. Beck, München, 2008
  • Hess, Henner / Scheerer, Sebastian, Was ist Kriminalität? Kriminologisches Journal, 29. Jg., 2/97, Juventa Verlag, Weinheim
  • Hess, Henner / Scheerer, Sebastian, Theorie der Kriminalität, in: Oberwittler, D./S. Karstedt (Hg.): Soziologie der Kriminalität. Sonderheft 43/2003 der Kölner Zeitschrift für Sozíologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden, S. 69-92
  • Hulsmans Sicht von "crime"
  • Kaiser, Günther, Kriminologie, 3. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg, 1996
  • Kaiser, Günther, Stichwort "Kriminalität" in: Kaiser, Kerner, Sack, Schellhoss, Hg., Kleines Krim. Wörterbuch. 3. Aufl. Heidelberg 1993, S. 238-246.
  • Kunz, Karl-Ludwig, Kriminologie. 5. Auflage. Bern: Haupt Verlag 2008
  • Kunz, Karl-Ludwig, Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität. Wiesbaden: VS-Verlag 2008
  • Liebl, Karlhans, in: "Rothenburger Beiträge", Polizeiwissenschaftliche Schriftenreihe der Fachhochschule für Polizei Sachsen, Band 21, Rothenburg/Oberlausitz 2004
  • Schneider, Hans Joachim, Kriminologie, Walter de Gruyter, Berlin, 1987
  • Schwind, Hans-Dieter, Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. 14. völlig neubearbeitete und erw. Aufl. Heidelberg: Kriminalistik Verlag 2004

Kriminalität in: Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Kriminalität (letzter Zugriff 11.03.09)