Hans von Hentig

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Der deutsche Kriminologe Hans von Hentig (* 9.06.1887 Berlin - † 6.07. 1974 Bad Tölz), mit der Beccaria-Medaille (1964) und mit dem Großen Bundesverdienstkreuz (1968) geehrter Autor des Buches "The Criminal and His Victim" (1948), gilt als (Mit-) Begründer der Viktimologie. Nach dem Ersten Weltkrieg durchlebte von Hentig eine Phase rechts- und linksextremistischer politischer Aktivitäten, bis er sich aus der Politik ganz zurückzog. Nach Habilitation in Gießen (1929) und Stationen in Kiel und Köln war von Hentig 1935 unter Berufung auf das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden. Er emigrierte in die USA, wo er an verschiedenen Universitäten lehrte und in Exilgruppen tätig war. Der Gegner der Todesstrafe, politisch links eingestellte zeitweilige Nationalbolschewist und Kritiker des Antisemitismus und der Diskriminierung von Zigeunern und Arbeitsscheuen war andererseits von Gedanken an strafrechtliche "Auslese" u.a. nicht frei und stellt eine der widersprüchlichsten Gestalten in der Geschichte der deutschen Kriminologie dar.

Leben

  • Eltern: Vater: Otto (von) Hentig. Rechtsanwalt in Berlin. Spezialist für Wirtschaftsrecht. Zu seinen Mandanten gehörten Politiker und Militärs (Bismarck, v. Moltke) und Wirtschaftsführer (W. v. Siemens, Brüder Mannesmann) und der Erfinder Thomas A. Edison. 1893: Verwalter der Güter Karl Egon IV. zu Fürstenberg. 1900: zum Staatsminister des Herzogtums Sachsen Coburg und Gotha. 1901 führte letztere Tätigkeit zur Nobilitierung. Mutter: Marie, geb. Dankberg. Hans hatte fünf Geschwister.
  • Ehe: mit Freddy, geb. Fehr († 1988).
  • Ausbildung: Nach militärischer Ausbildung als "Königsjäger zu Pferde" in Posen (1906/07) Jurastudium in Paris (bei Émile Garçon), Berlin (bei Franz v. Liszt) und München (bei Karl von Amira). Fällt zweimal durch das Staatsexamen. Promotion bei Karl Birkmeyer 1912. Abbruch des Medizinstudiums.
  • Krieg: Westfront; Wechsel von der Kavallerie zur Infanterie; Versetzungen nach Bulgarien, in die Somme-Schlacht, nach Istanbul, Aleppo, Damaskus, zurück an die Westfront. Im Dezember 1918 Ankunft (fast an der Spitze der Truppen) in Berlin. Literarische Verarbeitung des Krieges ("Mein Krieg"; 1919).
  • 1919-23: Politik und Publizistik; zunächst bei Rechtsextremen (Rudolf Heß, Freikorps Oberland, Bund Oberland), ab 1922 dann bei Linksextremen.

1919-1923: Veröffentlichung einer "Unzahl politischer Aufsätze und Pamphlete, in denen er zur Überwindung des Versailler Vertrags und teilweise auch der Weimarer Demokratie aufrief. Der revolutionären Arbeiterbewegung stand er ebenso als Gegner gegenüber wie den bürgerlichen Parteien. In den folgenden Monaten und Jahren sollte sich dies jedoch ändern: Hentig schloss sich zunächst dem völkischen Lager an, knüpfte dann aber Kontakte zum nationalen Flügel der Kommunistischen Partei und half der KPD aktiv bei der Planung der mitteldeutschen Unruhen von 1923. Nach der Niederschlagung dieser Revolte und dem anschließenden Hochverratsprozeß zog er sich schließlich vollständig aus der Politik zurück und widmete sich fortan fast ausschließlich der Wissenschaft" (v. Mayenburg 2006: 278).

Umorientierung zum Nationalbolschewismus: "Das Deutsche Manifest" (1921). Im September und Oktober 1923 plant er in Sachsen und Thüringen kommunistische Aufstände und spricht sich inmitten einer zaghafter werdenden KPD am 21. und 22.10.1923 für ein "Losschlagen" aus (v. Mayenburg 2006: 287). 1923 Vorbereitung eines kommunistischen Aufstands. - 1925 wird Hentigs Rolle der Justiz bekannt; er flieht nach England, Frankreich, Italien und Rußland, wo er das Angebot, einen hohen Posten im sowjetischen Eisenbahnwesen einzunehmen, ausschlägt. Zum Jahresende 1925 ist er wieder in Deutschland. 1926 Amnestie.

Seit 1926: Rückkehr zur Wissenschaft aus Geldnot und Karriereorientierung. Lehraufträge und Habilitation zum Thema "Wiederaufnahmerecht" führen 1931 zur Berufung auf einen Lehrstuhl in Kiel, 1934 in Bonn. 1926-33 redigiert er mit Gustav Aschaffenburg die "Monatsschrift" (""MschKrim""). Nach seiner Habilitation (Gießen, 1929) erhält Hans von Hentig einen Ruf als Ordinarius nach Kiel (Dekan 1932/33), wo er wegen seiner politischen Vergangenheit (und seiner Gegnerschaft zur Todesstrafe usw.) 1934 seiner Professur enthoben wird. Nachdem er einer Berufung nach Bonn folgte, ereilte ihn dort am 1. September 1935 per Eilbrief seine Pensionierung.

1935 Emigration in die USA. Er lehrt als Assistant Professor an der Yale Law School und wird 1937 Sachverständiger für den Generalstaatsanwalt in Washington. Es folgen Tätigkeiten an Universitäten in Berkeley, Boulder, Oregon, Iowa und Kansas City. In Colorado ist er maßgeblich am Colorado Crime Survey beteiligt. 1937 erhält Hentig die Charles M. and Martha Hitchcock Professorship an der Universität Berkeley. In den USA schreibt der ständig in finanziellen Schwierigkeiten befindliche von Hentig unter anderem auch für die SPD-nahe Neue Volkszeitung. Mit Paul Tillich und anderen prominenten NS-Gegnern gründet er 1944 das Council for a Democratic Germany. Zugleich wird er wegen seiner nationalbolschewistischen Vergangenheit vom FBI überwacht. Bis 1947 schreibt er "The Criminal and his Victim" (1948), das ihn zu einem der Gründer der Viktimologie macht.

1945 schlägt er ein Angebot von Präsident Eisenhower, Rektor der Universität Heidelberg zu werden, aus. 1951/52 Rückkehr auf seinen Lehrstuhl ("Wiedergutmachungslehrstuhl") nach Bonn. Nach seiner Emeritierung (1955) zog von Hentig nach Bad Tölz, wo er u.a. "Die Kriminalität der lesbischen Frau" (1959) schrieb - dicht gespickt ist mit teilweise selbst erfundenen abwertenden Ausdrücken. 1974 nutzt die Bild-Zeitung das Werk für eine Diffamierungskampagne gegen Lesben. 1960 folgt "Die Kriminalität des homophilen Mannes".

Werk

"Hentigs politisches Denken nach 1919 ist von einer starken Ambivalenz geprägt. Zum einen setzte er kriminologische Denkmuster ganz bewußt zu Zwecken politischer Propaganda ein und verwendete sie zur Verstärkung von Ängsten und Ressentiments. Andererseits aber bewahrte er in an deren Bereichen durchaus seine analytische Distanz. Erstere Technik lässt sich am Beispiel seines Kampfes gegen 'Kriegsgewinnler' und 'Schieber' demonstrieren. Hierzu schrieb er:

"Das Erscheinen des Schiebers ist die Wassermannsche Reaktion für die schwere Erkrankung des Staates" (1920: 15, 17).

Der Typus des Schiebers sei zunächst nur in Berlin aufgetreten, inzwischen aber auch in München anzutreffen:

"Ein Jahr ohne Autorität und Staatsgewalt haben genügt, die wirtschaftliche Bestie im Menschen derart zu entwickeln, und diesen brutalen arbeitsscheuen Kapitalistentyp, der psychologisch :eng mit dem des Spielers zusammenhängt, in einem Tempo durch alle Schichten der Gesellschaft hin zu verbreiten, dass die Reaktion der gepeinigten Massen beängstigende Formen anzunehmen :beginnt" (1919, Ausnahmegericht: 45)

Hentigs Stellungnahmen zum 'Schiebertum' sind typische Beispiele einer krimininalbiologischen Interpretation sozialer Prozesse. Zunächst wird typologisch eine bestimmte Gruppe von Verbrechern ('Schieber') gebildet und mit festgelegten psychischen Merkmalen identifiziert (Brutalität, Arbeitsscheu) und klassifiziert (Verwandtschaft zum Typ des 'Spielers'). Dessen Eigenschaften werden dann entmenschlicht (Bestie) und als Krankheit des Staates umdefiniert, die sich analog der Syphilis ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Schichten ausbreitet und für die der 'Schieber' als Indikator fungiert, entsprechend der 'Wassermannschen Methode' in der Medizin. Geradezu umgekehrt verlief Hentigs Argumentation, mit der er sich vehement gegen die von der bayerischen Regierung angeregte Einrichtung besonderer 'Wuchergerichte' zur schnellen Aburteilung von Wucher und Schleichhandel aussprach" (v. Mayenburg 2006: 279). Denn erstens seien Wuchergerichte ineffektiv,weil sie sich gegen gesellschaftliche Strukturen richteten, die nicht mit der Waffe des Strafrechts verändert werden könnten, und zweitens sei es eine Klugheitsregel, dass man nicht gegen Rechtsprinzipien wie das "Unverletzlichkeitsprinzip" verstoßen dürfe, wenn man nicht eines Tages selbst Opfer eines solchen Rechtsbruchs werden wolle.

Publikationen

von Hans von Hentig

  • Strafrecht und Auslese (1914) Berlin.
  • Ausnahmegericht (1919)
  • Fouché (1919)
  • Naturgeschichte des Schiebers (1920)
  • Robespierre (1924)
  • Crime. Causes and Conditions (1947)
  • The Criminal and His Victim. Studies in the Sociobiology of Crime (1948). (Dieses Buch gilt als Grundsteinlegung der Viktimologie.)
  • Der Friedensschluss. Geist und Technik einer verlorenen Kunst (1952, 1965)
  • Zur Psychologie der Einzeldelikte (4 Bände, 1954/56/57/59)
  • Vom Ursprung der Henkersmahlzeit (1958)
  • Die Kriminalität der lesbischen Frau (1959, 2. Aufl. 1965)
  • Die Kriminalität des homophilen Mannes (1960, 2. Aufl. 1966)
  • Das Verbrechen (3 Bände, 1961/62/63)
  • Soziologie der zoophilen Neigung (1962)
  • Der nekrotrope Mensch. Vom Totenglauben zur morbiden Totennähe (1964)
  • Terror - Zur Psychologie der Machtergreifung (1970)
  • Mord-Genetik (1971)
  • Beiträge zur Verbrechenskunde (1972)

über Hans von Hentig

  • David von Mayenburg, Kriminologie und Strafrecht zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus: Hans von Hentig (1887 - 1974), Baden-Baden 2006.
  • David von Mayenburg (2004) „Der Fall v.Hentig ist recht unerfreulich“ – Hans von Hentig und die nationalsozialistische Hochschulpolitik. In: Mathias Schmoeckel (Hg.), Die Juristen der Universität Bonn im „Dritten Reich“, Köln, Weimar, Wien: 299-345.
  • In Memoriam Hans von Hentig. Reden gehalten anlässlich der Gedenkfeier der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn am 15. Januar 1975 von Klaus Schlaich, Karl Engisch, Hilde Kaufmann. Köln, Bonn: Heymanns 1976: 27-37.
  • Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band 2 (Teil A-K), München, New York, London, Paris 1983: 492-493.
  • Streng, Franz (1993) Der Beitrag der Kriminologie zur Entstehung und Rechtfertigung staatlichen Unrechts im 'Dritten Reich'. MschrKrim 76: 141-168.

Zitate über Hans von Hentig

"In diesem Zusammenhang sei abschließend noch eine gewisse Ehrenrettung auch für die in der historischen Darstellung so negativ aufgetretene Zunft der juristischen Kriminologen versucht, und zwar durch den Hinweis auf das Wirken von Hnas v. Hentig (1887-1974). Dieser zunächst in Kiel und dann in Bonn lehrende Kriminologe hatte als Mitherausgeber der damaligen 'Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform' schon früh seine Stimme gegen die nationalsozialistischen Einflüsse auf die Kriminologie und die Rechtswissenschaft erhoben, auch wenn er gegen die Modeströmung der Kriminalbiologie ganz sicher nicht völlig immun gewesen ist. Infolge seiner Anpassungsverweigerung verlor er 1934 seine Stellung als Mitherausgeber der 'Monatsschrift' und 1935 dann seine Professur; er emigrierte in die USA. Dort wurde er zu einem der Wegbereiter der Viktimologie. Nach dem Kriege kehrte er in die Bundesrepublik zurück und lehrte erneut an der Universität Bonn. Auch wenn wir in unserer forschungsmethodisch fortgeschrittenen Kriminologie der Relevanz seiner kriminalphänomenologischen Befunde heute vielfach skeptisch gegenüberstehen - in seiner Standhaftigkeit und geistigen Selbständigkeit kann v. Hentig ganz sicher Vorbild sein" (Streng 1993: 166).

"impulsiver Abenteurer mit wenig Respekt vor Autorität" .... "ein extrem schreibfreudiger Wissenschaftler, der zu den Begründern einer modernen, durch die Verbindung juristischer und medizinisch-psychologischer Kenntnisse und Zugänge bestimmten Kriminologie gehörte" (Fahrmeir 2008).

Fahrmeier (2008) sieht in von Hentig ein Beispiel für die "enge Verbindung zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischer Agitation, welche viele Phasen des im Entstehen begriffenen kriminologischen Diskurses prägte, sowie die Ausbildung personeller Netzwerke, welche über Berufungen entschieden - wobei vor allem die geringe Zahl der ausgewiesenen Experten dafür sorgte, dass eine eher unkonventionelle Gestalt wie Hentig Karriere machen konnte."

In Hentigs Zeite fielen die (natur-)wissenschaftlichen Versuche der Klassifikation von Verbrechertypen und die Versuche zur Ersetzung von Strafrecht und Strafprozeßrecht durch Maßnahmen der Sicherung und Besserung. Die Suche nach Verwissenschaftlichung und täterorientierter Differenzierung des als schematisch empfundenen Tat-Strafrechts begünstigte eine Medikalisierung der Sprache der Kriminologie.

Aus heutiger Sicht fällt auf, wie von Hentig mit zufällig aneinandergereihten historischen Beispielen jongliert und wie sich persönliche Vorurteile und wissenschaftliche Daten miteinander vermischen. Frauen sprach er die Fähigkeit ab, Geschworene zu sein. "Insofern leistete Hentig methodisch und sprachlich vielem von dem Vorschub, was er im Ergebnis - als sich nach 1933 die 'Ausmerzungskriminologie' Bahn brach - heftig zurückwies" (Fahrmeir 2008).

Weblinks

  • Institut für Zeitgeschichte [[1]]
  • Besprechung von David von Mayenburgs Buch durch Andreas Fahrmeir: [[2]]
  • Hans von Hentig, wikipedia deutsch: [[3]] (14.12.09).