Kriminalisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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===='''Legislative Kriminalisierung'''====
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Abstrakt definierte Handlungen werden durch die Setzung von [[Strafrechtsnormen]] kriminalisiert, das heisst verfolgbar und strafbar gemacht. [[Rechtsnormen]] sind von einer Gemeinschaft beschlossene Normen, die das Zusammenleben regeln und [[Kriminalität]] festlegen. Der Begriff der Rechtsnorm ist daher zentral für das Verständnis kriminologischer Phänomene. Grundsätzlich sind Rechtsnormen veränderbar und in hohem Maße abhängig vom Wertesystem der jeweiligen Gesellschaft. Kriminalisierung bezieht sich auf der strafrechtlichen Ebene auf die Gesetzgebung (Legislative), die Vollziehung (Exekutive) und die Rechtsprechung (Judikative). Handlungen müssen als kriminell klassifiziert werden, wie dies durch den Satz: "nullum crimen sine lege" = kein Verbrechen ohne Gesetz deutlich wird.
Abstrakt (legalistisch) definierte Handlungen werden durch die Setzung von [[Strafrechtsnormen]] kriminalisiert, das heisst strafbar gemacht. [[Rechtsnormen]] sind von einer Gemeinschaft beschlossene Normen, die das Zusammenleben regeln und [[Kriminalität]] festlegen. Der Begriff der Rechtsnorm ist daher zentral für das Verständnis kriminologischer Phänomene. Grundsätzlich sind Rechtsnormen variabel und in hohem Maße abhängig vom Wertesystem der jeweiligen Gesellschaft. Kriminalisierung bezieht sich auf der Ebene des Strafrechts auf die Gesetzgebung (Legislative), die Vollziehung (Exekutive) und die Rechtsprechung (Judikative). Rechtsnormen erheben den Anspruch der Identifikation von Abweichungen und die Bestrafung der Abweichenden durch die formalen Instanzen sozialer Kontrolle (Polizei, Staatsanwaltschaft, Strafjustiz und Strafvollzug).


===='''Diskussion: Individualisierte Kriminalisierung'''====
===='''Diskussion: Individualisierte Kriminalisierung'''====

Version vom 10. Januar 2008, 19:29 Uhr

Etymologie

Dem Begriff der Kriminalisierung liegt das, seit dem Ende des 18. Jh.s, aus dem frz. "criminel" (lat. criminalis) entlehnte Adjekiv zugrunde, das sich von dem älteren "kriminal" (kriminalisch) abgeleitet ist. Lat. "ciminalis", "das Verbrechen betreffend, kriminell" ist von lat. "crimen" ("Beschuldigung, Anklage, Vergehen, Verbrechen, Schuld") hergeleitet, dessen weitere Herkunft umstritten ist. Kunz (2004) macht deutlich, dass dem "crimen" eine Ableitung aus dem lat. "cernere" (auswählen, entscheiden) zugrunde liegt. Er deutet dies als ambivalentes Verständnis im Kriminalitätsbegiff: Einerseits als Verhalten (entscheiden) und andererseits als Zuschreibung (auswählen). Dem deutschen Substantiv „Kriminalität“ entspricht nur das Verb „kriminalisieren“ aber keines, welches das Begehen einer kriminellen Handlung verdeutlicht. Um dies zu benennen, wird auf das Fremdwort „delinquieren“ zurückgegriffen. Die Endung "...sierung" im Begriff der Kriminalisierung, gibt dem Wort eine passive Bedeutung, ohne Akteure oder Objekte einer Kriminalisierung näher zu spezifizieren.


Definitionsversuche

Der Begriff der Kriminalisierung verweist auf den staatlichen Strafanspruch und die Zusammenhänge zwischen Normsetzung und rechtlicher Ahndung von Normverletzungen. Kriminalisierung hängt von zahlreichen strukturell bedingten Prozessen ab, in denen bestimmte Handlungen als "kriminell" definiert und verfolgt werden oder Personen aufgrund des Begehens derartiger Handlungen das Merkmal des "Kriminellen" erhalten. Kriminalisierung repräsentiert keinen festen Zustand sondern stellt den Prozess der Normgenese und Normanwendung in den Vordergrund: Das, was als ungesetzlich (kriminell) gilt wird in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen strafrechtlich festgelegt.

Legislative Kriminalisierung

Abstrakt (legalistisch) definierte Handlungen werden durch die Setzung von Strafrechtsnormen kriminalisiert, das heisst strafbar gemacht. Rechtsnormen sind von einer Gemeinschaft beschlossene Normen, die das Zusammenleben regeln und Kriminalität festlegen. Der Begriff der Rechtsnorm ist daher zentral für das Verständnis kriminologischer Phänomene. Grundsätzlich sind Rechtsnormen variabel und in hohem Maße abhängig vom Wertesystem der jeweiligen Gesellschaft. Kriminalisierung bezieht sich auf der Ebene des Strafrechts auf die Gesetzgebung (Legislative), die Vollziehung (Exekutive) und die Rechtsprechung (Judikative). Rechtsnormen erheben den Anspruch der Identifikation von Abweichungen und die Bestrafung der Abweichenden durch die formalen Instanzen sozialer Kontrolle (Polizei, Staatsanwaltschaft, Strafjustiz und Strafvollzug).

Diskussion: Individualisierte Kriminalisierung

Kriminalisierung bezieht sich auf konkrete Handlungen oder Personen, die durch die Strafverfolgung oder durch Instanzen der sozialen Kontrolle als kriminell definiert werden. Fraglich ist, ob Kriminalisierung auch durch die Bevölkerung und Individuen zustande kommen kann. Am Beispiel der Anzeigenerstattung durch die Bevölkerung oder einer moralischen Empörung („das ist ja kriminell!“) lässt sich diskutieren, ob hier der Begriff Kriminalisierung angemessen ist. Oder erhält der Begriff erst seine Wirkung, wenn die Instanzen der sozialen Kontrolle die Kriminalisierung erfolgreich vollzogen haben? Weiterhin besteht die Frage ob der Begriff der Kriminalisierung auch heißen kann: „jemanden kriminell machen“, eine Person in eine soziale Situation bringen, oder ihr eine soziale Situation zuschreiben, die sie motiviert oder zwingt, Handlungen zu begehen, die als kriminell bezeichnet werden (Bsp: Sekundäre Devianz als Folge von Kriminalisierungsprozessen vgl. E.M. Lemert und zur self-fulfilling prophecy vgl. H.S. Becker). Der Begriff der individualisierten Kriminalisierung macht deutlich, dass Kriminalität nicht in den Personen zu suchen ist, sondern eine übertragene Eigenschaft darstellt. Die zu diskutierende Frage ist, ob der Normsender auch die Bevölkerung oder das Individuum sein kann.

Entstehungsbedingungen des kriminologischen Diskurses

Die Fragen und Antworten nach den Ursachen, dem Umgang und der Definition von „Verbrechen“ werden nicht erst seit der Klassischen Schule des 18. Jahrhundert gestellt. Doch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildet die Kriminologie im europäischen Raum ein ihr eigenes, vom Strafrecht nicht zu trennendes und weit darüber hinausreichendes Wissenschaftsgebiet heraus. Zu dieser Eigenständigkeit der Kriminologie trug die Kriminalsoziologie bei. Alexander Lacassagne und Gabriel Tarde (1843- 1909 bzw. -1904) begründeten in Frankreich eine Milieubezogene Betrachtung des Verbrechens (Armut und Elend der Massen). Emile Durkheim (1858 -1917) erklärte die sozialen Spannungen aus der mangelnden Integration des Unterschicht in die mittelschichtzentrierte Gesellschaft als Anomie (Anomietheorie). Zeitgleich spielte die sog. „positivistische Kriminologe“ eine strategische Rolle in der Entwicklung der Kriminologie. Sie machte sich u.a. die „Konzepte der Unterscheidung von Individuen“ aus dem Bereich der Psychiatrie nutzbar (Marinis 2000, S. 214). Garland, der sich auf Foucault bezieht, untersuchte in „Punishment and Welfare“ (1987) die Entstehungsbedingungen dieser sog. „positivistischen Kriminologe“ am Wendepunkt vom Klassizismus (Klassische Schule) zum Positivismus.

Er stellte dabei folgende zentrale Merkmale heraus:

  1. die Entwicklung der Statistik und damit einhergehend die Versachlichung von „Gesellschaft“ als „Bevölkerung“ (Population)
  2. die „Fakten“, die Daten der Statistik die Zahlenmaterial für den kriminologischen Diskurs lieferte
  3. die Fortentwicklung des psychiatrischen Diskurses und sein Einfluss auf kriminologische Strafkategorien
  4. die Existenz von Gefängnissen und ihr Konzept der Vereinzelung und Trennung der Individuen
  5. die Misserfolge der klassischen Kriminologie, deren Grundkonzept der freie Wille (Schuld) und die damit verbundene Verantwortlichkeit (Haftung) war. (vgl. Althoff/Leppelt 1995)

Das Vorbild der positiven Schule (entstanden in dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts) bildeten die Naturwissenschaften. Man glaubte, ähnliche sichere und beständige "Gesetze" für das menschliche Verhalten und für Gesellschaften "entdecken" zu können (Moralstatistik). Bereits der Kriminal- und Moralstatistiker Adolphe Quetelet (1796 –1874) suchte nach den Regelmäßigkeiten im statistischen Zahlenbild für das Erklären von Kriminalität unter soziologischen Gesichtspunkten.

Cesare Lombroso (1836 bis 1909) suchte seinerseits nach der genauen wissenschaftlichen "Vermessung" des Kriminellen, nach den Merkmalen, die er mit der Biologie, der Psychologie, der Soziologie verknüpfte um auf diese Weise den evidenten "Ursachen" der Kriminalität auf die Spur zu kommen, und zwar durch den Vergleich mit der Gruppe der Gesetzestreuen. In diesem Prozess der Klassifizierung und Differenzierung konstituierte die positivistische Kriminologie einen „kriminellen Charakter“. Die Annahme war, dass „hinter“ dem Kriminellen „etwas stecken“ müsse oder IN ihm was nicht der Normalität entsprach. Dabei wurde immer wieder der Vergleich zwischen „nicht – kriminellen“ und „kriminellen“ – unter der Annahme der Reinheit der Gruppen, gesucht. Das „kriminelle Andere“ wurde dabei, so schreibt Peter Becker in seinem Aufsatz „Verderbnis und Entartung“ (2002) nicht in erster Linie juristisch, d.h. über konkrete Straftatbestände, sondern moralisch und später medizinisch definiert. Grundsätzlich stellte der Kriminelle das politische, soziale, moralische und kulturelle Gegenbild zum idealisierten Bürger dar.

Bezogen auf den Begriff der Kriminalisierung lässt sich hiermit sagen, dass die Kriminologie sich an der Praxis der Sinngebung von Kriminalität beteiligt. Sie ist darin konstitutiv eingebunden, sie ist kein wertneutraler Zulieferer von Fakten.

Kriminaliserung avant le lettre

Kriminalisierung kann als analytischer Begriff betrachtet werden. Es ist möglich über sein historisches erstmaliges Auftauchen hinweg "avant la lettre" (sinngemäß übersetzt „vor dem Wort“) von Kriminalisierung zu sprechen. Rückblendend kann so untersucht werden, welche Personengruppen unter welchen rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen als „kriminell“ definiert wurden. Zur Verdeutlichung ein historisches Beispiel: Karl Marx schreibt in der Rheinischen Zeitung im Jahr 1842 zu den Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz im rheinischen Landtag. Er wendet sich darin gegen die staatliche Strafgewalt, die das Einzelinteresse einiger Waldbesitzer vertritt. Diese wollen das Sammeln von „Raffholz“ (heruntergefallener Äste) als Diebstahl verstanden wissen. Das Gewohnheitsrecht der Armen, das Auflesen abgefallenen Holzes, verwandelt sich somit in ein Verbrechen. Marx verweist darauf, dass die Verwandlung eines Staatsbürgers in einen Dieb erst aufgrund eines gesetzlichen Definitionsaktes erfolge: Der Landtag soll entscheiden, ob er einen Holzfrevel für einen Diebstahl hält. In diesem Beispiel wird deutlich, dass das Verbrechen aufgrund eines staatlichen Definitionsvorgangs geschaffen wird.

Jede Gesellschaft ist durch Ordnungssysteme bestimmt, die bestimmten Organisationsweisen und Regelmäßigkeiten unterliegen. Beispielsweise Kooperationen, festgesetzte Tabus, Gebote, Normen oder das Recht. Für den Menschen besteht somit die Möglichkeit diese Vereinbarungen zu verletzen. Doch eine Übertretung von vorstaatlichen Regeln ist nicht mit einem staatlichen Strafanspruch verbunden. Erst mit der Überschreitung von staatlich definierten Gesetzen und dem daraus resultierenden Strafanspruch kann analytischerweise von Kriminalisierung gesprochen werden. Hess und Scheerer (2003) stellen folgende grundlegende Differenz heraus: "Sobald Güter und gesellschaftliche Positionen nicht mehr im Sinne aller geregelt wurden, sondern sich „Herrschaft politisch als institutionalisierte Macht und ökonomisch als Herrengewalt an den entscheidenden Wirtschaftsmitteln entstand, kam es zu jener drastischen Änderung von Konflikten und Konfliktregelungen, aus der sich die Phänomene Recht (...), Verbrechen und Kriminalitätsstrafen (...) entwickelten.“ (Hess/Scheerer 2003, S. 72). Das heisst, erst Staatlichkeit und staatlicher Strafanspruch, (strafrechtliche) Definitionsleistungen (Rechtsgüter) und Interessensgegensätze geben somit wichtige Hinweise im Umgang mit der analytischen Begriffsverwendung der „Kriminalisierung.“

Kriminalitätstheorien

Kriminalitätstheorie lässt sich klassischerweise unterteilen in biologische, psychologische, soziologische, ökonomische Kriminalitätstheorien. Da keine der Einzeldisziplinen in der Lage ist, Kriminalität hinreichend zu erklären, werden heute multifaktorielle Ansätze bevorzugt, die ihrerseits dem Vorwurf der Konturenlosigkeit ausgesetzt sind. Gemeinsam ist den Kriminaltiätstheorien die Suche nach den Bedingungen, der Entstehung, des Verlaufs und der strukturellen Eigenarten von Kriminalität.

Positivismusstreit

In den 1960er Jahren stehen sich seit dem Positivismusstreit zwei erkenntnistheoretische Positionen bis heute unversöhnt gegenüber, die Kunz (2004) durch den Gegensatz von „Erklären“ und „Verstehen“ (Wright 1974) darstellt. Dem Erklärungsmodell liegt die Annahme zugrunde, dass sich die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse und Geschehen („Explanandum“) den Naturwissenschaften ähnlich, empirisch ableiten lassen und statistischen Gesetzmäßigkeiten („Exlpanans“) folgen. Die soziale Welt ist diesem Verständnis nach vom Beobachter unabhängig und als Objekt oder Phänomen vorhanden. Das Verstehensmodell leitet die Gründe des Handelns von Subjekten nicht aus einer empirischen Erfahrung heraus ab, sondern legt seiner Analyse ein interpretatives Verstehen zugrunde. Wahrnehmung, Erkenntnisse und Geschehen werden als das Ergebnis eines umfangreichen Deutungsprozesses übersetzt. Handlungsformen und Denkweisen werden im Verstehensmodell durch „kollektive Sinnsysteme konstituiert“ (Reckwitz 2000) und als Ergebnis eines Bestimmungsvorganges unter konkreten historischen und sozialen Bedingungen festgelegt. Der Begriff "Positivismusstreit" entstammt dem Vorwurf der Kritischen Theorie. Deren Vertreter (T. W. Adorno, J. Habermas) bewerteten den kritischen Rationalismus (K. R. Popper, H. Albert) als positivistisch. Popper postulierte, dass eine Theorie nur dann wissenschaftlich sei, wenn sie widerlegbar ist. Danach kann man sich der einer Theorie zugrunde liegenden Realität nur durch Erfahrung annähern. Die Vertreter der dialektischen Position kritisierten daran die, ihrer Meinung nach Nichtbeachtung der Werturteile und bestritten, dass es wertfreie Erfahrungstatsachen geben könne. Der "Streit" ist für die Weiterentwicklung der Kriminaltitäts- und Kriminalisierungstheorien von Bedeutung: Es geht um das Verhältnis zwischen (kriminal-)soziologischer Theoriebildung und "Gesellschaft" als ihrem Untersuchungsgegenstand.

Kriminalisierungstheorien

Den Kriminalisierungstheorien gemeinsam ist die Ausrichtung an einem, auf erkenntnistheoretischen Grundlagen fundierten „Verstehensmodell“ (Kunz 2004). Sie beschäftigen sich mit den Vorgängen und Akteuren der strafrechtlichen und informellen Kriminalitätskontrolle. Ihnen zugrunde liegt die sozial- und geisteswissenschaftliche Erkenntnis, dass der Untersuchungsgegenstand keine naturhafte Gegebenheit darstellt, sondern immer schon in gesellschaftlichen Zusammenhängen hergestellt wird, an denen der Forscher durch seine Interaktion mit dem Untersuchungsobjekt selbst Teil hat. Diese Denkweise auf den Begriff der „Kriminalität“ angewendet, verweisen die Kriminalisierungstheorien somit auf verschiedene Interaktionszusammenhänge:

  • sie verweisen auf das offizielle von den Instanzen der strafrechtlichen Kontrolle vorgeworfene rechtsbrüchige Verhalten.
  • sie deuten auf den informellen und inoffiziellen Zusammenhang hin, den der Teil der Bevölkerung ausmacht, die Handlungen als „kriminell“ beurteilen.
  • sie markieren den Zusammenhang, in welchem der Akteur interagiert, der später, die als kriminell definierte Handlung vollzieht.
  • und sie kann darüber hinaus den „Forscher“ selbst in den Blick nehmen, der aus diesen Interaktionszusammenhängen seine theoretischen Erkenntnisse und praktischen Schlüsse ableitet.

Die Kriminalisierungstheorien sind nicht einheitlich gefasst. Sie stellen vielmehr eine Theoretisierungsweise dar, die eine Kombination aus verschiedenen Disziplinen sein kann. Ihr Deutungsrahmen lässt es zu, sich mit der Psychoanalyse, der marxistischen Kritik an der politischen Ökonomie, der Konflikttheorie, der Sozialpsychologie oder der Systemtheorie zu verknüpfen. Als bekannteste Kriminalisierungstheorie wird von W. Naucke (1999) und Kunz (2004) die sozialwissenschaftlich orientierte Labeling-Approach-Theorie (dt. Etikettierungstheorie) hervorgehoben. Als die wichtigsten Vordenker des Labeling-Approach werden Frank Tannenbaum (Etikettierungsansatz 1938), Howard S. Becker (Modell der abweichenden Laufbahn, in Anlehnung an George H. Meads symbolischen Interaktionismus), Edwin M. Lemert (Social Pathology), John I. Kitsuse und Kai T. Erikson (mikro- und makrosoziologischer Aspekte), Harold Garfinkel, Aaron V. Cicourel, Harvey Sacks (Ethnomethodologie, angelehnt an die Phänomenologie von Alfred Schütz) benannt. In Deutschland hat Fritz Sack erheblich dazu beigetragen das Studienfeld des Labeling-Approach durch seinen „radikalen Ansatz“ (1968) in den kriminologischen Diskurs eingeführt zu haben. Psychoanalytische und sozialisationstheoretische Weiterentwicklungen sind Stephan Quensel zuzuschreiben. Den Kriminalisierungstheorien gemeinsam ist die Kritik, an einer auf individuelle Verhaltensdispositionen fixierten Kriminologie. Sie lehnen kriminalätiologische (Ätiologie= Ursachenforschung) Theorien mit ihrem wissenschaftlich normativen Ursachen Denkmuster ab.

Diskurse zu Kriminalisierung

Politik

Kriminalpolitik (Crime policy) bezeichnet den gesellschaftlichen Umgang mit Delikten und Delinquenz. In der Kriminalpolitik spielen Werte und Normgültigkeiten oder Strukturen, Institutionen und Instrumente der Kriminalitätsbekämpfung ebenso eine Rolle wie Kriminalstatistiken, die Umfang/Ausmaß von Kriminalität beschreiben. Kriminalpolitik verweist auf die Herstellung und Erhaltung von innerer Sicherheit im Staat.

Die "Politik (mit) der Kriminalität" ist nicht allein der staatlichen Kriminalpolitik unterstellt, sondern spiegelt sich überall dort wieder, wo gesamtgesellschaftlich argumentiert wird. In Medien berichtete Nachrichten werden häufig von Politik und Polizei aufgegriffen und in Handlungsbedarf umformuliert. Dabei können gegensätzliche Interessen auf allen gesellschaftlichen Ebenen deutlich werden. Hier ein Beispiel für eine Kriminalisierungsdebatte: Dem 1976 in Deutschland eingeführten Straftatbestand der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" (§129a StGB), wird von Kritikern „politische Zensur“ und „Kriminalisierung von Oppositionellen“ unterstellt. Bedeutsam, so die Gegner, sind die Paragrafen weniger für die Strafverfolgung. Sie dienten vielmehr der Überwachung, Kontrolle und Einschüchterung kritischer Bewegungen und Gruppen. Aus dieser Perspektive wird von einer Kriminalisierung von „Andersdenkenden“ gesprochen.

Moral

Die ethisch-moralische Auseinandersetzung einer Kriminalisierung von Handlungen und Subjekten deutet u.a. darauf hin, dass ein „Gut“ noch nicht (hinreichend) durch den Gesetzgeber geschützt ist oder dass der Gesetzgeber ein Rechtsgut schützt, das für bestimmte Akteure moralisch und ethisch nicht vertretbar ist. Beispielhaft sei hier die Debatte um die Stammzellenforschung in Deutschland genannt. 2002 hat der Bundestag das "Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen" verabschiedet. Damit ist die Einfuhr embryonaler Stammzellen aus dem Ausland unter bestimmten Prämissen entkriminalisiert: Für hochrangige Forschungsziele kann in Ausnahmefällen die Erlaubnis zum Import embryonaler Stammzellen erteilt werden, wenn u.a. die ethische Vertretbarkeit des Forschungsprojekts von der Zentralen Ethik-Kommission geprüft wurde. (Vgl. § 5 Nr. 1; § 8 StZG). (Ent-)Kriminalisierung wird hier ethischen Grundlagen unterworfen, die als Kriterien zur Beurteilung der Rechtslage dienen.

Kriminalisierung und Viktimologie

Die Viktimologie steht in engem Zusammenhang mit dem Kriminalisierungsprozess. „Opfer“ (lat. victima) treten als Anzeigeerstatter in Erscheinung. Sie definieren so ihre Rolle als Geschädigte und markieren die des „Täters“ als „kriminell“. Die Risikoeinschätzung von Personen, Opfer einer Straftat zu werden, geht der Viktimisierung zeitlich voraus: Vor der Opferwerdung steht die Befürchtung das Opfer einer Straftat zu werden. Die Verursacher der Gefahr werden in der Risikoeinschätzung bereits im Vorfeld festgelegt (kriminalisiert). Kriminalitätsfurcht erhält dadurch eine kriminalisierende Bedeutung:

  • Sie kann zur Entstehung einer Privat- und Selbstjustiz führen (Neighborhood watching).
  • Sie kann die Radikalisierung der Kriminalpolitik rechtfertigen um das Sicherheitsgefühl von Teilen der Bevölkerung zu erhöhen. Das potentielle Opfer erhält eine symbolische, repräsentative Funktion, dessen Erfahrung als All-Gemeingut angesehen wird.

Literatur

Adorno, Theodor W. et al.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. 6. Aufl. Darmstadt 1978

Althoff, Martina/Leppelt Monika: „Kriminalität“ - eine diskursive Praxis. Spuren der Wirklichkeit Bd. 8, Münster-Hamburg 1995

Arbeitskreis Junger Kriminologen: Der Prozeß der Kriminalisierung. Untersuchungen zur Kriminalsoziologie. M 13 München 1973

Arbeitskreis Junger Kriminologen: Kritische Kriminologie. Positionen, Kontroversen und Perspektiven. M18, München 1974

Becker, Peter: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002

Boers, Klaus: Kriminalprävention und Kriminalpolitik mit der Kriminalitätsfurcht, NK 2/2001, S. 10ff.

Bussmann, Kai-D./Kreissel, Reinhard (Hg): Kritische Kriminologie in der Diskussion. Opladen 1996

Chadwick, Kathryn/Scraton, Phil. In: Mc Laughlin, Eugene/Muncie, John: The Sage Dictionary of Criminology. London 2006, Seite 95

Cremer-Schäfer, Helga: Kriminalität und soziale Ungleichheit. Über die Funktion von Ideologie bei der Arbeit der Kategorisierung und Klassifikation von Menschen. In: Frehsee, Detlev et.al (Hg): Konstruktion der Wirklichkeit durch Kriminalität und Strafe. 1. Aufl. Baden Baden 1997, Seite 68-100

Currie, Elliott: Crime and Punishment in America. Metropolitan Books. New York 1998

Hess, Henner/Scheerer, Sebastian: Theorie der Kriminalität. In: Oberwitter, Karstedt (Hg): Soziologie der Kriminalität. Sonderheft 43 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Wiesbaden 2003, S. 69-92

Hess, Henner/J. Stehr: Die urspüngliche Erfindung des Verbrechens. In: Kriminologisches Journal 2. Beiheft, 1987, S.33-56

Kunz, Karl-Ludwig: Kriminologie. Eine Grundlegung. 4.Auflage Bern Stuttgart Wien 2004

Kreissl, Reinhard/Lüddersen, Klaus: Kritische Kriminologie und Strafbegründung. In: Arbeitskreis Junger Kriminolgen: Kriminologisches Journal (KrimJ) 38 Jg. Heft 1, Weinheim 2006, Seite 16-31

Kytzler, Bernhard: Morus, Thomas. In: Metzler: Philosophen Lexikon. Stuttgart 1995, S. 613

Lemert, E. M.: Primary and Secundary Deviation. In: Pontell, H.N. (D.): Social Deviance. Readings in Theory and Research. New Jersey, 1993 [1951]

Lemke, Thomas/ Krasmann, Susanne/ Bröckling, Ulrich: Gouvernementalität der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2000

Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang (Hg): Soziale Ungleichheit, Kriminalität und Kriminalisierung. Leske und Budrich, Opladen 2000

Marinis, Pablo de: Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaft. Pfaffenweiler 2000

Mc Laughlin, Eugene/Muncie, John: The Sage Dictionary of Criminology. London 2006

Marx, Karl/ Engels, Friedrich - Werke. Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin 1957, S. 109-147

Naucke, Wolfgang: Die Abhängigkeiten zwischen Kriminologie und Kriminalpolitik. In: Ders. Gesetzlichkeit und Kriminalpolitik. Abhandlungen zum Strafrecht und zum Strafprozessrecht. Frankfurt a.M. 1999, S. 96-118

Nitz, Gerhard/Gusy, Christoph: Vom Legitimationswandel staatlicher Sicherheitsfunktionen. In: Lange, Hans-Jürgen (Hg): Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland. Band 1 Opladen 2000, Seite 335-354

Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000

Sack, Fritz: Definition von Kriminalität als politisches Handeln: Der labeling approach. In: Arbeitskreis Junger Kriminologen Kriminologisches Journal M18, München 1974 Seite 18-43

Sack, Fritz: Neue Perspektiven in der Kriminologie. In: Sack F., König R. (Hg): Kriminalsoziologie, Frankfurt a. M. 1968, Seite 431-476

Sack, Fritz: Prävention - ein alter Gedanke in neuem Gewand. In: Gössner (Hg.) 1995. S. 429-457

Spitzer, Steven: Towards a Marxian theory of deviance. Social Problems, 22, 1975, pp. 369-401

Waldmann, Peter.: Zur Genese der Strafrechtsnorm. In: Kriminologisches Journal 2, 1979, S. 102-123

Wright, Georg H.: Erklären und Verstehen. Frankfurt a.M. 1974 (orig. Explanation and understanding, New York 1971)

Weblinks

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht: Forschungsprojekt "Recht – Norm – Kriminalisierung. Diskursive, ethische und rechtliche Zuschreibungen von Normverletzung": http://www.mpicc.de/ww/de/pub/forschung/forschungsarbeit/kriminologie/recht_norm_kriminalisierun.htm

Rheinische Zeitung Nr. 298 vom 25. Oktober 1842 zu finden unter: http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_109.htm (letzter Zugriff 23.12.2007)

Wikipedia der Begriff der Kriminalisierung in Englisch: http://en.wikipedia.org/wiki/Criminalisation