Kriminalisierung

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Etymologie

Dem Begriff der Kriminalisierung liegt das, seit dem Ende des 18. Jh.s, aus dem frz. "criminel" (lat. criminalis) entlehnte Adjekiv zugrunde, das sich von dem älteren "kriminal" (kriminalisch) abgeleitet ist. Lat. "ciminalis", "das Verbrechen betreffend, kriminell" ist von lat. "crimen" ("Beschuldigung, Anklage, Vergehen, Verbrechen, Schuld") hergeleitet, dessen weitere Herkunft umstritten ist. Kunz (2004) macht deutlich, dass dem "crimen" eine Ableitung aus dem lat. "cernere" (auswählen, entscheiden) zugrunde liegt. Er deutet dies als ambivalentes Verständnis im Kriminalitätsbegiff: Einerseits als Verhalten (entscheiden) und andererseits als Zuschreibung (auswählen). Dem deutschen Substantiv „Kriminalität“ entspricht nur das Verb „kriminalisieren“ aber keines, welches das Begehen einer kriminellen Handlung verdeutlicht. Um dies zu benennen, wird auf das Fremdwort „delinquieren“ zurückgegriffen. Die Endung "...sierung" im Begriff der Kriminalisierung, gibt dem Wort eine passive Bedeutung, ohne Akteure oder Objekte einer Kriminalisierung näher zu spezifizieren.


Definitionsversuche

Der Begriff der Kriminalisierung verweist auf den staatlichen Strafanspruch und die Zusammenhänge zwischen Normsetzung und rechtlicher Ahndung von Normverletzungen. Kriminalisierung hängt von zahlreichen strukturell bedingten Prozessen ab, in denen bestimmte Handlungen als "kriminell" definiert und verfolgt werden oder Personen aufgrund des Begehens derartiger Handlungen das Merkmal des "Kriminellen" erhalten. Der Topos Kriminalisierung repräsentiert keinen festen Zustand, sondern stellt den Prozess der Normgenese und Normanwendung in den Vordergrund: Das, was als ungesetzlich (kriminell) gilt, wird in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen strafrechtlich festgelegt.

Legislative Kriminalisierung

Abstrakt (legalistisch) definierte Handlungen werden durch die Setzung von Strafrechtsnormen kriminalisiert, das heißt strafbar gemacht. Rechtsnormen sind von einer Gemeinschaft beschlossene Normen, die das Zusammenleben regeln und Kriminalität festlegen. Der Begriff der Rechtsnorm ist daher zentral für das Verständnis kriminologischer Phänomene. Grundsätzlich sind Rechtsnormen variabel und in hohem Maße abhängig vom Wertesystem der jeweiligen Gesellschaft. Kriminalisierung bezieht sich auf der Ebene des Strafrechts auf die Gesetzgebung (Legislative), die Vollziehung (Exekutive) und die Rechtsprechung (Judikative). Rechtsnormen erheben den Anspruch der Identifikation von Abweichungen und die Bestrafung der Abweichenden durch die formalen Instanzen sozialer Kontrolle (Polizei, Staatsanwaltschaft, Strafjustiz und Strafvollzug).

Diskussion: Individualisierte Kriminalisierung

Der Begriff der Kriminalisierung kann sich auf konkrete Personen beziehen, die durch die Strafverfolgung oder durch Instanzen der sozialen Kontrolle (in zunehmendem Maße) als kriminell bezeichnet und behandelt werden. Fraglich ist, ob Kriminalisierung auch durch die Bevölkerung und Individuen zustande kommen kann. Am Beispiel der Anzeigenerstattung durch die Bevölkerung oder einer moralischen Empörung („das ist ja kriminell!“) lässt sich diskutieren, ob hier der Begriff Kriminalisierung angemessen ist. Oder erhält der Begriff erst seine Wirkung, wenn die Instanzen der sozialen Kontrolle die Kriminalisierung erfolgreich vollzogen haben? Weiterhin besteht die Frage, ob der Begriff der Kriminalisierung auch heißen kann: „jemanden kriminell machen“, eine Person in eine soziale Situation bringen, oder ihr eine soziale Situation zuschreiben, die sie motiviert oder zwingt, Handlungen zu begehen, die als kriminell bezeichnet werden (Bsp: Sekundäre Devianz als Folge von Kriminalisierungsprozessen vgl. E.M. Lemert und zur self-fulfilling prophecy, vgl. H.S. Becker). Der Begriff der individualisierten Kriminalisierung macht deutlich, dass Kriminalität nicht in den Personen zu suchen ist, sondern eine übertragene Eigenschaft darstellt.

Entstehung von Rechtsnormen

Die Entstehung von Rechtsnormen lassen sich als Gesetze im materiellen Sinn darstellen: Das „gesetzte Recht“ verdeutlicht das Gesetz im formellen Sinn (Legislative) und meint Rechtsverordnung (Exekutive) und Satzung (Exekutive). Das Richterrecht stellt die Judikative dar. Das juristische Urteil ist als eine Konstruktion aus verschiedenen materiellen und verfahrensrechtlichen Rechtsnormen zu verstehen, das einer Person den Status einer Verurteilten erst zukommen lässt. Insofern erfolgt eine formelle Zuschreibung: eine Kriminalisierung. Die Genese von Rechtsnormen lässt sich auch historisch erörtern. Jede Gesellschaft ist durch Ordnungssysteme bestimmt, die bestimmten Organisationsweisen und Regelmäßigkeiten unterliegen: Tabus, Gebote, Kodices, Normen oder das Recht. Rechtliche Normen unterscheiden sich von anderen Normen dadurch, dass ihr Übertreten sanktioniert wird „durch ein auf Erzwingen der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eignes darauf eingestellten Stabes von Menschen.“ (Max Weber 1976, S. 17). Die Übertretung einer Rechtsordnung stellt eine Rechtsgüterverletzung dar, die mittels alleiniger (meist) staatlicher Sanktionsgewalt („Stab“) geschützt wird. Erst mit der Überschreitung von gesetztem Recht und dem daraus resultierenden Strafanspruch kann analytischerweise von Kriminalisierung gesprochen werden. Hess und Scheerer stellen folgende Differenz zwischen sozialen und rechtlichen Normen heraus: "Sobald Güter und gesellschaftliche Positionen nicht mehr im Sinne aller geregelt wurden, sondern sich „Herrschaft politisch als institutionalisierte Macht und ökonomisch als Herrengewalt an den entscheidenden Wirtschaftsmitteln entstand, kam es zu jener drastischen Änderung von Konflikten und Konfliktregelungen, aus der sich die Phänomene Recht (...), Verbrechen und Kriminalitätsstrafen (...) entwickelten.“ (Hess/Scheerer 2003, S. 72).

Exkurs: Kriminaliserung avant le lettre

Kriminalisierung kann als analytischer Begriff betrachtet werden. Es ist möglich vor seinem erstmaligen Auftauchen - "avant la lettre" (sinngemäß übersetzt „vor dem Wort“) - von Kriminalisierung zu sprechen. Rückblendend kann so untersucht werden, welche Personengruppen unter welchen rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen als „kriminell“ definiert wurden. Zur Verdeutlichung ein historisches Beispiel: Karl Marx schreibt in der Rheinischen Zeitung im Jahr 1842 zu den Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz im rheinischen Landtag. Er wendet sich darin gegen die staatliche Strafgewalt, die das Einzelinteresse einiger Waldbesitzer vertritt. Diese wollen das Sammeln von „Raffholz“ (heruntergefallener Äste) als Diebstahl verstanden wissen. Das Gewohnheitsrecht der Armen, das Auflesen abgefallenen Holzes, verwandelt sich somit in ein Verbrechen. Marx verweist darauf, dass die Verwandlung eines Staatsbürgers in einen Dieb erst aufgrund eines gesetzlichen Definitionsaktes erfolge: Der Landtag soll entscheiden, ob er einen Holzfrevel für einen Diebstahl hält. In diesem Beispiel wird deutlich, dass das Verbrechen aufgrund eines staatlichen Definitionsvorgangs geschaffen wird. Das Wort Kriminalisierung wurde damals nicht verwendet, nachträglich lässt sich die Situation aber als eine solche bezeichnen.

Entstehungsbedingungen des kriminologischen Diskurses

Die Fragen und Antworten nach den Ursachen, dem Umgang und der Definition von „Verbrechen“ werden nicht erst seit der Klassischen Schule des 18. Jahrhundert gestellt. Doch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildet die Kriminologie im europäischen Raum ein ihr eigenes, vom Strafrecht nicht zu trennendes und weit darüber hinausreichendes Wissenschaftsgebiet heraus. Zu dieser Eigenständigkeit der Kriminologie trug die Kriminalsoziologie bei. Alexander Lacassagne und Gabriel Tarde (1843- 1909 bzw. -1904) begründeten in Frankreich eine Milieubezogene Betrachtung des Verbrechens (Armut und Elend der Massen). Emile Durkheim (1858 -1917) erklärte die sozialen Spannungen aus der mangelnden Integration des Unterschicht in die mittelschichtzentrierte Gesellschaft als Anomie (Anomietheorie). Zeitgleich spielte die sog. „positivistische Kriminologe“ eine strategische Rolle in der Entwicklung der Kriminologie. David Garland, der sich auf Foucault bezieht, untersuchte in „Punishment and Welfare“ (1987) die Entstehungsbedingungen dieser sog. „positivistischen Kriminologe“ am Wendepunkt vom Klassizismus (Klassische Schule) zum Positivismus.

Er stellte dabei folgende zentrale Merkmale heraus:

  1. die Entwicklung der Statistik und damit einhergehend die Versachlichung von „Gesellschaft“ als „Bevölkerung“ (Population)
  2. die „Fakten“, die Daten der Statistik die Zahlenmaterial für den kriminologischen Diskurs lieferte
  3. die Fortentwicklung des psychiatrischen Diskurses und sein Einfluss auf kriminologische Strafkategorien
  4. die Existenz von Gefängnissen und ihr Konzept der Vereinzelung und Trennung der Individuen
  5. die Misserfolge der klassischen Kriminologie, deren Grundkonzept der freie Wille (Schuld) und die damit verbundene Verantwortlichkeit (Haftung) war. (vgl. Althoff/Leppelt 1995)

Das Vorbild der positiven Schule (entstanden in dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts) bildeten die Naturwissenschaften. Man glaubte, ähnliche sichere und beständige "Gesetze" für das menschliche Verhalten und für Gesellschaften "entdecken" zu können. Bereits der Kriminal- und Moralstatistiker Adolphe Quetelet (1796 –1874) suchte nach den Regelmäßigkeiten im statistischen Zahlenbild für das Erklären von Kriminalität unter soziologischen Gesichtspunkten.

Cesare Lombroso (1836 bis 1909) suchte seinerseits nach der genauen wissenschaftlichen "Vermessung" des Kriminellen, nach den Merkmalen, die er mit der Biologie, der Psychologie, der Soziologie verknüpfte um auf diese Weise den evidenten "Ursachen" der Kriminalität auf die Spur zu kommen, und zwar durch den Vergleich mit der Gruppe der Gesetzestreuen. In diesem Prozess der Klassifizierung und Differenzierung konstituierte die positivistische Kriminologie einen „kriminellen Charakter“. Die Annahme war, dass „hinter“ dem Kriminellen „etwas stecken“ müsse oder IN ihm was nicht der Normalität entsprach. Dabei wurde immer wieder der Vergleich zwischen „nicht – kriminellen“ und „kriminellen“ – unter der Annahme der Reinheit der Gruppen, gesucht. Das „kriminelle Andere“ wurde dabei, so Peter Becker (2002) nicht in erster Linie juristisch, das heißt über konkrete Straftatbestände, sondern moralisch und später medizinisch definiert. Grundsätzlich stellte der Kriminelle das politische, soziale, moralische und kulturelle Gegenbild zum idealisierten Bürger dar.

Bezogen auf den Begriff der Kriminalisierung lässt sich hiermit sagen, dass die Kriminologie sich an der Praxis der Sinngebung von Kriminalität beteiligt. Sie ist darin konstitutiv eingebunden, sie ist kein wertneutraler Zulieferer von Fakten.

Kriminalitätstheorien

Kriminalitätstheorie lässt sich klassischerweise unterteilen in biologische, psychologische, soziologische, ökonomische Kriminalitätstheorien. Da keine der Einzeldisziplinen in der Lage ist, Kriminalität hinreichend zu erklären, werden heute multifaktorielle Ansätze bevorzugt, die ihrerseits dem Vorwurf der Konturenlosigkeit ausgesetzt sind. Die Kriminaltiätstheorien verbindet die Suche nach den Bedingungen, der Entstehung, dem Verlaufs und den strukturellen Eigenarten von Kriminalität.

Kriminalisierungstheorien

Den Kriminalisierungstheorien gemeinsam ist die Ausrichtung an einem, auf erkenntnistheoretischen Grundlagen fundierten „Verstehensmodell“ (Kunz 2004). Sie beschäftigen sich mit den Vorgängen und Akteuren der formellen und informellen Kriminalitätskontrolle. Ihnen zugrunde liegt die sozial- und geisteswissenschaftliche Erkenntnis, dass der Untersuchungsgegenstand keine naturhafte Gegebenheit darstellt, sondern immer schon in gesellschaftlichen Zusammenhängen hergestellt wird, an denen der Forscher durch seine Interaktion mit dem Untersuchungsobjekt selbst Teil hat. Diese konstruktivistische Denkweise macht verschiedene Interaktionen deutlich:

  • sie verweist auf den Prozess indem die Instanzen der strafrechtlichen Kontrolle rechtsbrüchiges Verhalten etikettieren.
  • sie deutet auf informelle Zusammenhänge hin, die Handlungen als „kriminell“ beurteilen.
  • sie markiert den Zusammenhang, in welchem der Akteur interagiert, der später, die als kriminell definierte Handlung vollzieht.
  • und sie kann darüber hinaus den „Forscher“ selbst in den Blick nehmen, der aus diesen Interaktionszusammenhängen seine theoretischen Erkenntnisse und praktischen Schlüsse ableitet.

Die Kriminalisierungstheorien sind nicht einheitlich gefasst. Sie stellen vielmehr eine Theoretisierungsweise dar, die eine Kombination aus verschiedenen Disziplinen sein kann. Ihr Deutungsrahmen lässt es zu, sich mit der Psychoanalyse, der marxistischen Kritik an der politischen Ökonomie, der Konflikttheorie, der Sozialpsychologie oder der Systemtheorie zu verknüpfen. Als bekannteste Kriminalisierungstheorie wird von Wolfgang Naucke (1999) ebenso wie von Karl-Ludwig Kunz (2004) der sozialwissenschaftlich orientierte Labeling-Approach (dt. Etikettierungstheorie) hervorgehoben.

Labeling-Approach

Das Auftauchen des Begriff der Kriminalisierung kann möglicherweise mit den Vordenkern des Labeling-Approach angesetzt werden. Um von einer Kriminalisierungstheorie zu sprechen ist es notwendig, dass Kriminalität und ihre Definition von Abweichung nicht aus normativen oder objektiven Vorstellungen abgeleitet werden. Durkheim hatte bereits 1893 erkannt: „man darf nicht sagen, dass eine Tat das gemeinsame Bewusstsein verletzt, weil sie kriminell ist, sondern sie ist kriminell, weil sie das gemeinsame Bewusstsein verletzt. Wir verurteilen sie nicht, weil sie ein Verbrechen ist, sondern sie ist ein Verbrechen weil wir sie verurteilen“ (1988, S. 130). Frank Tannenbaum (Etikettierungsansatz 1938) hatte, so Susanne Krassmann (2003, S. 39, Fn29) als erster abweichendes Verhalten als Reaktion der sozialen Umwelt begriffen. Sutherlands "Theorie der differentiellen Kontakte" (1949) machte deutlich, dass sich Kriminalität in einem Lernprozess mit anderen interaktiv herausbildet. David Matza stellte 1964 heraus dass, „eine Handlung (action) erst zu einem Normbruch (infraction)“ wird, weil vor jeder Straftat das Gesetz steht ("nullum crimen sine lege" = „kein Verbrechen ohne Gesetz“). Mit diesen Theoretisierungen war eine herrschafts- und strafrechtskritische kriminologische Forschung möglich, die Fragen nach der Herstellung der Definitionsmacht von „Konformität“ und „Abweichung“ stellte. Robert K. Merton (der sich wiederum auf Durkheim bezieht) hat mit seiner Anomietheorie 1938 die Widersprüche zwischen den realen sozialen Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Strukturen aufgezeigt. Als weitere wichtige Vordenker des Labeling-Approach werden Howard S. Becker (Modell der abweichenden Laufbahn, in Anlehnung an George H. Meads symbolischen Interaktionismus), Edwin M. Lemert (Social Pathology), John I. Kitsuse und Kai T. Erikson (mikro- und makrosoziologischer Aspekte), Harold Garfinkel, Aaron V. Cicourel, Harvey Sacks (Ethnomethodologie, angelehnt an die Phänomenologie von Alfred Schütz) benannt. In Deutschland hat Fritz Sack erheblich dazu beigetragen das Studienfeld des Labeling-Approach durch seinen „radikalen Ansatz“ (1968) in den kriminologischen Diskurs eingeführt zu haben. Den Kriminalisierungstheorien gemeinsam ist die Kritik an einer auf individuelle Verhaltensdispositionen fixierten Kriminologie.

Der Labeling Approach nimmt die politische Dimension des Forschungsfeldes „Kriminalität“ wahr und den gesellschaftlichen Prozess der Kriminalisierung in den Blick und kann als “a study of lawmaking, lawbreaking and the reactions to lawbreaking” (Sutherland, Cressey, 1974) verstanden werden.

Kriminalisierung und Viktimologie

Die Viktimologie steht in engem Zusammenhang mit dem Kriminalisierungsprozess. „Opfer“ (lat. victima) treten als Anzeigeerstatter in Erscheinung. Sie definieren so ihre Rolle als Geschädigte und markieren die des „Täters“ als „kriminell“. Ob sich daraus eine tatsächliche Kriminalisierung des Täters ergibt, legt nicht das Opfer fest, sondern entscheiden die Instanzen der sozialen Kontrolle.

In der Kriminalpolitik spielt zunehmend die Risikoeinschätzung von Personen, Opfer einer Straftat zu werden eine Rolle. Diese Einschätzung geht einer realen Viktimisierung zeitlich voraus: Vor der Opferwerdung steht die Befürchtung das Opfer einer Straftat zu werden. Die Verursacher der Gefahr werden in der Risikoeinschätzung bereits im Vorfeld festgelegt. Kriminalitätsfurcht erhält eine kriminalisierende Bedeutung:

  • Sie kann zur Entstehung einer Privat- und Selbstjustiz führen (Neighborhood watching).
  • Sie kann die Radikalisierung der Kriminalpolitik rechtfertigen um das subjektive Sicherheitsgefühl von Teilen der Bevölkerung zu erhöhen. Das potentielle Opfer erhält darin eine symbolische, repräsentative Funktion, dessen Erfahrung als All-Gemeingut instrumentalisiert werden kann.

Diskussion

Den Entstehungshintergrund des Labeling berücksichtigt, ist Kriminalisierung ein parteinehmender Begriff. Der Begriff deutet eine Hinwendung und Bezugnahme zu den "Schwächeren" der Gesellschaft hin. Er verweist auf einen Widerstand aus einer "ohnmächtigen Position" heraus und bezichtigt die Instanzen sozialer Kontrolle, bezüglich bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und bezogen auf das Verhalten bestimmter Personen, selektiv, unfair oder ungerecht zu urteilen. Es mutet aus dieser argumentativen Perspektive seltsam an, von einem Massenmörder, der vor Gericht gebracht wird, zu behaupten er sei kriminalisiert worden. In diesem Kontext ist das Wort Kriminalisierung nicht gebräulich. Wenn aber, "jegliche Typisierung des Handelns anderer Zuschreibungsergebnis" (Peters 1996, S.114) ist, dann müsste der Begriff der Kriminalisierung auch wertfrei für einen rechtsradikalen Gewalttäter gelten, denn auch dieser ist ein Ergebnis von Zuschreibungsprozessen.

Politik

Kriminalpolitik (Crime policy) bezeichnet den gesellschaftlichen Umgang mit Delikten und Delinquenz. In der Kriminalpolitik spielen Werte und Normgültigkeiten oder Strukturen, Institutionen und Instrumente der Kriminalitätsbekämpfung ebenso eine Rolle wie Kriminalstatistiken, die Umfang/Ausmaß von Kriminalität beschreiben. Kriminalpolitik verweist auf die Herstellung und Erhaltung von innerer Sicherheit im Staat.

Die "Politik (mit) der Kriminalität" ist nicht allein der staatlichen Kriminalpolitik unterstellt, sondern spiegelt sich überall dort wieder, wo gesamtgesellschaftlich argumentiert wird. In Medien berichtete Informationen werden häufig von Politik und Polizei aufgegriffen und in Handlungsbedarf umformuliert. Dabei können gegensätzliche Interessen auf allen gesellschaftlichen Ebenen deutlich werden. Hier ein Beispiel für eine Kriminalisierungsdebatte: Dem 1976 in Deutschland eingeführten Straftatbestand der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" (§129a StGB), wird von Kritikern „politische Zensur“ und „Kriminalisierung von Oppositionellen“ unterstellt. Bedeutsam, so die Gegner, sind die Paragrafen weniger für die Strafverfolgung. Sie dienten vielmehr der Überwachung, Kontrolle und Einschüchterung kritischer Bewegungen und Gruppen. Aus dieser Perspektive wird von einer Kriminalisierung von „Andersdenkenden“ gesprochen.

Moral

Die ethisch-moralische Auseinandersetzung einer Kriminalisierung von Handlungen und Subjekten deutet u.a. darauf hin, dass ein „Gut“ noch nicht (hinreichend) durch den Gesetzgeber geschützt ist oder dass der Gesetzgeber ein Rechtsgut schützt, das für bestimmte Akteure moralisch und ethisch nicht vertretbar ist. Beispielhaft sei hier die Debatte um die Stammzellenforschung in Deutschland genannt. 2002 hat der Bundestag das "Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen" verabschiedet. Damit ist die Einfuhr embryonaler Stammzellen aus dem Ausland unter bestimmten Prämissen entkriminalisiert: Für hochrangige Forschungsziele kann in Ausnahmefällen die Erlaubnis zum Import embryonaler Stammzellen erteilt werden, wenn u.a. die ethische Vertretbarkeit des Forschungsprojekts von der Zentralen Ethik-Kommission geprüft wurde. (Vgl. § 5 Nr. 1; § 8 StZG). (Ent-)Kriminalisierung wird hier ethischen Grundlagen unterworfen, die als Kriterien zur Beurteilung der Rechtslage dienen.

Literatur

Adorno, Theodor W. et al.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. 6. Aufl. Darmstadt 1978

Althoff, Martina/Leppelt Monika: „Kriminalität“ - eine diskursive Praxis. Spuren der Wirklichkeit Bd. 8, Münster-Hamburg 1995

Arbeitskreis Junger Kriminologen: Der Prozeß der Kriminalisierung. Untersuchungen zur Kriminalsoziologie. M 13 München 1973

Arbeitskreis Junger Kriminologen: Kritische Kriminologie. Positionen, Kontroversen und Perspektiven. M18, München 1974

Bayart, S, Ellis, B. Hibou, (1997) la criminalisation de l’État en Afrique, Bruxelles, Complexe

Becker, Peter: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen 2002

Boers, Klaus: Kriminalprävention und Kriminalpolitik mit der Kriminalitätsfurcht, NK 2/2001, S. 10ff.

Bussmann, Kai-D./Kreissel, Reinhard (Hg): Kritische Kriminologie in der Diskussion. Opladen 1996

Chadwick, Kathryn/Scraton, Phil.: Criminalization. In: Mc Laughlin, Eugene/Muncie, John: The Sage Dictionary of Criminology. London 2006, Seite 95

Cremer-Schäfer, Helga: Kriminalität und soziale Ungleichheit. Über die Funktion von Ideologie bei der Arbeit der Kategorisierung und Klassifikation von Menschen. In: Frehsee, Detlev et.al (Hg): Konstruktion der Wirklichkeit durch Kriminalität und Strafe. 1. Aufl. Baden Baden 1997, Seite 68-100

Currie, Elliott: Crime and Punishment in America. Metropolitan Books. New York 1998

Hess, Henner/Scheerer, Sebastian: Theorie der Kriminalität. In: Oberwitter, Karstedt (Hg): Soziologie der Kriminalität. Sonderheft 43 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Wiesbaden 2003, S. 69-92

Hess, Henner/J. Stehr: Die urspüngliche Erfindung des Verbrechens. In: Kriminologisches Journal 2. Beiheft, 1987, S.33-56

Kunz, Karl-Ludwig: Kriminologie. Eine Grundlegung. 4.Auflage Bern Stuttgart Wien 2004

Kreissl, Reinhard/Lüddersen, Klaus: Kritische Kriminologie und Strafbegründung. In: Arbeitskreis Junger Kriminolgen: Kriminologisches Journal (KrimJ) 38 Jg. Heft 1, Weinheim 2006, Seite 16-31

Kytzler, Bernhard: Morus, Thomas. In: Metzler: Philosophen Lexikon. Stuttgart 1995, S. 613

Lemert, E. M.: Primary and Secundary Deviation. In: Pontell, H.N. (D.): Social Deviance. Readings in Theory and Research. New Jersey, 1993 [1951]

Lemke, Thomas/ Krasmann, Susanne/ Bröckling, Ulrich: Gouvernementalität der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2000

Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang (Hg): Soziale Ungleichheit, Kriminalität und Kriminalisierung. Leske und Budrich, Opladen 2000

Marinis, Pablo de: Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaft. Pfaffenweiler 2000

Mc Laughlin, Eugene/Muncie, John: The Sage Dictionary of Criminology. London 2006

Marx, Karl/ Engels, Friedrich - Werke. Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin 1957, S. 109-147

Naucke, Wolfgang: Die Abhängigkeiten zwischen Kriminologie und Kriminalpolitik. In: Ders. Gesetzlichkeit und Kriminalpolitik. Abhandlungen zum Strafrecht und zum Strafprozessrecht. Frankfurt a.M. 1999, S. 96-118

Nitz, Gerhard/Gusy, Christoph: Vom Legitimationswandel staatlicher Sicherheitsfunktionen. In: Lange, Hans-Jürgen (Hg): Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland. Band 1 Opladen 2000, Seite 335-354

Peters, Helge: Als Partisanenwissenschaft ausgedient, als Theorie aber nicht sterblich: der labeling approach. In: Kriminologisches Journal 28, 1996/2, S. 107-115

Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000

Sack, Fritz: Definition von Kriminalität als politisches Handeln: Der labeling approach. In: Arbeitskreis Junger Kriminologen Kriminologisches Journal M18, München 1974 Seite 18-43

Sack, Fritz: Neue Perspektiven in der Kriminologie. In: Sack F., König R. (Hg): Kriminalsoziologie, Frankfurt a. M. 1968, Seite 431-476

Sack, Fritz: Prävention - ein alter Gedanke in neuem Gewand. In: Gössner (Hg.) 1995. S. 429-457

Spitzer, Steven: Towards a Marxian theory of deviance. Social Problems, 22, 1975, pp. 369-401

Waldmann, Peter: Zur Genese der Strafrechtsnorm. In: Kriminologisches Journal 2, 1979, S. 102-123

Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen (5. Aufl.) 1976

Wright, Georg H.: Erklären und Verstehen. Frankfurt a.M. 1974 (orig. Explanation and understanding, New York 1971)

Weblinks

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht: Forschungsprojekt "Recht – Norm – Kriminalisierung. Diskursive, ethische und rechtliche Zuschreibungen von Normverletzung": http://www.mpicc.de/ww/de/pub/forschung/forschungsarbeit/kriminologie/recht_norm_kriminalisierun.htm

Rheinische Zeitung Nr. 298 vom 25. Oktober 1842 zu finden unter: http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_109.htm (letzter Zugriff 23.12.2007)

Wikipedia der Begriff der Kriminalisierung in Englisch: http://en.wikipedia.org/wiki/Criminalisation


Siehe auch