Patentöchter. Im Schatten der RAF - ein Dialog

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Patentöchter: Im Schatten der RAF - ein Dialog. Buchcover: Kiepenheuer & Witsch

Patentöchter. Im Schatten der RAF - ein Dialog ist der Titel eines im März 2011 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buches und beinhaltet größtenteils eine Korrespondenz zwischen Julia Albrecht und Corinna Ponto zwischen 2007 und 2010. Auch Gesprächsnotizen und Zitate aus Briefen, Akten und anderen Dokumenten aus der von den beiden rekapitulierten Zeit werden in den Dialog miteingebunden.

Autoren

Julia Albrecht (geboren 1964), ist die Schwester des ehemaligen "Rote Armee Fraktion" (RAF)-Mitglieds Susanne Albrecht und die Patentochter des von Mitgliedern der RAF getöteten Jürgen Ponto (1923-1977). In den letzten 15 Jahren hat sie in Berlin, Jerusalem und San Francisco als Journalistin und Juristin gearbeitet und lebt heute mit ihrem Mann und ihren Kindern in Berlin.

Corinna Ponto (geboren 1957) ist die Tochter des verstorbenen Jürgen Ponto und die Patentochter von Hans-Christian Albrecht, dem Vater von Susanne und Julia Albrecht und Jugendfreund Jürgen Pontos. Nach dem Schauspiel- und Musikstudium in New York, Köln und Frankfurt arbeitete sie ab 1990 als Opernsängerin in verschiedenen Opernhäusern, etwa in Dessau, Schwerin und Erfurt. Seit 2011 ist sie als Nachfolgerin ihrer Mutter Inges Ponto im Kuratorium der Jürgen-Ponto-Stiftung zur Förderung junger Künstler tätig. Sie lebt heute in Süddeutschland. Corinna Ponto ist auch in dem Buch „Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus" der Politikwissenschaftlerin Anne Siemens vertreten, in dem Interviews mit den Angehörigen der Opfer der RAF-Attentate zu lesen sind.

Vorgeschichte

Am 30. Juli 1977 wurde Jürgen Ponto, damals Vorstandssprecher der Deutschen Bank, in seinem Haus in Oberursel (Taunus) von den RAF-Mitgliedern Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt erschossen. (Ausführlicher hierzu: Die Ermordung des Jürgen Ponto) Zugang zu dem Haus hatte ihnen Susanne Albrecht verschafft, die der Familie Ponto als Tochter des Freundes, dem Seerechtsanwalt Hans-Christian Albrecht, bekannt war. Die „Befreiungsbewegung“ Aktion Roter Morgen bekannte sich zu der Tat:

Erklärung vom 14.8.1977: Wir haben in einer Situation, in der Bundesanwaltschaft und Staatsschutz zum Massaker an den Gefangenen ausgeholt haben, nichts für lange Erklärungen übrig. Zu Ponto und den Schüssen, die ihn jetzt in Oberursel trafen, sagen wir, daß uns nicht klar genug war, daß diese Typen, die in der Dritten Welt Kriege auslösen und Völker ausrotten, vor der Gewalt, wenn sie ihnen im eigenen Haus gegenübertritt, fassungslos stehen.“ Susanne Albrecht aus einem Kommando der RAF (Hachmeister, 2004, S. 340)

Jürgen Pontos Ermordung stellte nach dem Attentat auf den Generalbundesanwalt Siegfried Buback (07. April 1977) einen weiteren Teil der sogenannten Offensive 77 dar, die das Ziel verfolgte inhaftierte RAF-Mitglieder aus den Gefängnissen zu befreien und mit dem Tod der Häftlinge Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis Stammheim am 18. Oktober 1977 endete. Später wurden Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar, Peter-Jürgen Boock, Sieglinde Hofmann und Susanne Albrecht wegen Mordes bzw. Beihilfe zum Mord an Jürgen Ponto verurteilt. Susanne Albrecht saß die am 3. Juni 1991 verhängte zwölfjährige Freiheitsstrafe zu einem Teil ab und arbeitet heute unter anderem Namen als Lehrerin für einen freien Träger der Stadt Bremen.

Entstehung des Buches

Nach dem Mord an Jürgen Ponto war der Kontakt zwischen den einst befreundeten Familien durchbrochen. 30 Jahre danach nimmt Julia Albrecht Kontakt zu Corinna Ponto auf, nachdem sie einen Beitrag in einem Buch gelesen hatte, in dem diese sich mit dem Mord an ihrem Vater beschäftigte und indirekt „in unsere Richtung – also in die Richtung meiner Familie – reflektierte. Das war für mich, als ob sie mich angesprochen hätte“. (Julia Albrecht im Interview mit SWR2 Journal, 11. März 2011) Ein Briefwechsel beginnt und auch erste Begegnungen finden statt, woraufhin die beiden Frauen beschließen aus ihrem Dialog ein Buch zu verfassen.

Im Fokus des Buches stehen die Geschichte der RAF und ihrer Mitglieder, das Attentat auf Ponto selbst und der Umgang der Autorinnen und ihres Umfelds mit der Tat. In dem Dialog zwischen der Tochter des Opfers und der Schwester der Täterin werden Fragen nach Schuld und den Hintergründen der Täterschaft, nach den Möglichkeiten von Aufarbeitung und Versöhnung gestellt und nach möglichen Antworten gesucht, wobei ein subjektives Bild der Geschehnisse entsteht:

Täter und Opfer der RAF - der erste Dialog von Angehörigen beider Seiten. Beschrieben wird eine Tragödie, die nicht Fiktion ist, sondern reale Geschichte.“ (S.8)

Inhalt

Der Klappentext des Buches lautet: „Ein bewegendes Buch aus der Sicht von zwei Frauen, deren Familien einst eng miteinander verbunden waren und die durch den Mord an Jürgen Ponto auseinandergerissen worden sind. Die Autorinnen werfen einen neuen Blick auf die - bis heute hauptsächlich von Außenstehenden gedeutete - Geschichte der RAF, die Rolle der Täter und die Wunden, die ihre Taten geschlagen haben.“

Das Buch ist in 35 relativ kurze Kapitel gegliedert, in denen Julia Albrechts und Corinna Pontos Briefe, Gedanken und Notizen im wechselseitigen Austausch miteinander stehen.

Detaillierter Inhalt

Wie eine Stimme aus einer anderen Welt - Im ersten Abschnitt des Buches beschreibt Julia Albrecht die Situation, in der sie beschließt Corinna Ponto zu schreiben. Sie hatte sich fortlaufend mit den Folgen der Tat ihrer Schwester beschäftigt, sprach oft mit Ihrer Mutter über die für sie quälende Frage „Wie hatte das geschehen können“. „Es war für mich eine innere Notwendigkeit Corinna zu schreiben“, sagt Albrecht (S. 10). Das versucht sie auch in ihrem ersten Brief an Ponto zum Ausdruck zu bringen, in dem sie zwar versucht zu erklären, wie sie die Situation wahrgenommen hat, jedoch ohne das Anliegen „etwas zurechtzurücken oder zu verteidigen. Die schreckliche Tat meiner Schwester ist mir zutiefst fremd.“ (S. 11) Die beiden einigen sich auf einen Briefwechsel, dann auf ein erstes Treffen. Wenn Albrecht die erste Antwort Pontos und das erste Treffen freudig beschreibt, räumt sie Scham- und Schuldgefühle ein, sie fühlt sich als "Angehörige einer Täterin, die der Angehörigen des Opfers begegnet". (S. 14)

Auf einer Bank am Pariser Platz - Corinna Ponto erzählt von der ersten Begegnung hier - „da trafen wir uns, zwei Pole einer politischen Geschichte, die die Bundesrepublik auf’s Äußerste gefordert hat (...)“ (S. 16)– und berichtet von der Erfahrung des (Mit-)Teilens der Erinnerungen.

Eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert - Nachdem der Leser den ersten Kontakt der beiden Frauen mitbekommen hat, wenden sich die Erzählungen der beiden Autorinnen den vergangenen Ereignissen und ihrer Aufarbeitung zu.

Der 30. Juli - Corinna Ponto erzählt von ihrer Familie und lässt ihre Mutter zu Wort kommen, indem sie deren Erinnerungen an den 30. Juli 1977 an Julia Albrecht schreibt, die bestürzt reagiert.

Der erste Tag der Sommerferien - ... war der 30. Juli 1977 für Julia Albrecht. Sie beschreibt ihre Wahrnehmung von diesem Tag und zitiert aus dem Vernehmungsprotokoll ihrer Schwester vom 16. April 1990. „Es gab kein Gerangel. Die tödlichen Schüsse waren also völlig unnötig.“ (S. 30) Julia macht zunächst ihre Eltern für das "moralische Versagen" ihrer Schwester verantwortlich und beschreibt ihr Gefühl der Angst, "Nichtexistenz" und des unartikulierten Schmerzes über den Verlust der Schwester (S. 31). Corinnas Antwort weist auf den von ihr empfundenen Unterschied zwischen gewaltlos Gestorbenen und Opfern von Terror, Mord und Attentaten hin. „Das Opfer wird gebeugt und damit auch das Bild des gelebten Lebens.“ Susanne Albrechts Aussagen vor Gericht beschreibt sie als „beachtlich ungenau.“ (S. 33)

It’s over – die Nachricht – Der nächste Brief von Corinna Ponto wirft einen Blick zurück auf die Meldung des Tods ihres Vaters. „Meine Mutter rief mich an und erklärte mir: „Es war Mord.“ (...) Und weißt Du wer es war? „Susanne. (...)Ein terroristischer Akt“.“ (S.36)

Zu Hause gab es nicht mehr

Meine Schwester war aus der Welt gefallen - Julia Albrecht nimmt das später wiederkehrende Thema auf, dass ihre Familie kaum im Stande war, das Vorgefallene zu reflektieren und ob sie die Wandlung ihrer Tochter bzw. Schwester nicht hätten früher bemerken können. Außerdem erzählt sie: „Bis zu ihrer Festnahme 13 Jahre später hat meine Familie nicht gewusst, was aus Susanne geworden war. Nach der Tat war meine Schwester eine Gejagte. Die ganze Welt schien sie zu suchen. (...) Die Tat galt als besonders verwerflich. Die Niedertracht des Verrats an der befreundeten Familie stand im Zentrum. Das war nicht meine Perspektive. Ich vermisste sie. Ich sehnte mich nach ihr und nach einer Erklärung, was passiert war.“ (S.42f)

„Fort aus diesem kranken Land!“ - Die Familie Ponto zieht nach dem Attentat in die USA, der Kontakt zu Albrechts bricht ab.

Das Schweigen - Die beiden Autorinnen berichten sich gegenseitig von der Empfindung der direkten Zeit nach der Tat und geben wieder, wie sie die Gefühle der jeweiligen Angehörigen empfunden haben. Julia Albrecht erzählt von der Stigmatisierung als Susannes Schwester und der damit verbundenen Unmöglichkeit in ihrer Jugend „über die Tat oder meine Schwester zu sprechen“ (S. 60)

Ponto am Markt – Im folgenden Abschnitt wird die Vorgeschichte der Tat, die Freundschaft der beiden Eltern und die Erinnerungen der beiden Autorinnen an die jeweils andere Familie und die jeweiligen Patenonkel behandelt.

Nachwirkungen des Krieges – Man erfährt, dass Hans-Christian Albrecht 1992 an seinen toten Freund geschrieben hat und von der Beziehung der Eltern zu Susanne Albrecht.

Drei Besuche – Susanne Albrecht war bereits Gast im Hause Ponto gewesen. Corinna Ponto schildert ihre Erinnerungen an diese Begegnungen.

Das „Verzweiflungsspiel“ – Julia Albrecht versucht anhand von Dokumenten die "Radikalisierung" ihrer Schwester nachzuzeichnen und will dabei herauszustellen, was ihre Eltern über die Wandlung ihrer Schwester wissen konnten. Sie zitiert dabei aus Briefen von Hans-Christian Albrecht an seine Tochter im Jahr 1976 („Du willst allenfalls die Welt verbessern und Dir ist bisher nichts eingefallen als Sie zu zerstören“) und an den verstorbenen Ponto im Jahr 1992, in denen er sich mit Fragen über Verantwortung und Schuld auseinandersetzt.

Das Bekennerschreiben – ...vom 14. August 1977 von Susanne Albrecht (s.o.) führt Julia Albrecht die "radikale Überzeugungstäterschaft" ihrer Schwester vor Augen. Corinna Ponto berichtet in ihren Briefen von Unstimmigkeiten der Zeitungsartikel über das Verhältnis zwischen ihr und Susanne und setzt ihre Nachforschungen über die Hintergründe von Flugblättern der RAF zu dieser Zeit in Bezug zu den vermeintlichen Stammheim-Selbstmorden.

Es war, wie es war – Julia Albrecht sucht Antworten auf die Frage wie es zu einem Freisprechen von Schuld in Susannes Umfeld kommen konnte.

Amerika – Corinna Ponto berichtet von dem Umzug der Familie Ponto nach Amerika und von ihrer Wahrnehmung der Sicherheitsvorkehrungen dort. Die Erinnerungen an die Ereignisse holen sie auch dort ein, wenn sie von der Schleyer-Entführung und dem Deutschen Herbst hört. Sie sagt, sie empfindet den Mord an ihrem Vater als Raubmord am eigenen Leben.

„Weil alle am gleichen Ereignis hängen“ – Die Autorinnen zitieren aus der Korrespondenz zwischen Jürgen Pontos Frau Inges und Hans-Christan Albrecht nach der Tat (der Kontakt hält bis November 1977), in der das Bedauern nicht „gemeinsam zu trauern, „einander (...) trösten““ zu können, deutlich wird. (S. 105)

Das Blau des Meeres und das Rot der Fahnen – Corinna Ponto bringt im Folgenden wiederholt ihr Unverständnis über die schwere Suche nach Helfern und Hintermännern der RAF zum Ausdruck.

Friedhofsruhe - Corinna Ponto beschreibt ihr Gefühl als Opferangehörige in einem RAF-Prozess, in dem die Zuschauer sich auf die Seite der Angeklagten stellen.

Wer führte Regie? – Corinna Ponto bringt im Folgenden ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass die - ihrer Meinung nach - deutliche Zusammenarbeit zwischen den Rote Brigaden und der RAF und die Rolle der Geheimdienste zu dieser Zeit, die die „militante Linksradikale jahrzehntelang vor allem in Ost- aber auch in Westeuropa ausgebildet, ausgerüstet, unterstützt und kontrolliert“ hatten, weiter nachverfolgt werden würden. „Es erscheint sogar denkbar, dass die Dienste beider Seiten gemeinsame Sache gemacht haben“, meint sie. (S. 118) Weiterhin bezieht sich Corinna Ponto, wie später erneut, auf den Film "Der Baader Meinhof Komplex" von Stefan Aust und Bernd Eichinger und auf das Zitat „Die Opfer sind nicht so interessant, weil sie aus normalem Leben herausgerissen wurden“. Sie stellt fest, dass die komplette Wahrheit über die dritte Generation der RAF noch nicht abgeschlossen sei, und viele Zusammenhänge und Informationsweitergaben unklar blieben, denn „dahinter führten andere Regie" (S. 121).

„Hast Du schon Nachrichten gehört?“ – Julia Albrecht berichtet von dem Glücksgefühl der Tage im Jahr 1990 nachdem die „gesuchte RAF-Terroristin Susanne Albrecht in Berlin-Mahrzahn gefasst“ worden war und dem ersten Gefängnisbesuch, bei dem die Schwester ihr mitteilt, sie vergessen zu haben. Sie und ihre Eltern versuchten zu realisieren, dass die Tochter „nicht um Verzeihung bitten wird.“ (S. 123f)

„Endlich allein mit meinem Schmerz“

Hoffnungen und Illusionen - In diesem Abschnitt spannt sich der Bogen zu Julia Albrechts eingehenden Bemerkungen über die Täterschaft ihrer Schwester und den Konsens in der Familie, dass sie nicht aus freien Stücken gehandelt haben konnte, da die Familie die Fakten nicht wahrhaben wollte.

Der Prozess April 1991 - Julia Albrecht zitiert aus den Aussagen von Susanne Albrecht vor Gericht, die sie versucht hat genau mitzuschreiben. Sie glaubte ihrer Schwester die Zerrissenheit zwischen dem das Attentat wollen, weil sie „hinter der Sache stand und (es) eben nicht wollen“ (S.142). Susanne Albrecht gibt an, sie habe einerseits ausgeblendet, dass es um Menschenleben gehe, andererseits ihre Beteiligung als Schutztat umgedeutet, um „das Schlimmste zu verhindern, weswegen ich mich an den weiteren Vorbereitungen beteiligt habe.“ Nun wolle sie „den Mythos der RAF weiter erschüttern“. Sie tritt laut Julia Albrecht nicht als „das Monster, sondern (als) eine reuige Exterroristin“ auf. (S. 146ff) Julia Albrecht spricht auch den von ihr so genannten Opfermythos der Täter an, der eine „Ideologie, die meint sich über allgemein anerkannte Werte stellen zu dürfen“ zugrunde liegt (S. 152).

Der Raum der eigenen Geschichte – Was für die anderen Grund zur Freude war: Die Freilassung von Christian Klar führte bei Corinna Ponto zu Angstgefühlen.

Was empfinden Sie bei der Freilassung von Brigitte Mohnhaupt – Corinna Ponto erzählt von einem „denkwürdigen Vorschlag einer Schweizerisch-Berliner Theatergruppe. (...) Diese bar jeder Empathie fantasierende Truppe stellte sich eine gemeinsame Wanderung mit der freigelassenen Brigitte Mohnhaupt vor, die vom Bahnhof Briesen in Brandenburg zu dem in der Nähe gelegenen ehemaligen Stasi-Unterschlupf gehen sollte, wo die in die DDR übergesiedelten RAF-Mitglieder zunächst untergebracht wären. (...) In welchem Land der Welt kann man solch einen Vorschlag erhalten?“ (S. 157)

Gewalt und Wahn - Da die ehemaligen RAF-Mitglieder sich nicht für die Aufklärung einsetzen, verbindet Julia Albrecht sie noch immer mit Angst und Gewalt. Dass die Gruppenideologie der RAF von allen geplant und von allen gewollt gewesen sei sieht sie in der Aussage ihrer Schwester vor Gericht nicht bestätigt: Es sei „eine stalinistisch organisierte Organisation gewesen“. „Das Verdecken der Tatsachen und sich an der Realität vorbeilügen entspricht auch dem Inhalt der gesamten Politik“ (S. 166f). Was Julia Albrecht nicht versteht ist, warum ehemalige RAF-Mitglieder die aktive Aufarbeitung ihrer Geschichte verweigern, nachdem sie die fehlende Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen angeklagt hatten.

Im deutschen historischen Museum - Den zuvor von Julia Albrecht angesprochenen Punkt nimmt auch Corinna Ponto auf: „Statt Aufarbeitung ist bis heute Mythenbildung angesagt“, meint sie (S. 168). „Hier geht es nicht um ein paar unaufgeklärte Kriminalfälle sondern um das Tableau einer ganzen unaufgeklärten Zeit“ (S.169)

Die Spur führt zur Stasi – Corinna Ponto berichtet von ihrer Durchsicht der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit über RAF-Angehörige. Im Zuge dessen zeigt sie „Operativgeldabrechnungen“ und Lagemeldungen des LKA und versucht Unstimmigkeiten hinter dem „Tarnkomplex“ herauszufiltern. Sie ist sich sicher dass die RAF-Geschichte bislang nur annähernd vollständig erzählt wurde.

Der Ost-West-Komplex – Corinna Ponto bezeichnet in diesem Abschnitt die RAF als „nationalen Vorläufer des internationalen Terrorismus“ in einem international vernetzten Ost-West-Komplex (S.191)

Die Wahrheit der Hundertstelsekunde - Den Film Der Baader-Meinhof-Komplex nennt Corinna Ponto "geschichtsfalsch", bis auf die Aussage „Wir haben gute Kontakte“ von Horst Mahler zu Andreas Baader in Rom. Vor allem die Situation des Attentats auf ihren Vaters sieht sie verfälscht. Ponto beklagt die „Charakter- und Rollenstudien der Terroristen“ einerseits und die „klischee- karikaturnahen Opferdarstellungen“ (S. 194) andererseits.

Das Schweigen durchbrechen – In einem späteren Brief an Ponto schreibt Julia Albrecht abschließend: „Ich kann nicht anklagen wie Du, ich bin ja ein Teil der Familie“. Sie gibt zu, sich vor dem Projekt der beiden zu fürchten, und versucht Corinna zu erklären warum sie meint, dass die Täter mehr Aufmerksamkeit bekommen als die Opfer, bis sich ihre Kinder daran machen Ursachen und Folgen der „todbringenden Ideologie“ aufzuarbeiten. (S. 197f)

Fragen, die sich sonst noch stellen – Im vorletzten Abschnitt des Buches findet der Leser 15 von Julia Albrecht formulierte Fragen, wie etwa „Kann man eine terroristische Tat als ein privat zu bearbeitendes Problem behandeln oder soll man es öffentlich aufarbeiten?“ (S. 200). Die Fragen behandeln vor allem die Themen Familie und Wahrheit, Versöhnung und Schuld.

Eine Geschichte – zwei Stimmen – ...war der erste Arbeitstitel des Projekts und ist die Überschrift des letzten Kapitels. Ponto sagt, ihr hat der Kontakt zu Julia Albrecht geholfen: „Wir sind in die Innenräume der Tat und auch in unsere eigenen Innenräume gegangen“ (S. 202) Sie gibt sich zuversichtlich, dass die „Kraft der Vertuschung und Unwahrheiten (...) viel kurzatmiger“ ist, „als die Energie der Wahrheit“ (S.204)

Im Anhang des Buches findet sich eine Zeittafel vom 2.April 1986 (Kaufhaus-Brand in Frankfurt als Protest gegen den Vietnam-Krieg) bis zum 30.September 2010 (Beginn eines erneuten Prozesses gegen Verena Becker im Zusammenhang mit der Ermordung von Siegfried Buback) und ein Personenregister.

Rezeption

Anders als etwa bei den Büchern „Das Projektil sind wir“ oder „RAF – Das war für uns Befreiung“, bei denen ehemalige RAF-Mitglieder Stellung nehmen, stehen bei diesem Buch nicht die Schilderungen und Erklärungen dieser im Vordergrund, sondern die Gefühle und Sichtweisen der Angehörigen – der Opfer und Täter. Sachliche Beschreibungen weichen meist den damit verbundenen Gefühlsbeschreibungen, es geht weniger um neue Erkenntnisse zu Hintergründen der RAF-Taten als um eine Ausleuchtung der Opferebene auf beiden Seiten. So schließt "das Buch wohl keine Wissenslücken über Strukturen, Motive und Hintergründe der RAF. Das Buch individualisiert die Geschehnisse jedoch, da beide Autorinnen ihre Gedanken offenlegen, was die ihrer Meinung nach fehlende Aufarbeitung der RAF-Zeit betrifft. Die Dialogform zeigt trotz zeitlicher Sprünge gelungen beide Sichtweisen, die miteinander verknüpft werden. Beide Frauen haben einen unterschiedlichen Stil, der den Dialog glaubhaft macht und der dabei hilft, die verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Pressestimmen

Pierke Baumann vergleicht das Buch in einer umfassenden Besprechung bei Deutschlandradio Kultur mit einem rohen Ei: „Zerbrechlich, von der ersten Idee an vorsichtig angefasst und durch die Jahre seiner Entstehung gebracht von zwei Frauen, die selbst zutiefst verletzt sind. Und zwar durch dieselbe Tat. (...) Aber es ist nicht nur so zerbrechlich wie das sprichwörtliche rohe Ei, sondern auch so nahrhaft - für den weiteren geistigen Stoffwechsel eines noch immer unverdauten Kapitels unserer jüngeren Geschichte.“ (Allgegenwärtige Fahndungsbilder: Pierke Baumann, Deutschlandradio Kultur) In einem Beitrag des Bayrischen Rundfunks heißt es: "Das Projekt der “Patentöchter” ist nicht nur privat, es ist hochpolitisch. Und es zeigt, dass die Auseinandersetzung mit dem RAF-Terror noch lange nicht abgeschlossen werden kann." Auch Wolfgang Kraushaar (Welt online) nennt das Buch ein „ungewöhnliches Dokument“, da es "die Kluft zwischen Angehörigen, die der Opfer- wie der Täterseite zuzurechnen sind, zum Ausgangspunkt einer ebenso spannungsgeladenen wie vielschichtigen Kommunikation macht. Der Leser wird zum Zeugen eines Prozesses, in dem zwei Frauen um die Zurückgewinnung der Sprache ringen. Immer wieder ist es eine Gratwanderung, die sie unternehmen müssen, um nicht selbst in den zwischen ihren Familien klaffenden moralischen Abgrund gerissen zu werden." Kraushaar: Wie ein Mord der RAF zwei Familien zerstört hat Regine Igel äußert sich in der Frankfurter Rundschau zu den von Corinna Ponto angesprochenen unbekannten Helfern im Hintergrund: "Sie kommt 'versteckten Geschichten' auf die Spur: 'Wie waren überhaupt die vielen Reisen und Grenzübergänge möglich?' Das erforderte schließlich 'viele unbekannte Mitarbeiter und jede Menge gut gefälschter Papiere.' BKA-Präsident Horst Herold sprach nach dem Anschlag auf Jürgen Ponto von einem beteiligten Netzwerk von etwa 40 Helfershelfern. Doch dies sei nie aufgeklärt worden. Stattdessen pflege man bis heute den 'Einzeltäter- oder kleine Gruppemythos'. Ist man den Reisen der in der DDR angeblich aus dem Terrorismus ausgestiegenen Susanne Albrecht eigentlich einmal nachgegangen?" (Regine Igel "Nach der Schockstarre" in der Frankfurter Rundschau)

Anliegen der Autorinnen

Den beiden Autorinnen scheint die Änderung des Status Quo der RAF-Aufarbeitung jedenfalls am Herzen zu liegen:

"Es ist doch völlig irrsinnig: Wir leben in einer umfassenden Informationsgesellschaft - noch nie zuvor waren wir medial derart mit Informationen versorgt wie heute. Und doch ringen wir, nach endlosen Publikationen und Talkrunden, nach Worten und Definitionen. Die Mythenbildung und die Form der Mythen haben den Blick auf das Wesentliche verstellt. Nur so kann ich mir das erklären. Es muss einen Grund für diesen dauerhaften Nebelzustand geben, denn die Grundformeln, die Grundaufklärungen sind erschütternd simpel." (Corinna Ponto in der FAZ zur „RAF Mythisierung“)

Auch Julia Albrecht hofft, dass ihr Projekt vielleicht einen Denkanstoß gibt: „Vielleicht wird auch noch mal gesellschaftlich die Frage aufgeworfen, in welcher Form man dieses Thema, das bis heute gärt, weiterbearbeiten kann." (Julia Albrecht im SWR2 Journal Interview)

Literatur

  • Albrecht, Susanne & Ponto, Corinna (2011): Patentöchter. Im Schatten der RAF - ein Dialog. 2. Auflage, Köln: Kiepenheuer & Witsch
  • Buback, Michael (2008): Der zweite Tod meines Vaters. München: Droemer Knaur
  • Hachmeister, Lutz (2004): Schleyer. Eine deutsche Geschichte. München: C.H. Beck
  • Holderberg, Andrea (2007): Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit. Gießen: Psychosozial-Verlag
  • Siemers, Anne (2007): Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus. 4. Auflage, München: Piper

Weblinks