Das Projektil sind wir

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"Das Projektil sind wir" ist der Titel eines 2007 bei edition nautilus erschienenen Buches. Inhalt ist ein Gespräch der Journalist_innen Tina Petersen und Christoph Twickel mit Karl-Heinz Dellwo.

Beteiligte Personen

Karl-Heinz Dellwo

Karl-Heinz Dellwo, geboren 1952 in Opladen (heute Leverkusen), war u.a. kaufmännischer Lehrling, Seemann und Aushilfsfahrer. Mit seinem Freund, dem Elektrikerlehrling Stefan Wisniewski ging Dellwo 1971 nach Hamburg, von wo beide einige Monate lang zur See fuhren. Danach besuchten beide die Abendschule am Holstentor (Karolinenviertel) und arbeiteten bei der Post (bis Februar 1973). Aktivitäten in der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) und die Beteiligung an der ersten Hausbesetzung in Hamburg (Ekhofstraße) folgten. Gegen Dellwo, der rund 10 Tage vor der Räumung des Hauses verhaftet wurde, strengte die Staatsanwaltschaft ein Verfahren an. Der Vorwurf lautete zunächst auf versuchten Totschlag, wurde dann aber erheblich herabgestuft (Landfriedensbruch). Dem schloss sich eine erneute Verhaftung im Zuge der polizeilichen Räumung des besetzten Hauses an und erst 1974 , also nach einem Jahr wurde Dellwo aus der Untersuchungshaft entlassen.

Am 25. April 1975 beteiligte er sich an der Aktion des Kommando Holger Meins bei der zwei Botschaftsmitglieder getötet wurden (Andreas von Mirbach, Heinz Hillegaart). Zwei Mitglieder des Kommandos (Ulrich Wessel und Siegfried Hausner) zogen sich bei der unbeabsichtigten Detonation eines von ihnen präparierten Sprengsatzes schwerste Verletzungen zu, an denen sie später starben. Die vier überlebenden Kommandomitglieder (Karl-Heinz Dellwo, Hanna Krabbe, Bernd Rössner und Lutz Taufer) wurden verhaftet und am 20.07.1977 zu zweimal lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Nach dem Scheitern dieser Aktion verbrachte Dellwo 20 Jahre im Gefängnis, zuletzt in Celle. Eine schriftliche Erklärung Dellwos, die bei der Festnahme des RAF-Mitglieds Stefan Wisniewski in Paris gefunden wurde und in der Dellwo die Entführung des Passagierflugzeuges "Landshut" kritisierte, wurde vom niedersächsischen Verfassungsschutz als fingierter Beweis in der Affäre um das sogenannte Celler Loch missbraucht.

1995 wurde er aus der Haft entlassen. Danach arbeitete er in Hamburg in einer Computerfirma und gründete die Filmgesellschaft BellaStoria, sowie den LAIKA-Verlag. Sein Bruder Hans-Joachim Dellwo war ebenfalls RAF-Mitglied.

Christoph Twickel und Tina Petersen

Christoph Twickel, geb. 1966, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als freier Autor unter anderem für die tageszeitung, die Frankfurter Rundschau, die Frankfurter Sonntagszeitung, Brand Eins oder das Greenpeace Magazin. Von 1999 bis 2003 war er Redaktionsleiter und Chefredakteur der Stadtzeitschrift Szene Hamburg. 2006 veröffentlichte er bei der Edition Nautilus das Buch „Hugo Chávez. Eine Biographie“, im selben Verlag gab er 2003 „Läden, Schuppen, Kaschemmen. Eine Hamburger Popkulturgeschichte" heraus. Im Jahre 2005 schrieb er für das Thalia-Theater das Stück "Hinter Euren Zäunen" über Fan-Kultur. Im September 2010 ist sein Buch "Gentrifidingsbums oder Eine Stadt für Alle" erschienen. Zuletzt hat Twickel die Hamburger »Recht auf Stadt«-Bewegung als Journalist begleitet und ist als Mitinitiator und Sprecher von »Not In Our Name, Marke Hamburg« zu einem ihrer Protagonisten geworden.

Tina Petersen ist freie Journalistin und lebt in Hamburg.

Inhalte

Das Buch untergliedert sich in fünf Kapitel, sowie einen Prolog, einen Epilog und ein Nachwort von Twickel und Petersen.

Prolog

Im Prolog schildert Dellwo, wie am 24.April 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm von ihm und anderen "nicht unerheblich bewaffneten"(S. 5) Mitgliedern der RAF gestürmt wurde. Laut Dellwo war die Aktion mit der Hoffnung verbunden, "damit einen neuen kollektiven Anfang im revolutionären Kampf zu setzen.’’" (S. 5). Dabei hatte sich Dellwo sich "andere Aktionen als eine Botschaftsbesetzung vorgestellt" und diese zuerst kritisiert, seine Kritik dann aber verworfen (S. 10). Die Geschehnisse beurteilt er folgendermaßen:

"Die Erschießung der Attachés macht uns unzweideutig schuldig. Unsere Härte war nicht alternativlos. Dass wir zu anderen Handlungsmöglichkeiten nicht in der Lage warben, zeigt, dass wir die Eindeutigkeit und Kompromisslosigkeit im Militärischen und nicht im Politischen gesucht haben. Die schwedische Regierung war mit die einzige, die mit dem Verhandlungsangebot über einen Abzug noch eine politische Ebene suchte." (S. 12).

In einem eingefügten Rückblick wird die Jugend Dellwos und sein Weg in die RAF geschildert. Dabei betont er, dass "die individuelle Lebensgeschichte, so sehr sie auch die unterschiedlichen Prägungen der Personen erklärt, nicht die RAF erklärt und ebenso nicht, dass ein großer Teil einer Generation die Integration in das Bestehende verweigerte und andere gesellschaftliche Verhältnisse wollte." (S. 7). Angesichts der Befreiungsbewegungen weltweit und dem Tod von Benno Ohnesorg wurde "die Waffe ein Mittel der Befreiung". (S. 8). Allerdings erklärt er:

"Es rechtfertigt uns nicht, aber wir waren die Schwächeren und wir haben das Prinzip, dass in diesem Kampf das Leben nicht das höchste Gut ist, auch auf uns selbst angewandt. Ich bedauere seit langer Zeit den Tod der Botschaftsangehörigen und meine Verantwortlichkeit dafür. In der Geiselerschießung äußert sich eine abzulehnende, völlige Verdinglichung des Menschen. Keine Gegengesellschaft kann so aufgebaut werden. Ich hadere nicht damit, dass wir dafür einen hohen Preis bezahlt haben. Ich möchte nicht einfach so davongekommen sein. (...) Die Aktionen der RAF (...) finde ich auch heute noch legitim." (S. 12f.)

Kraterlandschaften. Kindheit und Jugend in der Provinz

im 1.Kapitel berichtet Dellwo von seiner Kindheit und Jugend. Die Zeit war geprägt von vielen Umzügen und dem Mangel der Familie an Geld. Sein Vater wird als dominant beschrieben, seine Mutter als aufopfernd für die Familie und herzlich zu den Kindern. Dellwo war eins von sechs Kindern. Sein Vater machte aus seinem Hass auf Nazis keinen Hehl, was manche Lehrer und Nachbarn an den Kindern ausließen und sie schikanierten. Die weitere Jugend wird geschildert als sehr geprägt von einem diffusen und unbestimmten Ausbruchsbedürfnis:

"Die Normalität, in der man sich anpassen sollte, war einfach nicht aushaltbar. Ein Ausweg aber war nicht gefunden." (S. 50)
"Im Kreis Freudenstadt gab es keinen Klassenkampf. (...) Es war Baden-Württemberg, das Leben als Zeitrahmen zum Aufbau von Kleinbesitz. (. . .) Wir wollten aber etwas erleben, hatten ein unbestimmtes Bedürfnis nach Radikalität, sicher mehr als es in der Adoleszenz üblich ist, aber nicht das politische Bewusstsein, daraus etwas Organisiertes zu machen. Es war ja niemand da, von dem man etwas hätte lernen können. Der Protest hat sich auf andere Weise geäußert: Einer fuhr sich mit dem Motorrad tot. Ein anderer wurde später an der spanisch-französischen Grenze erstochen, angeblich im Streit um einen Haschisch-Transport. Wiederum ein anderer ist Fluchthelfer für DDR-Bürger geworden und saß dort lange im Gefängnis. Diese Wege sind sehr unterschiedlich, zeugen aber davon, sich nicht in die Normalität einfügen zu wollen." (S. 48)

Als sein Chef von ihm verlangte, dass er sich die Haare schneiden müsse, um zum Betrieb zu passen, machte sich Dellwo auf nach Hamburg.

Kein Abwarten. Von Hamburg aus in die RAF

Das 2.Kapitel schildert Dellwos Zeit in Hamburg. Zunächst fährt er zur See, kommt aber desillusioniert zurück und schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch.Nach wie vor ist das Motiv des "Terror des Normalen um uns herum" (S. 59) sehr präsent. Seine Beschreibungen erinnern stellenweise an das Anomie-Modell von Robert K. Merton, etwa, wenn Dellwo ausführt:

"Es gab ja eigentlich nur drei Möglichkeiten: Sich anzupassen, sich auf kriminellem Wege Mittel zu beschaffen, die einen vom Arbeitszwang befreien oder aber im Politischen vorzumarschieren und eine Gegenposition aufzubauen. Sonst konnte man ja nicht leben." (S. 60)

Dellwo las "atemlos" "Das Konzept Stadtguerilla" und begeisterte sich für den Gedanken, dass man einfach selbst etwas gegen die Umstände tun müsse, statt andere zu agitieren:

"Du nimmst die Sache selber in die Hand und sagst für dich: Wenn es richtig ist, mache ich das. Und ich fange nicht erst damit an, wenn ich den, den und den auch noch überzeugt habe. (...) Wenn ich erst andere anschieben muss, bevor ich etwas mache, schiebe ich doch nur denen die Verantwortung für meinen Zweifel zu. (...) Warum mache ich nicht einfach was, und zeige den anderen so, was meine Antwort darauf ist? Dieser Gedanke entsprach mir sehr." (S. 64f.)

1973 hat Dellwo an einer Hausbesetzung in Hamburg teilgenommen, woraufhin er fast ein Jahr in Untersuchungshaft saß. Neben dieser Hafterfahrung, berichtet er, haben ihn zwei Ereignisse dieser Zeit sehr geprägt: Zum Einen der Putsch gegen die gewählte sozialistische Regierung in Chile und die Tötung von Allende. Zum Anderen die Tötung eines

"gewissen Gonzales am Steindamm in Hamburg. Das war ein armer Kerl aus Südamerika, der eine Bank überfallen hatte. Die Sache ging schief und er nahm eine Geisel, um wegzukommen. Nachdem die Polizei ihm zugesichert hatte, er könne verschinden, kam er mit 50 000 Mark und der Geisel aus der Bank. Und hinter der Tür wartete schon ein MEKler, um ihn per Kopfschuss zu erledigen. Ohne Skrupel. (...) Sie hätten ihn genauso gut laufen lassen können und ihn später verhaften. Und wenn nicht, dann wären eben 50 000 Mark weg gewesen. Mich hat das sehr beschäftigt: Wer gegen die Eigentumsverhältnisse verstößt, der ist 'lebensunwert'. Und für's MEK galt: "Natürlich kann geschossen werden." (S. 91f.)

Später arbeitete Dellwo in einem der "Komitees gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD". Als Holger Meins starb, gingen einige aus diesen Komitees in die RAF, so auch Dellwo.

Flucht nach vorn. Von Stockholm nach Mogadischu

Im 3. Kapitel werden die Geschehnisse rund um die Botschaftsbesetzung in Stockholm und die Zeit danach geschildert. Dellwo bedauert die Tat, verweigert sich aber der Frage nach Reue:

"Reue" ist medial doch nur ein Maßstab, an dem die Unterwerfung gemessen wird. Dieser Inszenierung muss man sich verweigern. Niemand von denen hat ein Interesse an einem Begriff über die Zeit und den Konflikt. In allen ehemaligen faschistischen Staaten sind bewaffnete Gruppen in der Zeit nach '68 entstanden. Da muss man sich doch einmal fragen, warum. Von den Politikern werden die Toten doch nur instrumentalisiert, um damit eine Reflexion zu tabuisieren. Ich bin nicht bereit, dem zu entsprechen." (S. 122)

Nach folgend kommentiert Dellwo einige der Texte, die von der RAF in dieser Zeit geschrieben wurden, speziell Texte von Ulrike Meinhof:

"Sie [Meinhof] vertrat nach wie vor eine Strategie, die sich auf die Klassenkampflinien im Innern bezog. Man kann das vielen ihrer Texte entnehmen, die sich auf 'das Volk' beziehen. Gerade auch denen, mit denen die Linke heute zu Recht Schwierigkeiten hat, wie zum Beipiel dem Vergleich der Bombardements von Dresden und Hiroshima. Da wurden die Opfer in Dresden zu Angehörigen der unteren Klassen, die deshalb quasi unschuldig am Nazi-Fschismus waren. Und die Bomberflottern zur Aktion einer herrschenden Klasse, vieles mit denen, die sie bekämpfen, also den Nazis, gemein hatten. 'Die Massen' im Nationalsozialismus sind dann 'verführt, missbraucht und gegen ihre eigenen Interessen gedreht', zwar verstrickt, aber potenziell entschuldigt. Man erkennt darin die Tradition der KPD, deren Mitglied Ulrike Meinhof war." (S. 127)

Später kritisiert er die Entführung der Lufthasa-Maschine "Landshut" 1977 scharf:

"Das war einfach und unzweideutig – in unserem Kontext – eine terroristische Aktion, die man ablehnen musste. Mit ihr zeigte die RAF, dass es willkürlich und jederzeit jeden treffen konnte.

Ich kann das nur als Verrat an dem definieren, für das die RAF früher stand. [...] Das Verschweigen dieser Vorgänge, die Verweigerung einer Selbstkritik und der Versuch, mit neuen Aktionen das politische Desaster einfach zu überspringen, zeigte, dass das Festhalten am Subjektivismus Bestand hatte. Der unbedingte Wille, die Gefangenen rauszuholen, hat die nüchterne Analyse überlagert." (S. 133f.)

"Das[den Tod der Geiseln in der 'Landshut'] hätte ich nicht überlebt. Das wäre unerträglich gewesen. Es gibt einfach ein Scheitern, da wird es erbärmlich, wenn du weitermachst. Wenn du dafür eine Rechtfertigung suchst, das würde nur zeigen, dass du keinen Maßstab, keine Verhältnismäßigkeit mehr kennst. Dann gibt es aber nichts mehr, wofür du kämpfst." (S. 143)

Dellwo ist einer der wenigen ehemaligen Mitglieder der RAF, die öffentlich die These vertreten, dass der Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in der JVA Stuttgart-Stammheim ein staatlich überwachter Selbstmord gewesen sei:

"Seltsamerweise hat mich später ihr Tod mit ihnen versöhnt. Die aufbrausenden Gefühle, als die Nachricht kam: Darin steckte auch der Zorn, dass sie sich vom Acker gmeacht haben und uns die Suppe auslöffeln lassen. Heute sage ich mir: Sie haben für sich politische Kriterien gehalten oder sind dahin zurückgekehrt. Die Unverhältnismäßigkeit ist die Barbarei. Seit Jahren schon drehte sich alles um die Befreiung der Gefangenen. (...) Da haben sie mit ihrem Tod einfach auch eine Grenze gesetzt. Die Botschaft war: Unseretwegen jetzt nichts mehr. Beendet es oder findet einen Inhalt für euch! In der Inszenierung ihres Todes istja vieles enthalten: Der letzte Tritt gegen die Macht, con der sie sich völlig befreit sahen. Ein Aufschreien der alten Moral – 'das Projektil sind wir'. Aber auch die Übernahme einer Verantwortung, vielleicht sogar so etwas wie Buße oder die Erkenntnis, dass das alles für sie in keinem Verhältnis mehr zum Einsatz steht." (S. 143f.)
"Ich kann nicht sagen, auf welcher Regierungsebene das gelandet ist. Es kann auch in irgendeinem lausigen BND-Zirkel hängengeblieben sein. Ich sage nur: Teile im Staatsapparat haben von der Möglichkeit gewusst und es zugelassen. Es war ein Selbstmord unter staatlicher Aufsicht." (S. 150)

Nicht weiß werden. Die 80er Jahre und der Kampf um die Haftbedingungen

Im 4. Kapitelberichtet Dellwo von der Zeit in Haft in der JVA Celle. Er erzählt von Isolationshaft und massiver Gewalt und Schikanierung durch die Angestellten der JVAs:

"In Köln dachte ich, sie werden mich irgendwann totschlagen." (S. 154)
"Sie traten und schlugen wie immer heftig zu und man schleppte mich durch lange Kellergänge in den Bunker. Dort wurde ich je nach Laune nur hineingeworfen oder aber auf dem im Boden einbetonierten Holzbrett, auf dem Rücken liegend, an Händen und Füßen mit Ketten ud Handschellen an Stahlringe gebunden. Einmal lag ich dort 48 Stunden, ohne losgebunden zu werden. Ich lag dort in meinem eigenen Urin, jede Stelle meines Körpers schmerzte." (S. 155f.)

Erst nach einem Hungerstreik seien die Bedingungen etwas besser geworden:

"Als wir über die Forderungen verhandelten und meine Sprachstörungen deutlich wurden, sagte der Traktleiter Engelhardt, es sähe ein, dass sie nicht ganz so weitermachen könnten wie bisher." (S. 165)

Während seiner 20 Jahre Haft hat Dellwo insgesamt 18 Monate in verschiedenen Hungerstreiks gehungert. Er schildert diese Streiks als "sehr schwer" und die folgenden Zwangsernährungen als äußerst brutal:

"Damit niemand eventuelle Verletzungen sah, haben sie diesen Versuch auf Feiertage direkt vor einem Wochenende gelegt und einen bereits abgesprochenen Besuch telegraphisch aufgehoben. Das fand ich damals sehr bedrohlich und die dann folgenden Zwangsernährungen waren sehr gewalttätig. Ich habe mich mit allem, was ich an Kraft noch hatte, gewehrt. Am dritten Tag ist sie ihnen außer Kontrolle geraten. Ich war auf einem Stuhl festgebunden, der wie eine Aachkkarre hinten Räder hatte und vorn eine Eisenplatte. Sie hatten mich mir Fuß-, Bein-, Bauch- und Bristgurten festgezurrt und die Hande nach hinten mit Handschellen gefesselt. Trotzdem habe ich noch ruckeln und den Kopf bewegen können. Am Kopf hingen zwei Wärter und hinten drückte noch einer die Arme hoch, dann wurde mein Mund mit einer Stange aufgebrochen und Gummikeile reingeschoben. Danach der Zwangsernährungsschlauch. Ich bin dann plötzlich zusammengeklappt. Während der Schlauch drin war, stieg gleichzeitig die reingepumpte Flüssigkeit wieder hoch und etwas davon lief in die Bronchien rein. Ich dachte, ich ersticke und mir fliegt der Kopf weg. Dann riss der Arzt auf einmal den Schlauch raus und schrie, dass man mich losbinden sollte. Danach lag ich vielleicht 20 Minuten in heftigen Krämpfen auf dem Boden und hab mir sozusagen die Lunge aus dem Leib gekotzt. Das war derart heftig, dass zwei der Wärter am Weinen waren." (S. 167f.)

Weiter schildert er, wie wenig die Gefangenen mit den Aktionen der aktuellen Generation der RAF anfangen konnten, und wie sie sich politisch von diesen entfremdeten:

"Nach der Zimmermann-Aktion haben zwei von uns heulend dagesessen und wussten gar nicht mehr, was wir noch machen könnten. Ich will das aber nicht auf die draußen abschieben, denn ihr Vorgehen hat objektive Gründe. Es gab keine Grundlage bei uns oder in der Gesellschaft, irgendetwas revolutionär zu transformieren. Deshalb hat sich das Mittel verselbstständigt. Und wir waren diejenigen, die allgemein auf Fortführung des Kampfes gedrängt hatten." (S. 175)
"Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass vieles, was in den 80ern passiert ist, Ausdruck dessen war, dass sich die RAF im Bild ihrer Akteure längst zu einer Abstraktion verwandelt hatte, der sie gedient haben. Aufgebrochen sind wir aber gegen eine Gesellschaft, die aus lauter verobjektivierten sozialen Prozessen besteht, die wie selbstverständlich ihre Hegemonie beanspruchen und ihre Logik durchsetzen. Wir wollen das durchbrechen – und landeten schließlich bei einer Logik, der wir uns selbst unterordneten und die zu durchbrechen wir nicht in der Lage waren." (S. 177)

Vergessen heißt verraten. Die DDR-Aussteiger und die Spaltung

Im 5.Kapitel wird die Phase nach 1989 geschildert. Im Juni flogen alle zehn ehemaligen Mitglieder der RAF auf, die Anfang der 80er in der DDR untergetaucht waren und dort mit einer neuen Identität lebten. Viele der ehemaligen Mitglieder, die sich von der RAF abwendeten, stellten sich als Kronzeugen und Kronzeuginnen zur Verfügung. Dellwo kritisiert, dass dies innerhalb der RAF nicht reflektiert worden sei, denn wenn so viele sich abwenden, sei das "ein politischer und sozialer Tatbestand und schon objektiv eine radikale Kritik an der eigenen Politik." (S. 183) Im Anschluss an die sog. "Kinkel-Initiative" hatten sich die Gefangenen der JVA Celle an Christian Ströbele gewandt, damit dieser in Gesprächen mit dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der Daimler-Benz AG, Edzard Reuter und Ignatz Bubis, dem damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden erwirken sollte, dass diese sich für eine Zusammenlegung der Gefangenen stark machen sollten. Dies wurde von den anderen Gefangenen hart kritisiert und die Trennung von den Gefangenen in Celle bekanntgegeben. Laut Dellwo war diese Spaltung

"Produkt einer Erschöpfung. Es gab all die Hungerstreiks, wir liefen auf dem Zahnfleisch. In der Spaltung zeigt sich, dass wir nicht mehr in der Lage waren zu sagen: Wir schaffen das nicht mehr. Stattdessen wurde nach einem Sündenbock gesucht, auf den alles abgeladen werden konnte. Das waren dann die Gefangenen in Celle." (S. 191)

Epilog: Das Projektil sind wir

Im Epilog geht Dellwo auf den Titel des Buches ein:

"Mit dem Satz 'Das Projektil sind wir' wird die Freisetzung der menschlichen Energie fpr ein befreites Leben gefordert und für unabdingbar gehalten. Unter befreitem Leben verstand die RAF kein Nirwana, sondern die Aufhebung der Entfremdung, also eines gesellschaftlichen Zustands, in welcherm die Welt, die der Mensch produziert, ihn beherrscht und nicht als eigene Schpfung begriffen werden kann" (S. 193)

Zur RAF vermerkt er:

"Die RAF scheiterte außen an gesellschaftlichen Bedingungen, die für eine Revolution nicht reif waren, und innen, weil ihr Kollektiv im Machtkampf mit der 'außerökonomischen Gewalt' des bürgerlichen, warenproduzierenden Systems, also dem Staat, am Ende nur noch auf sich selbst bezog, gesellschaftlich sozusagen 'privat' wurde. Das kann, das muss man ihr grundsätzlich vorwerfen. (...) Aus dem Scheitern der RAF – stellvertretend für jeden revolutionären Kampf – aber ein Bekenntnis zu machen zu einem System, das Gleichheit nur in der Objektstellung aller Menschen herstellt, kommt in der Regel von denen, die, wie Marx sagt, zwar auch entfremdet sind, auf Grund ihrer privilegierten gesellschaftlichen und ökonomischen Lage diese Entfremdung als Scheinsubjekte aber noch genießen können. Sie sind unlauter.

Mit dem Leben wird die Revolte bleiben." (S. 194f.)

Nachwort

Im Nachwort des Buches stellen Twickel und Petersen fest, dass zwar beklagt werde, allein die Täter der RAF-Anschläge kämen zu Wort, die Opfer aber nie. Tatsächlich aber sei es gerade umgekehrt, es herrsche ein Diskurs, der einseitig die Opfer befrage und die Mitglieder der RAF kurzerhand als Verbrecherbande abstemple. Ein Grund dafür sei, dass viele der damaligen Sympathisantinnen und Sympathisanten mittlerweile in der "Mitte der Gesellschaft angekommen"" (S. 198) seien, und ihre damalige politische Vita nun in Form von Distanzierungen von sich abspalten wollen. Die sozialen Dynamiken von damals würden als Automatismen beschrieben, getrieben von "Autosuggestion und Zeitgest" (S. 199), insgesamt als soziologische Phänomene und weniger als politische Prozesse. Abschließend vermerken sie:

"Wir hoffen zum Kern unseres Anliegens vorgedrungen zu sein: Wir wollten das Argumentationssystem RAF diskutieren, um nachvollziehbar werden zu lassen, warum das alles so lange für so relativ viele konsequent war und Respekt verdient. Wir haben zu schätzen gelernt, dass sich Karl-Heinz Dellwo nicht hinter Hierarchien oder Hysterien verschanzt, wenn er über das spricht, was ihn zur RAF gebracht hat." (S. 202)


Rezeption

Anders als andere Interviewbücher mit ehemaligen Mitgliedern der RAF wie beispielsweise "RAF – Das war für uns Befreiung" wurde das Buch eher positiv besprochen.

Gottfried Oy befand in der Süddeutschen, dass es Dellwo in dem Buch gelinge, "fokussiert auf zentrale Fragen zu seinem persönlichen Werdegang wie dem der RAF einzugehen". Seine Geschichte verdeutliche, "dass es keineswegs bloß jenes diffuse „Dagegen” war, [...] das Jugendliche nahezu aller sozialer Schichten antrieb. Es gab nicht nur sehr konkrete Vorstellungen eines Lebens jenseits der „formierten Gesellschaft”, jenes Kompromisses zwischen bürgerlichem Lager, Sozialdemokratie und Gewerkschaften, sondern auch ausreichend Erfahrungen mit repressiver Erziehung, Polizei und „gesundem Volksempfinden”, die in die Fundamentalopposition trieben. Dellwo gelingt es im Unterschied zu den professionellen Zeitzeugen, rationale Begründungen wie emotionale Motivationen des Widerstands einzufangen. „68” auf Fragen von Gefühl und Stimmung zu reduzieren, ist dann doch etwas zu einfach."

Wolfgang Gast lobte das Buch in der taz: "Wer heute, nach 32 Jahren, wissen will, wie Menschen wie der damals erst 23-jährige Dellwo zum ›Bewaffneten Kampf‹ kamen, woher sie stammen und welche Sicht sie heute auf das haben, was sie als politische Arbeit verstanden, sollte zum Band ›Das Projektil sind wir‹ greifen, das in diesen Tagen bei der verdienstvollen in diesem Themenspektrum tätigen Edition Nautilus erscheint."

In der konkret schrieb Peter O. Chotjewitz: "Dellwos Lebensgeschichte ist eine notwendige Ergänzung. Sie zeigt, wie schon die vielen anderen Lebensberichte ehemaliger ›Kämpfer‹, dass es den revolutionären Tätertyp, der zur Waffe greift, nicht gibt."

Andere Worte findet Nils Minkmar in der FAZ. Ihm zufolge wird "das Elend des Linksterrorismus [...] in den Zeugnissen seiner Protagonisten besonders deutlich". Es handele sich um "ein Buch, das auf jede politische Korrektheit verzichtet und weitgehend der Sprache, den Klischees und Ideen der radikalen Linken verhaftet ist, nichts für empfindliche Gemüter also, gleichzeitig fördert es Erstaunliches zutage: Die so tragische und darin irgendwie auch große RAF wird in dieser Innenperspektive auch als ein Klub von deutschen Versagern erkennbar, die nirgendwo einen Halt fanden außer in der Droge der Gewalt und denen so gut wie alles, was sie anfassten, misslang." Damit sei es "ein historisches Dokument, aber kein Versöhnungsangebot. Zwar betont Dellwo, dass er den Tod der Botschaftsangehörigen von Stockholm bedauert, zugleich versucht er aber in einer Kritik der Staatsräson, der Bundesrepublik eine gleichrangige Schuld zuzuschreiben. Es ist die Unverbesserlichkeit eines alten Veteranen, bei dem man heute die biographische Logik des Abgleitens in Brutalität und Banalität studieren kann - zu Abschreckungszwecken."

Weblinks