Femizid in Guatemala

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Begriffsklärung

Als Femizid wird die zielgerichtete Gewalt gegen Frauen, wobei das weibliche Geschlecht ursächlich ist für die Gewaltanwendung, verstanden. Ziel ist es, Angst zu verbreiten und die Frauen zu dehumanisieren. Femizid umfasst nicht nur den Mord an Frauen, sondern auch besonders gewalttätige und vom Hass motivierte Verbrechen wie Vergewaltigung und Folter. Er findet sowohl im Krieg als auch während Friedenszeiten statt, in öffentlichen Plätzen als auch zu Hause.

Der Begriff Feminizid verweist darauf, dass die Verbrechen gegen Frauen nicht nur auf der Mikroebene betrachtet werden sollen, sondern auch auf der Makroebene, dass also auch die vorherrschenden politischen und kulturellen Strukturen, die zu den Frauenmorden beitragen, wissenschaftlich untersucht werden müssen.


Fakten und Zahlen

Guatemala hat insgesamt ca. 14 Millionen Einwohner, davon leben 4,3 Millionen in der Hauptstadt Guatemala Ciudad. Zwischen 2000 und 2008 wurden in Guatemala 4,300 Morde an Frauen gemeldet. Es wird vermutet, dass die Dunkelziffer sehr viel höher liegt, da die Morde oft nicht zur Anzeige gebracht werden. Gründe hierfür sind, dass die betroffenen Familien oft aus einkommensschwachen Haushalten stammen bzw. randständig sind und dementsprechend nur schwer Zugang zum Rechtssystem finden. Auch die vorherrschende Korruption und Diskriminierung erschweren den Zugang zum Rechtssystem. Schließlich erhalten Angehörige, die sich für die Aufklärung eines Mordes einsetzen, Drohanrufe und – besuche. Diese Form der Einschüchterungstaktik trägt dazu bei, dass auch engagierte und finanziell besser gestellte Angehörige die Anzeige nicht weiter verfolgen.

Darüber hinaus muss Zweifel an der Richtigkeit der Erhebung der Daten angebracht werden, da die von der Polizei, der Feuerwehr und der Mordkommission publizierten Daten stark voneinander abweichen. Bei den Daten selbst werden Variablen wie das Geschlecht, das Alter oder die ethnische Zugehörigkeit nicht festgehalten, was die Untersuchungen stark behindert.

Die Mordrate ist in Guatemala insgesamt sehr hoch, jedoch ist die Mordrate an Männern 2004 gegenüber zum Vorjahr nur um 36% gestiegen, die an Frauen jedoch um 56.8%. 2005 wurden im Durchschnitt 48 Frauen pro Monat ermordet. Man darf hierbei nicht vergessen, dass immer noch mehr Männer als Frauen einen gewaltsamen Tod in Guatemala finden, jedoch ist die Gewalt gegen Männer normalerweise nicht geschlechtsorientiert. Ausnahmen hiervon sind Männer, die dem Machismo-Stereotyp nicht entsprechen, beispielsweise Homosexuelle und Transvestiten.


Opfer und Täter

Betroffen sind vor allem Frauen zwischen 13 und 22. Die Morde geschehen vorzugsweise in der Hauptstadt, Guatemala City, und nicht auf dem Land. Darüber hinaus stammen die Opfer häufig aus den sozialschwachen Schichten, also Hausfrauen, Studentinnen und Arbeiterinnen, zum Beispiel für Maquilas. Diese sind besonders anfällig, da sie oft Überstunden machen müssen um die Familie zu ernähren und dann nachts durch abgelegene Gegenden alleine nach Hause gehen müssen. Die hohe Armutsrate (2011: HDI 0,574 ) in Guatemala zwingt viele Frauen dazu, Arbeiten anzunehmen, die sie in besonders prekäre Situationen bringen, beispielsweise Straßenverkäufer, Hausmädchen oder Drogenkuriere. Überrepräsentiert sind auch die indigenen Frauen, Migrantinnen, Bandenmitglieder und Sexarbeiterinnen.

Als Täter wurden von der Regierung auf Jugendbanden wie die Maras verwiesen. Aufnahmerituale dieser Straßenbanden beinhalten das Vergewaltigen von Frauen. Es gibt jedoch Hinweise, die eine Verstrickung der Taten mit Polizisten und dem Militär vermuten lassen. In einigen Fällen konnte der Polizei und dem Militär sogar nachgewiesen werden, dass sie an Vergewaltigungen und Folterungen beteiligt gewesen sind. Untersuchungen des Menschenrechtskommissars für Guatemala der USA ergaben, dass ein Netz aus Machtstrukturen besteht, welches die physische und psychologische Gewalt gegen Frauen ermöglicht. Dazu gehören die nationale Zivilpolizei, das Militär und paramilitärische Einheiten, und private Sicherheitskräfte. Dieses Netz sorgt dafür, dass die Ermittlungen in den Mordfällen verschleppt, runtergespielt oder ganz und gar ignoriert werden.

Auf der einen Seite sind viele der Verbrecher in kriminelle Aktivitäten verstrickt. Die mächtigen Drogenkartelle und Straßenbanden fördern ein gewalttätiges Klima und ermöglichen dadurch die hohe Anzahl an Morden in Guatemala. So stellen die brutalen Folterungen, Vergewaltigungen und Morde eine neue Stufe der Gewaltanwendung gegen Frauen dar, welche dazu instrumentalisiert werden, Angst und Schrecken unter den Frauen zu verbreiten. Auf der anderen Seite sind viele der Straftäter Partner oder Angehörige der Frauen, sie sich bei Konflikten der überzogenen Gewaltanwendung gegen Frauen bedienen. Untersuchungen ergaben, dass in über 60% der Fälle die Verbrechen zu Hause vom Partner begangen wurden. Über 60% der Frauen, welche in Mexiko vom eigenen Partner ermordet wurden, hatten ihn davor bei der Polizei wegen häuslichen Missbrauchs angezeigt, den Anzeigen wurde jedoch nicht nachgekommen. Im Gegensatz dazu konnten 2003 bei 383 ermordeten guatemaltekischen Frauen nur in sechs Fällen eine Verbindung zu Straßenbanden hergestellt werden.


Historie

Während des Kalten Krieges wurde per CIA-gestützten Coup der demokratisch gewählte guatemaltekische Präsident Jacobo Arbenz 1954 seines Amtes enthoben. Fortan regierte eine von den USA finanzierte repressive Diktatur. Diese Taktik war der Angst vor dem sogenannten Domino-Effekt geschuldet, demnach kein einziges Land in Zentralamerika dem Kommunismus zufallen dürfe, weil sonst die gesamte Region instabil werden würde.

Von 1960 bis 1996 herrschte in Guatemala Bürgerkrieg zwischen dem Militär und der Guerilla, dabei starben schätzungsweise 200 000 Guatemalteken, wovon 83% Mayas waren. Man kann dabei bereits von Genozid gegen die Mayas sprechen, da systematisch versucht wurde sie auszulöschen. Während des Bürgerkrieges waren auch Frauen Ziel von Gewaltverbrechen, weil sie als reproduktive Quelle der Guerilla-Kämpfer betrachtet wurden. Dabei wurden 99% aller Verbrechen sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Kindern vom staatlichen Militär begangen. Dies hat dazu beigetragen, dass sexualisierte Gewalt im Alltag normalisiert wurde. 1996 wurde schließlich ein Friedensvertrag geschlossen. Seitdem ist der Bürgerkrieg offiziell beendet, die Gewalt jedoch wenig reduziert, die Opfer sind mit steigender Tendenz Frauen.


Ursachen

Die gewalttätige Geschichte Guatemalas führt dazu, dass Gewalt zum Alltag gehört und tendenziell eine hohe Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung vorherrscht. Diese Kultur wird von der weitgehenden Straflosigkeit von Gewaltdelikten gefördert, was dazu führte, dass Gewaltanwendung jahrelang als effektivstes Konfliktlösungsinstrument und Mittel zu Durchsetzung persönlicher Interessen angesehen wurde.

Als Gründe für das Erscheinen des Femizid in Guatemala werden von guatemaltekischen Frauen der Wandel der traditionellen Rollen genannt. Guatemala ist stark vom Machismo geprägt. Stereotype des Machismo werden immer noch in Zeitungen, Werbungen, Liedern und Seifenopern gebraucht. Nicht selten wird darauf verwiesen, dass die Gewalt gegen Frauen in bestimmten Situationen gerechtfertigt ist. Durch die Globalisierung wird das patriarchalische Denken erschüttert, immer mehr Frauen gehen arbeiten und erlangen dadurch Unabhängigkeit gegenüber ihrem Partner. Das Erwachen aus ihrer Unmündigkeit führt dazu, dass sie die (finanziellen) Möglichkeiten haben, sich vom Partner zu lösen. Dieser Entwicklung wirken viele guatemaltekische Männer mit Gewalt entgegen. Das zeigt auch die hohe Quote von innerfamiliärer Gewalt in Guatemala. Es wird – nicht nur im Einzelfall, sondern in der gesamten Gesellschaft – eine Atmosphäre der Angst kreiert.

Ein weiterer Grund ist die steigende Mobilität und Migration der Frauen. Viele indigene Frauen ziehen vom Land in die Stadt um Arbeit zu finden. Dadurch lösen sie sich von ihrer Familie und sozialem Umfeld. Der Wegfall eines sozialen Systems steigert das Risiko Opfer einer Gewalttat zu werden.


Gegenmaßnahmen

Einige nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen haben sich der Problematik des Femizids in Guatemala angenommen. So zum Beispiel das guatemaltekische Frauennetzwerk „Red de la No Violencia contra la Mujer“, welches mittels medienwirksamen Kampagnen versucht, die Öffentlichkeit auf die alarmierende Situation aufmerksam zu machen. Sie fordert Regierung, Staatsanwaltschaften, Polizei und Justiz dazu auf, Verantwortung zu übernehmen und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um einen höheren Schutz für die weibliche Bevölkerung zu gewähren.

Die Menschenrechtsorganisationen versuchen Druck auf die Regierung auszuüben, dass zumindest in allen Fällen ermittelt wird. Dies erscheint von besonderer Wichtigkeit wenn bedacht wird, dass viele Täter aus dem Bekanntenkreis des Opfers stammen. Die Arbeit der Organisationen erscheint auch deshalb schwierig, da Guatemala immer noch vom Machismo geprägt ist und Frauen demnach auch nicht in wichtigen Funktionen in der Regierung, Polizei oder Staatsanwaltschaft vertreten sind. Um auf die Problematik aufmerksam zu machen, veranstalten die Menschenrechtsorganisationen Demonstrationen und Aufmärsche, vorzugsweise am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen (25. November) und am Weltfrauentag (8. März). Außerdem begleiten die Menschenrechtsorganisationen die Angehörigen der Opfer bei Behördengängen und unterstützen sie finanziell bei Gerichtskosten und Kosten für die zu Waisen gewordenen Kinder der Opfer. Des Weiteren bieten sie psychologische Beratung und Betreuung an, veranstalten Workshops und bilden in den Gemeinden Menschen aus, die der Machismo-Kultur gewaltfrei entgegen wirken soll.

Vor allem in Mexiko und Guatemala gelang es den Angehörigen der Opfer den Femizid auf die politische Tagesordnung zu setzen. So wurde 2008 vom guatemaltekischen Kongress das Dekret 22-2009 verabschiedet, das Gesetz gegen Femizid und andere Formen von Gewalt gegen Frauen, welches Strafen für eine Reihe von Verbrechen gegen Frauen ermöglicht. Diesem Dekret folgte 2010 die Schaffung mehrere Sondergerichte, die dafür zuständig sind, Verbrechen zu behandeln, die in dem neuen Gesetz festgeschrieben wurden. Die Auswirkungen des Gesetzes für den Alltag sind jedoch vernachlässigbar. Darüber hinaus haben auch alle Staaten in Zentralamerika das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ratifiziert.

Auch im Hinblick auf das neue Gesetz erscheint es unabdinglich, dass das Justizsystem reformiert und sensibilisiert wird, um dem Gesetz Wirkung zu verleihen. Darüber hinaus muss auch die Ausbildung der Polizei verbessert werden. Die Medien sollten nicht nur selektiv, sondern generell auf die Problematik des Femizids im Land aufmerksam machen. Als einziger Lösungsweg erscheint jedoch die Überwindung der Macho- und Gewaltkultur in Guatemala.


Rezeption in der guatemaltekischen Gesellschaft

Die erhöhte Anzahl an Frauenmorden wird in den Medien kaum behandelt. Wenn von den Morden Bericht erstattet wird, dann werden die Opfer meistens als Prostituierte, Mitglieder der Maras oder als Maquila-Arbeiterinnen dargestellt. Normalerweise werden die Morde an Frauen nicht als Titelstories vermarktet. Einen Aufschrei in den Medien gibt es nur, wenn Angriffe auf Konsumenten, vor allem auf Touristen, stattfinden. Dann wird von der Politik sofort gefordert, dass die Fälle aufgeklärt werden und die Täter bestraft, da sie dem Ansehen des Landes schaden. Daran wird bereits deutlich, dass pragmatisch unterschieden wird, ob Ermittlungen nötig sind oder nicht.

Dazu kommt, dass die Regierung die Existenz des Femizids in Guatemala nicht explizit anerkennt. Sie vertritt die Meinung, dass es sich um spontane Aktionen handelt oder um Umfälle. Außerdem weisen sie den Vorwurf zurück, dass die Morde in irgendeiner Weise geschlechterorientiert seien. Diese Einstellung schlägt sich auch in dem geringen Budget des Justizapparats nieder. Außerdem führt dieses offizielle Ignorieren dazu, dass der Femizid weiter verübt werden kann. So lange es nicht offiziell anerkannt wird, dass die Frauen in Guatemala besonders gefährdet sind, kann die hohe Gewaltanwendung gegenüber Frauen weiter straffrei stattfinden. Es wird vermutet, dass nicht einmal 10% der Fälle bislang untersucht wurden und die Ermittlungen werden schnell eingestellt. Der Tatort wird kaum untersucht, Spuren werden nicht gesichert, Zeugen nicht befragt, Verdächtigungen nicht nachgegangen. So wurden beispielsweise von 1,227 ermordeten Frauen (2002-2004) nur 12 Männer zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die Einstellungsquote bei den Ermittlungen liegt bei ca. 99%, den Straftätern ist damit die Straflosigkeit so gut wie garantiert.

Häufig wird den Opfern von seitens der Behörden eine Mitschuld an ihrem Schicksal unterstellt, indem sie als Prostituierte abgestempelt werden oder als Angehörige von Banden. Der soziale Hintergrund der Opfer beeinflusst nicht selten die Ermittlungen.


Internationale Rezeption

Obwohl der Femizid bereits in den 1990er begann, wurden die Vereinten Nationen erst 2004 tätig, indem sie die Sonderberichterstatterin Yakin Ertürk nach Guatemala entsendete, um den sogenannten Femizid vor Ort zu untersuchen. Darüber hinaus haben sich Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und das Zentrum für Gerechtigkeit und Internationales Recht der Problematik mittels offizieller Missionen und Berichterstattung angenommen. Schließlich hat 2006 auch die guatemaltekische Kongressabgeordnete Alba Maldonado vor dem Europäischen Parlament gesprochen und dazu aufgerufen, Entwicklungshilfe in betroffenen Ländern davon abhängig zu machen, dass die Regierungen wirksame Maßnahmen gegen den Femizid ergreifen.


Femizid in anderen Ländern

Die ersten Fälle von Femizid traten 1993 in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez auf. Hier waren vor allem Arbeiterinnen in sogenannten Maquilas betroffen. Untersuchungen haben ergeben, dass in Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica]] insgesamt mindestens 1,000 Frauen jedes Jahr aufgrund ihres Geschlechts ermordet werden. Dabei zeichnen sich nationale Trends ab. In Nicaragua sind die Täter meistens die Partner oder Angehörige. In Costa Rica sind überproportional oft Migrantinnen betroffen. In Guatemala sind 45% der Opfer Hausfrauen, in Honduras sowohl Hausfrauen als auch Studentinnen.


Literatur

  • Bellino, Michelle(2009-2010): Feminicide and Silence in „Postwar“ Guatemala. Women’s Policy Journal of Harvard. Volume 7.
  • Costantino, Roselyn (2006): Femicide, Impunity, and Citizenship: The Old and New in the Struggle for Justice in Guatemala. In: Chicana/Latina Studies. Volume 6.
  • Doiron, Fabienne (2012): Interlocking patterns of violence: Reflecting on analyses of ‘social cleansing’ and femi(ni)cide in Guatemala, Congress of the Latin American Studies Association, San Francisco.
  • Grais-Targow, Risa: Femicide in Guatemala.
  • Kurth, Helmut (2007): Femizid in Guatemala. Friedrich Ebert Stiftung.
  • Prieto-Carrón, Marina / Thomson, Marilyn / Macdonald, Mandy (2007): No more killings! Women respond to femicides in Central America. In: Gender & Development. Vol. 15, No. 1.


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