Gewalt (Begriff)

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’’’Gewalt und Gewalt-Kriminalität’’’

Das Alltagsverständnis von Gewalt verbindet sich stets mit bestimmten Formen der Gewaltkriminalität wie Mord, Totschlag, Erpressung und Vergewaltigung. Die Medien und die Kriminalpolitik konzentrieren sich in ihren öffentlichen Darstellungen auf Gewaltkriminalität. Die Menschen fürchten sich vor Gewaltkriminalität und vor der scheinbar zunehmenden Gefährdung der nationalen Sicherheit.


Zum Gewaltbegriff

Der schwer zu fassende sowie vage Begriff kann eng und weit definiert werden. Zunächst war der juristisch-traditionelle Gewaltbegriff der körperlichen Kraft (lat. „vis“) dominant, unter dem sich maßgeblich Aktionen physischer Angriffe subsumieren und bei dem die physische Zwangshandlung im Vordergrund steht (vgl. § 240 StGB). Seit der Einführung des Begriffs der „strukturellen Gewalt“ durch Galtung erfuhr diese De¬finition eine Erweiterung. Die erweiterte Definition bezieht Beeinträchtigungen jeglicher Art mit ein, die auf die Einschränkung der persönlichen Freiheit abzielen und das Indi¬viduum daran hindern, seine Anlagen und Fähigkeiten uneingeschränkt zu entfalten. Dazu zählen alle Formen der Diskriminierung und der Ungleichheit in Bezug auf z. B. Bildung und Einkommen. Diese Formen gelten als gewaltförmig, gleichgültig, ob sie physisch oder psychisch bewirkt wurden und zu welchen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen sie geführt haben. Popitz verweist in diesem Zusammenhang auf die Verletzbarkeit des Menschen durch Menschen, die weder aufhebbar ist, noch durch Unterwerfung und Erleiden abgegolten werden kann. Er fasst drei Gruppen von Macht¬aktionen zusammen, bei denen psychische mit körperlichen Verletzungen in Verbin¬dung stehen: # Aktionen, welche die soziale Teilhabe durch z. B. Diskriminierung oder Mobbing einschränken, # die materiell schädigen durch die z. B. Schmälerung von Ressourcen und # die körperlich verletzen und Schmerz zufügen. Es sind Machtakti¬onen mit dem Ziel, ein dauerhaftes Machtgefälle in einer Gesellschaft zu schaffen, in dem Geschädigte ihre Konkurrenzfähigkeit verlieren und zu Außenseitern mutieren. Für Popitz ist Gewalt eine Machtaktion, weil sie zur absichtlichen körperlichen Verlet¬zung anderer führt, egal, ob eine konkrete Gewalthandlung ausgeübt wird oder ange¬wandte Drohungen die Betroffenen dauerhaft ausgrenzen. Im Akt des Tötens manifes¬tiert sich eine vollkommene Macht über andere Menschen. Gewalt erfährt hier eine äußerste Grenze, aber auch einen eindeutigen (Definitions-)Rahmen. Unbegrenzte Machtausübung kann zum Massenmord führen und Kulturen sowie Völker eliminieren. Zum anderen bewirkt sie bei den Geschädigten eine vollkommene Ohnmacht sowie eine hilflose Angst vor dem Getötetwerden, die sich jederzeit in das Gegenteil verwan¬deln kann. Sehr weit definiert ist Gewalt „[...] ein Teil der großen weltgeschichtlichen Ökonomie“ (Popitz, 1986: 82) sowie eine ständig gegenwärtige Option menschlichen Han¬delns. Eine Gewaltbegrenzung kann durch eine soziale Ordnung und durch ein Norm¬system, das durch Sanktionsregelung geschützt wird, dauerhaft gelingen. Demzufolge muss sich eine soziale Ordnung aus Gründen des Selbsterhalts durch den Einsatz von Gewalt schützen können, sollte Gewalt von innen oder außen drohen – womit sich die Frage nach der institutionellen Gewalt stellt und ein weiterer Teufelskreis der Gewalt und Gewaltbewältigung entsteht.

Empirisch-kriminologische Begriffsbildungen verfolgen gemäß der weiten Definition den Zweck, das Spektrum und die Heterogenität der Gewaltphänomene zu erfassen, zu erforschen und zu erklären. Für die klassische, restriktive Definition spricht, dass sie leichter zu messen und dass sich Operationalisierungen leichter nachvollziehen lassen. Außerdem kann sich dadurch ein fester und verbindlicher Rahmen um strafrechtliche Interventionen bilden. Ein Gewaltbegriff verliert im Gegensatz demgegenüber an Kon¬turen und an analytischem Potenzial, je weiter er gefasst wird. Auf der anderen Seite ist er für die Entwicklung von Behandlungs- und Präventionsprogrammen sehr nützlich sowohl im Rahmen der Resozialisierung als auch im Rahmen des Opferschutzes. Grundsätzlich hängt jedoch die Güte des Gewaltbegriffs von einem bestimmten Kontext und der Er¬füllung der ihm zugedachten Aufgabe ab.

Zum Begriff „Gewalt-Kriminalität“

Der Begriff „Kriminalität“ geht auf crimen (lat.) zurück, was Anklage, Beschuldigung be¬deutet. Später wurde der Begriff semantisch auf den „[...] förmlichen strafrechtlichen Vorwurf und die Handlungen, auf welche sich dieser Vorwurf bezieht“ (Kunz, 2008: 7) eingeengt, also auf Deliktstatbestände einer Strafrechtsordnung, die in der Summe als strafbar benannt sind und von den Instanzen strafrechtlicher Sozialkontrolle als solche definiert werden. Kriminalität hat es demzufolge einerseits mit Zuschreibungen, andererseits mit Verhalten zu tun. Angesichts vielfältigster Interpreta¬tionsspielräume bleibt jedoch unklar, ob und ab wann Handlungen Strafbestände erfül¬len und inwieweit es zu unterschiedlichen Behandlungen gleichartigen Verhaltens kommt. Das ambivalente Verständnis von Kriminalität führte zu einem „[...] Grund¬lagenkonflikt zwischen verhaltensbezogenen ,traditionellen‘ Richtungen und dem als ,neues Paradigma‘ apostrophierten Labeling Approach“ (Kunz, 2008: 8). Kriminalität wird offiziell durch das Strafrecht zugeschrieben, das generell als abstrakt bezeichnet werden kann. Die Inhalte wandeln sich je nach geschichtlicher Epoche und Zeitgeist.

Der Begriff „Gewalt-Kriminalität“ bezieht sich basierend darauf sowohl auf kriminelle Handlungen als auch auf Handlungen, welche die Ausübung von Gewalt einschließen. Im engen Sinn werden unter diesem Begriff physische Zwangshandlungen sowie Handlungen subsumiert, bei denen Zwang durch die Drohung mit Gewalt ausgeübt wird und die sich als Verstoß gegen Rechtsnormen beschreiben lassen. Das Spektrum der Gewalt-Kriminalität umfasst Konflikt-, Serien-, Berufs- und Auftragstäter, Terroristen und Fanatiker. Zu den Gewaltdelikten im engen Sinne zählen Mord, Tot¬schlag, Vergewaltigung, Raub, Körperverletzung und sexuelle Nötigung. Polizeiliche Einschätzungen, die Aufarbeitungen und Präsentationen der Delikte sowie die Spei¬cherung der Daten in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) bilden das Hellfeld der Kriminalität. Die PKS ist ein quantitatives Instrument zur Messung von Kriminalitäts¬raten und zur Bewertung von Kriminalitätsentwicklungen in Bezug auf gravierende Tat¬bestände mit personenbezogener Gewalt. Sie werden auf der Basis von Querschnitts¬bildern eines Kalenderjahres und Längsschnittdarstellungen über mehrere Jahre hinweg dargestellt. Die PKS ist ein Arbeitsnachweis für Polizeibeamte, Staatsanwälte und Strafrichter. Sie besagt „[...] hingegen nichts Qualitatives, etwa zu den Dimen¬sionen der Gefährdungen, denen wir ausgesetzt sind“ (Walter, 2008: 15). So spielen z. B. Tötungsdelikte in der PKS eine untergeordnete Rolle, auch sind Frauen im Zu¬sammenhang mit Gewaltdelikten unterrepräsentiert. Verkehrs- und Staatsschutzdelikte werden im Weiteren nicht erfasst.

Deliktseinteilungen

„Delikte sind gedankliche Konstruktionen“ (Walter 2008: 16). Sie beschreiben sozial¬schädliche Verhaltensweisen, die nach täter-, tat- und opferbezogenen Bezugspunkten eingeteilt sind. Das Strafrecht (StGB) systematisiert Delikte nach Rechtsgütern, die es zu schützen gilt. Es unterteilt in Staatsschutz- und Rechtspflegedelikten bzw. in Straf¬taten (Teil 1, § 1, 2) gegen das Leben, gegen die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung sowie gegen die Umwelt. Entsprechend den zugrundegelegten Kriterien können unterschiedliche Rechtsgüter betroffen sein wie z. B. bei einem Sexualdelikt, bei dem sowohl die sexuelle Selbstbestimmung als auch die körperliche Unversehrtheit verletzt werden. Die Einteilungen erfolgen nach bestimmten Kriterien (z. B. Geschlecht, Alter, Herkunft) und Kategorien (z. B. Jungen- und Männerkriminalität, Jugendkriminalität, Mädchen- und Frauenkriminalität). Die täter-, tat- und opferbezogenen Bezüge sind jedoch diesen Kriterien und Kategorien übergeordnet.

Täter-, tat- und opferbezogene Merkmale

Vor allem bei Tötungs- und Körperverletzungsdelikten ist der Bezug auf den Täter nach wie vor aktuell, der auf die traditionelle spezialpräventive Schule von Franz von Liszt zurückgeht und auf folgenden Gedankenmodellen beruht: Wegen der Gefahr von wei¬teren Schäden und wegen der Verstetigung der Straftaten werden Gewohnheits- und Berufsverbrecher (z. B. Zuhälter, Dealer) härter bestraft im Gegensatz zu Gelegen¬heitstätern, die in erster Linie abgeschreckt und durch Normverdeutlichung stabilisiert werden sollen. Bei Konflikttätern, die meist schwere Delikte (z. B. Elternmord) in zuge¬spitzten und extrem emotionalisierten Konfliktlagen begehen, besteht demgegenüber wegen der Einmaligkeit der Tatbedingungen keine Wiederholungsgefahr. Serientäter hingegen entwickeln im Prozess der Tatbegehung (z. B. Raub, Betrug) profitable Me¬thoden zur Gewinnsteigerung. Andererseits sind Täter zu beobachten, die seriell töten (z. B. medikamentöse Tötungen alter Menschen in Pflegeeinrichtungen). Zudem ereignen sich Delikte im Rahmen günstiger beruflicher Gelegenheiten, die sich nach einem sozialen Aufstieg ergeben (vgl. White-Collar-Crime nach Sutherland). Günstige Gelegenheiten entstehen auch für „Blue-Collar-Arbeiter“, wenn sie in Produktionspro¬zesse mit hochwertigen Rohstoffen (z. B. Schmuck, Uhren) einbezogen sind. Hier wird deutlich, dass täterbezogene Merkmale auch Bezüge zur Tat und zu den Tatgelegen¬heiten aufweisen. Gewaltdelikte von u. a. Fußballfans, die sowohl der Fan- als auch der Freizeitkriminalität zugeordnet werden können, veranschaulichen diesen Umstand ebenso. Hingegen können bei fremdenfeindlichen Straftaten klare Merkmale den Tä¬tern zugeordnet werden, z. B. Belästigung, Beleidigung, Brandstiftung, wobei die Ge¬dankenwelt der betreffenden Täter mit Erscheinungen einer extremistischen Krimina¬lität korrespondieren. Tat- und täterbezogene Merkmale lassen sich nicht immer scharf trennen. Eine klare Einordnung unter tatbezogenen Bezügen erscheint bei der Stra¬ßengewaltkriminalität sinnvoll, z. B. beim Handtaschenraub oder beim Überfall auf homosexuelle Männer in dunklen Parks. Aufgrund vorherrschender situativer Bedin¬gungen (Dunkelheit, schlechter Beleuchtung) finden diese Übergriffe in einer geschütz¬ten Zone und von der Öffentlichkeit gänzlich unbehelligt statt. Ähnlich verhält es sich bei der Wirtschaftskriminalität und bei der häuslichen Gewalt, die jeweils in intimen und geschützten Zonen begangen werden. Ein weiterer Bezug zur Tat betrifft gefährliche Zusammenschlüsse von Menschen und dadurch bedingtes Gruppenverhalten, das als besonders bedrohlich betrachtet werden kann. Deshalb werden diese Zusammen¬schlüsse (z. B. terroristische Vereinigungen) bereits im Vorfeld ihrer Taten strafrechtlich erfasst. Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit führen zu Schädigungen bei den von der Straftat betroffenen Personen. Durch den Strafbestand wird der Opferstatus thematisiert, was besonders für Gewaltopfer und Opfer sexueller Übergriffe gilt. Im Opferbegriff finden sich mitunter ungenaue Reali¬täten wieder, „[...] wenn beispielsweise die Volksgesundheit als Schutzgut von Drogen¬delikten formuliert wird“ (Walter, 2008: 23) und die Begriffsbildung dazu dient, Aus¬sagen über Sicherheitsmaßnahmen gefährdeter Bevölkerungsgruppen zu machen, oder wenn täter- und opferbezogene Wechselwirkungen auftreten wie z. B. bei frem¬denfeindlichen Straftaten, die regelmäßig dem rechtsradikalen Kreis zugeordnet wer¬den. Unabhängig davon dient die Wissenschaft der Viktimologie u. a. dazu, Gewalt¬kriminalität differenziert zu betrachten und ermächtigt die Opfer als die rechtlich zu schützenden Güter, die Tatbewältigung mitzugestalten wie es beim Täter-Opfer-Aus¬gleich (TAO) der Fall ist. Da Gewaltdelikte insgesamt eine Vielzahl von täter-, tat- und opferbezogenen Merkmalen in sich vereinigen, repräsentieren sie die „Kriminalität“, „[...] weil bei ihnen [...] viele kriminologisch-theoretisch erfassten Momente des realen deliktischen Geschehens angetroffen werden können“ (Walter, 2008: 23).


Ursachenfaktoren

Gewalt sowie Gewalt-Kriminalität, -prävention und -täter stehen im Mittelpunkt krimi¬nologischer und kriminalwissenschaftlicher Forschungen. Mit den Ursachen beschäf¬tigen sich Soziologen, Psychologen, Biologen, Neurologen, Ökonomen und Krimi¬nologen. Letztere versuchen das Phänomen „Kriminalität“ interdisziplinär zu erklären, wobei sich die kritischen von den ätiologischen Kriminologen auch darin unterscheiden, dass sie sich mit vernachlässigten Gebieten wie Wirtschafts-, Umwelt- und Kriegs¬kriminalität beschäftigen. Die einen halten soziale und gesellschaftliche Missstände, psychische oder genetische Faktoren für mögliche Kriminalitätsursachen. Die anderen benennen dynamische (z. B. Aufschaukelungsprozesse) und situative Faktoren (z. B. geringes strafrechtliches Verfolgungsrisiko). Dynamische und situative Bedingungen gewinnen in der kriminologischen Diskussion an Bedeutung, auch weil in zahlreichen sozial-psychologischen Experimenten (Zimbardo 1975, Milgram 1961) gezeigt wurde, dass bestimmte Sachverhalte wie eine bestimmte Autoritätsstruktur die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Übergriffe erhöhen. Wiederum andere halten eine Kombination dieser Faktoren und Bedingungen für möglich. In den meist vielfältigen Darstellungen und Sichtweisen kann Folgendes festgehalten werden: Kriminal¬soziologen forschen nach den Ursachen der Kriminalität in den sozialen Missständen einer Gesellschaft und den gesellschaftlichen Institutionen, die ihre Mitglieder aufgrund den vorherrschenden Verhältnissen, die vorgefunden werden, zwangsläufig krimi¬nalisiert. Durkheim und Elias gingen davon aus, „[...] dass sich modale Persön¬lichkeitsstrukturen in enger Korrespondenz mit gesellschaftlichen Makrostrukturen wandeln“ (Thome, Birkel, 2007: 45). Dem Konzept der Selbstkontrolle kommt darüber hinaus eine zentrale Rolle zu, die von Gottfredson / Hirschi im Rahmen einer „Allge¬meinen Theorie der Kriminalität“ herausgearbeitet wurde. Familienverhältnisse spielen infolgedessen eine prominente Rolle, weil die Familie als primäre Sozialisationsinstanz einerseits für den Aufbau von Selbstkontrolle zuständig ist, andererseits einen zen¬tralen Ort für Gewalthandlungen darstellt und defizitäre Prozesse begünstigt. Zum soziologischen Forschungsfeld gehören darüber hinaus neben Angriffskriegen und Genoziden auch „[...] bestimmte Formen einer von Angst und Vergeltungsinteresse geleiteten Punitivität“ (Thome, Birkel, 2007: 159). Gewaltkriminalität und Punitivität hängen also von den Dimensionen des ökonomischen Wettbewerbs ab sowie davon, wie stark dieser die soziale Beziehungen in den jeweiligen gesellschaftlichen Systemen durchdringt. Kriminalpsychologen gehen davon aus, dass sich kriminelles Verhalten auf Fehlentwicklungen bei der Persönlichkeitsbildung z. B. durch eine schwere Kindheit zurückführen lässt, durch traumatische Kindheitskonflikte, durch mangelnde Eltern¬liebe, durch Scheidung der Eltern, durch defizitäre Selbststeuerung aufgrund man¬gelnder Empathie und Ambiguitätstoleranz, aber auch durch Erwartungshaltungen. Der amerikanische Psychologe Rosenberg wies nach, dass aufgrund einer bloßen Erwar¬tungseinstellung an ein bestimmtes Verhalten sich dieses Verhalten bewirken lässt. Aufbauend auf den Prinzipien des sozialen Lernens (Beobachtungs- und Bekräfti¬gungslernen), die bei der Persönlichkeitsentwicklung eine entscheidende Rolle spielen, untersuchten die Psychiater Johnson und Szurek delinquente Jugendliche und fanden heraus, dass sich elterliche Befürchtungen und Erwartungen an eine spätere kriminelle Karriere auf die Entwicklung des Kindes kriminalitätsfördernd auswirkten, vor allen Dingen auch deshalb, weil mit diesen Kindern erzieherisch abweisend umgegangen wurde. Sozialwissenschaftler und Psychologen stimmen überein, dass gesellschaftliche Zwänge und Erwartungen sowie die mangelnde moralische Festigung und der dadurch bedingte Hemmschwellenabbau Kriminalität verursachen können. Überdies wurden Zusammenhänge zwischen gewaltakzeptierenden Ein¬stellungen und realem Gewalthandeln nachgewiesen (vgl. Bornewasser/Junge, 2006: 29–32). Kriminalbiologen (Anthropologen, Genetiker) interessieren sich dafür, inwieweit das Handeln des Menschen genetisch bedingt ist. Ihre Hoffnung besteht darin, dass sich kriminelles Verhalten durch die Einwirkung auf die speziellen Gene steuern, redu¬zieren bzw. eindämmen lässt. Sie bezweifeln, dass Umwelteinflüsse Verhaltensweisen beeinflussen können. Neurologen suchen Kriminalitätsursachen im Gehirn. Die Lebensweise als Gewalttäter ist für sie – ähnlich wie bei den Kriminalbiologen – weitestgehend determiniert, also Schicksal. Nach Kriminalitätsursachen forschen darüber hinaus Ökonomen wie Gary Becker und Isaac Ehrlich. Auf der Basis einer Kosten-Nutzen-Kalkulation werden nach Becker günstige Gelegenheiten und der jeweilige Umfang der Beute gegeneinander ab- und aufgewogen.

Resümee, Kritik, Ausblick

Meist sind es mehrere Faktoren wie veranlagungs-, milieu- und gesellschaftsbedingte, aber auch dynamische und situative Faktoren, die – wenn sie in unterschiedlicher Inten¬sität zusammenspielen – kriminelles Verhalten und Gewaltkriminalität auslösen kön¬nen. Unabhängig davon, dass der Rückgang der Rate bei den Tötungsdelikten nicht geleugnet werden kann, dass Gewaltquoten in der Gesellschaft nicht stabil sind und dass Makroverbrechen in modernen Gesellschaften nicht ständig vorkommen, erhielt der Gewaltbegriff im Lauf der Zeit eine zunehmend negative Bedeutung. Der öffent¬liche Gewaltdiskurs, der sich meistens auf die Gewaltkriminalität bezieht, wird ver¬ständlich, wenn „[...] die Interessen berücksichtigt werden, aus denen heraus Gewalt zum Thema gemacht wird“ (Walter, 2008: 52). Einerseits wird anhand von zahlreichen Phänomenen – z. B. Gewalt an der Schule, Gewalt gegen Frauen und gegen ältere Menschen – eine zunehmende Gewaltpräsenz in der Wahrnehmung und Bewertung der Menschen erzeugt sowie ein fortschreitender Sensibilisierungsprozess in Gang gebracht, der sich auf die Anzeigebereitschaft sowie auf die polizeiliche Bericht¬erstattung positiv auswirkt. Andererseits werden polizeiliche Angaben über Gewalt¬ereignisse simplifiziert und polarisierend medial wiedergegeben, so dass schärfere Sanktionen gefordert werden und kriminologische Erkenntnisse, die auf die Wirkungslosigkeit von höheren Strafandrohungen hinweisen, unberücksichtigt bleiben. Die öffentliche Darstellung des Gewaltthemas birgt darüber hinaus Gefahren: Das Wissen, dass man mit einer Tat weltweit bekannt werden kann, vermag sich unter¬stützend auf die Begehung von schweren Straftaten auswirken und Trittbrettfahrer sowie Imitationstäter gleichermaßen anlocken. Zudem sinkt dadurch die strafrechtliche Toleranzmarge, vor allen Dingen bei der Jugendkriminalität, die als eine zentrale Bedrohung für die Gesellschaft inszeniert wird und die sich durch das ständige Wiederholen stabilisiert.

Anzeigeverhalten, Strafanzeigen, polizeiliche Ermittlungsarbeit werden – wie bereits erwähnt – aufgrund der zunehmenden Sensibilisierung der Öffentlichkeit zwar be¬günstigt und lassen die in der PKS dargestellte Gewaltkriminalität ansteigen, de facto haben sie mit der Wirklichkeit aber nichts zu tun (vgl. Kriminalitätstrichter, Hellfeld-Dunkelfeld-Problematik). Der in der Gesellschaft fortschreitende Sensibilisierungs¬prozess ist aufgrund einer Anzahl offener Fragen i. B. auf Gewalt und Gewaltkrimi¬nalität nicht leicht zu beantworten. Was erklärt uns z. B. die andauernde Faszination am Charisma der Gewalt? Anhaltspunkte können die zunehmende Bedeutung der Medien, aber auch die zunehmende Abhängigkeit der Kriminalpolitik von den Massen¬medien sein. Eine symbolische Politik trägt darüber hinaus zur Aufklärung des tatsächlichen Sachverhalts wenig bzw. gar nichts bei. Gewalt wird im politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf (vgl. Scheerer) zum gesellschaftlichen Marketing¬artikel. Sie wird zum Massenphänomen bzw. -produkt, das sich kulturell verankern lässt und wodurch sich westliche Gesellschaften hinsichtlich Liberalität, Freiheit und Sicherheit nachhaltig verändern werden. Bedenklich ist diese Veränderung, wenn eine „[...] Re-Theologisierung von Politik um sich greift, um staatliche Gewalt im Innern wie nach Außen zu legitimieren“ (Heitmeyer, 2004: 14), so wie es in den USA zu beob¬achten ist. Überdies scheitern viele Erklärungsmodelle und Theorien beim Versuch, Kausalzusammenhänge zwischen Umwelt, Täter, Tat und Motiv(en) herzustellen. In zahlreichen Studien wurde deutlich, dass viele Menschen aus demselben Milieu und Elternhaus und mit demselben Trauma weder straffällig noch deviant geworden sind.

Gewaltdelikte sind sehr komplex und in ihren Darstellungen und Einschätzungen kommt es im Wesentlichen darauf an, aus welchem Kontext über sie berichtet wird. Zu vorurteilsbasierten Wahrnehmungen kommt es z. B. regelmäßig beim Thema Auslän¬der und Kriminalität, und der Kampf gegen Gewaltkriminalität gipfelt nicht selten in einem Kampf gegen Ausländer. Es wird ausgeblendet, dass Ausländer bei Gewalt¬delikten auch zur Opfergruppe gehören. Gleichgültig wie weit oder eng die Begriffe „Gewalt“ und „Gewalt-Kriminalität“ definiert werden, es sind Sammelbegriffe, hinter denen sich eine Vielzahl von Delikten unterschiedlichster Erscheinungsformen verbergen und die sich in der Schwere der Deliktsfolgen, der Motivationslage, der Tätergruppen unterscheiden.

Von daher gilt es, Debatten zu unterstützen, in denen das Thema „Gewalt“ differenziert und sachlich behandelt wird. Auf der anderen Seite ist das Theorien- und Methodenreservoir der Gewaltforschung kritisch zu hinterfragen, auch ob es ausreicht, Erkenntnisfortschritte bei den neuen Formen von Gewalt (Stalking, Amok, Cybermobbing, Snuffing, Happy Slapping) zu erzielen.

Unabhängig davon, wie vielfältig Gewaltdelikte und Kriminalitätsursachen und wie endlos die darüber einsetzenden Debatten sind, die potenziellen Opfer interessieren sich für Kriminalitätsbekämpfungsmaßnahmen und für ihre Sicherheit. Im Strafrecht wie in der Kriminologie werden die beiden Pole Gewalthandlung und Gewaltprävention deshalb auch zunehmend aus einer viktimologischen Sicht betrachtet und nach dem sogenannten „Erfolg“ gefahndet. Die Verdienste der Viktimologie, besonders auf dem Gebiet der häuslichen Gewalt, sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben.


Literatur

  • Albrecht, Günter (Hg), et al (2001): Gewaltkriminalität zwischen Mythos und Realität, Frankfurt a. M.
  • Benjamin, Walter (1965): Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a. M.
  • Bornewasser, Manfred, Junge, C. (2006): Prävention gegen Rechts: Nötiger und schwieriger denn je. In: Forum Kriminalprävention, Heft 3, S. 29–32.
  • Füllgrabe, Uwe (1975): Persönlichkeitsanalyse, Stuttgart.
  • Galtung, Johan (1975): Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek b. Hamburg.
  • Heitmeyer, Wilhelm, Soeffner, Hans-Georg (2004): Gewalt – Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt a. M.
  • Kunz, Karl-Ludwig (2008): Kriminologie, Bern.
  • Popitz, Heinrich (1986): Phänomene der Macht, Tübingen.
  • Scheerer, Sebastian (1978): Der politisch-publizistische Verstärkerkreislauf. In: Krimino¬logisches Journal 10, S. 223–227.
  • Thome, Helmut, Birkel, Christoph (2007): Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität, Wiesbaden.
  • Tipke, Klaus (1998): Innere Sicherheit und Gewaltkriminalität, München.

Walter, Michael (2008): Gewaltkriminalität, München.

Weblinks

[Gewalt in Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Gewalt]