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Über die Ambiguität des Begriffs Männlichkeit (engl. masculinity) herrscht allgemeiner Konsens. Auch darin, dass Männlichkeit in einem sozialen Prozess von doing gender bzw. doing masculinity hergestellt wird, der verschiedene Formen von Männlichkeiten hervorbringt und dass Männlichkeit sowohl in Relation zu als auch in Abgrenzung von Weiblichkeit existiert. Demzufolge ist es treffender von Männlichkeiten zu sprechen, die sich in einem dynamischen Prozess fortwährend neu formieren.

Einleitung

Männerforschung ist eine interdisziplinäre Forschung über Männer als Geschlechtswesen, männliche Lebenswelten und Männlichkeiten im historischen wie im soziokulturellen Kontext. Impulsgebend für die deutsche Männerforschung sind u. a. die men’s studies aus den USA und aus Großbritannien. Zu den bedeutenden Männlichkeits-Modellen zählen: Das Patriarchats-Konzept von Hearn/Morgan, Bourdieu’s Habitus-Konzept sowie Connell’s Konzept der hegemonialen Männlichkeit. Hervorzuheben sind die Forschungen von Meuser im Bereich doing gender/doing masculinity sowie der geschlechts-soziologische Ansatz im Kontext von masculinity and crime von Messerschmidt. Theoretische Grundlagen sind: 1. Der psycho-analytische Ansatz, der sich auf klinisch-therapeutisches Wissen stützt. 2. Der rollentheoretische Ansatz mit der Unterscheidung von biologischem Geschlecht (sex) und sozialem Geschlecht bzw. der Geschlechtsidentität (gender). 3. Der anthropologische, historische und soziologische Ansatz, der sich aufgrund der Männerbewegung und der Geschlechtsrollenpsychologie entwickelte und der die Vielfältigkeit und Veränderbarkeit von Männlichkeit (Connell 1999) einbezieht. 4. Der konstruktivistische Denkansatz von Judith Butler, der in den Diskursen zum „neuen Mann“ diskutiert wird. Butler kritisiert die vorherrschenden gender categories und betrachtet die Unterscheidung sex und gender neu.

Begriffsdefinitionen

Die australische Soziologin Raewyn Connell (1999), ehemals Robert W. Connell, differenziert vier Hauptdefinitionen: 1. Die essentialistische Definition, die sich mit männlichen Charakterzügen wie Aktivität, Rationalität, Risikofreudigkeit befasst. 2. Die positivistisch- sozialwissenschaftliche Definition. Diese Definition negiert das soziale Geschlecht. Geschlechtsunterschiede werden homogen und statisch festgelegt. 3. Normative Definitionen, sie liegen den Geschlechtsrollentheorien zugrunde und behandeln Männlichkeit als eine soziale Norm für männliches Verhalten. 4. Semiotische Definitionen, sie beschreiben Männlichkeit mit Nicht-Weiblichkeit und als einen Ort symbolischer Autorität, männliche Erfahrungs- und Lebensfelder werden nicht erfasst. Connell empfiehlt eine geschlechtsrollenunabhängige Definition von Männlichkeit, die das vergeschlechtlichte Leben von Männern und Frauen berücksichtigt, d. h. das Leben im Geflecht von sozialen Interaktionen, Zuschreibungen und Erwartungen. In diesem Kontext ist Männlichkeit eine Position im Geschlechterverhältnis und eine kulturelle Determination, also eine verbindliche Anweisung, wie Mann zu sein hat.

Männlichkeit: Täterschaft und Opferwerdung

Hellfeld- und Dunkelfelddaten zeigen, dass bei der Gewaltkriminalität sowohl die Täterschaft als auch die Opferwerdung bei Jungen und Männern höher ist als bei Frauen.

Hellfelddaten

Lt. Polizeilicher Kriminalstatistik 2011 (PKS) sind Männer bei den Tatverdächtigen (TV) im Bereich der Gewaltkriminalität mit 74,6% pro 100 000 Einwohner vertreten: Erwachsene (ab 21 Jahren) mit 74,9%, Heranwachsende (von 18–21 Jahren) mit 10,1%, Jugendliche (von 14–18 Jahren) mit 10,8% und Kinder (unter 14 Jahren) mit 4,3%. Männliche Opfer sind mit ca. 64% bei Mord, Totschlag, Raub, räuberische Erpressung und Körperverletzung vertreten. Männliche Jugendliche im Alter von 14–18 Jahren sind von Sexual-, Raub- und Körperver-letzungsdelikten und Männer zwischen 21–60 Jahren von Tötungsdelikten, Raub und Straftaten gegen die persönliche Freiheit überdurchschnittlich betroffen. Die Strafvollzugsstatistik bestätigt den hohen männlichen Anteil: Unter insgesamt 60 693 Strafgefangenen sind ca. 95% männlich.

Dunkelfeld-Jugendstudien

Die repräsentative Dunkelfeldstudie „Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt“ vom Kriminologischen Forschungs-institut Niedersachen (KfN), das seit 1998 Studien zur Jugenddelinquenz durchführt, basiert auf einer standardisierten Befragung zu den Themenkomplexen Gewalt, Schulschwänzen, Drogen- und Medienkonsum. An der Befragung 2007/2008 beteiligten sich insgesamt 44 610 Schüler der 9. Jahrgangsstufe aus 61 Landkreisen und kreisfreien Städten Deutschlands.

Im Rahmen von Viktimisierungserfahrungen wurden die Delikte Raub, Erpressung, sexuelle Belästigungen, sexuelle Gewalt und (schwere) Körperverletzung unterschieden, die Lebenszeit-prävalenz, das Alter der erstmaligen Viktimisierung und die Anzahl an Vorfällen in den letzten zwölf Monaten. Es lässt sich festhalten: Jungen weisen bei Körperverletzungen, Raubtaten und Erpressungen eine hohe Opferquote auf. Niedrige Opferraten finden sich bei deutschen, südamerikanischen, russischen und türkischen Jugendlichen. Elterngewalt wird sowohl von Müttern als auch von Vätern in nahezu gleichen Teilen ausgeübt. Bei den Misshandlungsraten zeigen sich Geschlechtsunterschiede: Die Rate der misshandelten türkischen Jungen beträgt das 1,3-fache im Unterschied zu den misshandelten türkischen Mädchen. Gewalterlebnisse durch Eltern häufen sich besonders in der Kindheit.

Jugendliche Täterschaft wurde anhand von Vandalismus, Ladendiebstahl, Graffitisprühen, Verkauf von Raubkopien, Fahrzeugdiebstahl, Einbruch, Drogenhandel, (schwere) Körperverletzung, Raub, Erpressung, sexuelle Gewalt erfasst: Von den Befragten waren ein Drittel der Befragten delinquent. Der Jungenanteil liegt 1,9mal über der Delinquenzrate von Mädchen. Bei den Gewaltdelikten ist der Jungenanteil 3,2mal so hoch. Geschlechtsunterschiede sind in allen erhobenen Deliktbereichen markant, außer beim Ladendiebstahl. Sowohl eine Opfer- als auch Tätererfahrung ist bei Jungen mit 40,7% etwa doppelt so hoch wie bei Mädchen mit 20,3%. Bei den deutschen Jugendlichen beträgt dieser Wert 42,7%, bei den Migranten 36,8%. Nicht-deutsche Jugendliche neigen in einem höheren Maß zu Gewalt als deutsche Jugendliche.

Höhere Täterraten bei männlichen Jugendlichen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien wiesen bereits Enzmann/Brettfeld/Wetzels (EBW) in der repräsentativen Schülerbefragung im Jahr 1998 nach, die mit der sozialen Lage bis zu einem gewissen Grad erklärt werden konnten. Aufgrund der Annahme, dass es über die soziale Lage hinausgehende geschlechtsspezifische und für bestimmte Migrantengruppen wirksame Faktoren gibt, entwickelten die Forscher auf der Basis von Männlichkeitsmodellen und in Anlehnung an das Konzept Culture of Honor (Nisbett/Cohen 1996) – das unterschiedliche Gewaltkriminalitätsraten zwischen den Nord- und Südstaaten der USA zu erklären versucht – eine aus acht Items bestehende Skala von gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen (GLMN) als Indikator für eine Kultur der Ehre: 1. Ein richtiger Mann ist stark und beschützt seine Familie. 2. Ein Mann, der nicht bereit ist, sich gegen Beleidigungen mit Gewalt zu wehren, ist ein Schwächling. 3. Als Vater ist ein Mann das Oberhaupt der Familie und darf sich notfalls auch mit Gewalt durchsetzen. 4. Wenn eine Frau ihren Mann betrügt, darf der Mann sie schlagen. 5. Ein Mann sollte bereit sein, Frau und Kinder mit Gewalt zu verteidigen. 6. Einem Mann als Familienvater müssen Frau und Kinder gehorchen. 7. Ein richtiger Mann ist bereit, sich mit körperlicher Gewalt gegen andere durchzusetzen, die schlecht über seine Familie reden. 8. Männern sollte es erlaubt sein, Schusswaffen zu besitzen, um Familie oder Eigentum zu beschützen. Die Antwortmöglichkeiten in der GLMN-Skala reichen von „lehne vollkommen ab“ bis „stimme vollkommen zu“. Zur inhaltichen Prüfung der GLMN-Skala wurden zwei Fallvignetten mit Reaktionsneigungen der Jugendlichen auf ehrverletzende Erlebnisse erhoben. Zur empirischen Prüfung des theoretischen Modells kam es im Jahr 2000 in der multizentrischen Studie „Männlichkeitsnormen und die Kultur der Ehre“ i. R. von Gewalt- und Eigentumsdelinquenz mit Schülern der 9. und 10. Jahrgangsstufen. Gestützt auf 11 000 Befragungsdaten zu Opfererfahrungen und selbstberichteter Delinquenz lässt sich festhalten: Die Prävalenzdaten männlicher Jugendlicher i. B. auf selbstberichtete Delinquenz liegen 3- bis 4mal höher wie bei den Mädchen. Bei Gewaltdelikten sind Jungen überdurchschnittlich vertreten. Bei den türkischen Jugendlichen finden sich die höchsten Zustimmungsraten zu den GLMN. Zwar weisen männliche Jugendliche einen höheren GLMN-Wert auf als weibliche Jugendliche, jedoch findet sich bei beiden Geschlechtern ein ähnliches Muster, was auf eine Beeinflussung der Mädchen hinweist. Im Weiteren wurde auch bei einheimischen Jugendlichen aus Familien mit niedrigerem sozio-ökonomischen Status eine stärkere Zustimmung zu den GLMN festgestellt.

Erklärungsversuche

Ehre, Ehrbedrohung und GLMN

Gewalthandlungen waren in der Culture of Honor akzeptiert. Sie dienten dem Erhalt der Gesellschaften. Andererseits verschafften sie den Männern persönliches Ansehen und Macht. Ehrhaftigkeit bildete ein bestimmtes männliches Kapital, die wenn nötig mit Gewalt und zwecks der kulturellen Übereinstimmung verteidigt werden muss. Daraufhin nahmen EBW für die höhere Delinquenzbelastung männlicher Jugendlicher mit Migrationshintergrund Folgendes an: 1. Auch in modernen Gesellschaften entwickeln sich Kulturen der Ehre und bestehen weiter. 2. Zunehmende sozio-ökonomische Benachteiligung, ethnische Segregation, äußere und innere Kulturkonflikte können männliche Jugendliche veranlassen, sich selbst und die jeweilige Gruppe präventiv zu schützen, wodurch traditionelle, hegemoniale Männlichkeitskonzepte internalisiert werden. 3. GLMN korrespondieren mit der Besonderheit der Bewältigung jugendspezifischer Entwicklungs-phasen. 4. Jugendliche entwickeln in den peergroups, in denen es zu Macht-, Dominanz- und Statuskämpfen kommt, jedoch eine milieu-spezifische Kultur der Ehre, die mit dem Modell von Nisbett/Cohen, das unter historischen und ökonomischen Bedingungen entstanden ist, nicht erklärt werden kann. Ein Zusammenhang zwischen der Internalisierung der GLMN und der eigenen Täterschaft bestätigten sich sowohl in der empirischen Prüfung von EBW im Jahr 2000 als auch in der Schülerbefragung 2007/2008 (KfN-Studie): Eine Zustimmung ist über alle Migrantengruppen hinweg bei den männlichen Befragten höher als bei den weiblichen, und die Täterraten liegen bei jenen, die den GLMN zustimmen, deutlich höher als bei jenen, die diesen Normen neutral oder ablehnend gegenüberstehen. Bei Jugendlichen türkischer Herkunft ist zwar eine größere Zustimmung nachgewiesen worden. Eine Zustimmung zu den GLM tritt allerdings auch bei Einheimischen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status auf (s. o.).

Accomplishing Gender

Accomplishing gender oder Bewerkstelligung von Geschlecht beschreibt sichtbare konfrontative Auseinandersetzungen mit gewaltförmigem Charakter durch die Aufrechterhaltung des Status der Ungleichheit zwischen Mann und Frau sowie von Männern untereinander im System der hegemonialen Männlichkeit. Daraus resultierende deviante und delinquente Verhaltensweisen werden als Teilhabe an hegemonialer Männlichkeit aufgefasst. Das Streben nach diesem Männlichkeitsideal ist nach Kersten (1997) besonders in marginalisierten Populationen groß, wodurch Jungen und junge Männer der underclass Lebensrisiken eingehen. Männliche Domänen des essentiellen Handelns sind: 1. Die Nachwuchssicherung (Erzeugen), 2. Kontrolle des sozialen Nahraums und dessen Schutz gegen Feinde (Beschützen), 3. Sicherstellung der Versorgung (Versorgen). Diese Domänen formen kulturelle Leitbilder, die alters- und schicht-spezifische Erwartungen beinhalten. Besonders statusniedrige, ungebundene und junge Männer aus prekären, bildungsfernen Verhältnissen mit Sozialisationsdefiziten befinden sich in einem virulenten Kreislauf: Die hetero-sexuelle Potenz ist für die Nachwuchssicherung genauso unter Beweis zu stellen wie die Fähigkeit zum Kämpfen und Beschützen. Die Beschaffung von statushohen Gütern und deren öffentliches Zur-Schau-Stellen als Beweis ihrer Versorgerqualitäten initiiert riskante Lebensweisen, deviante Peergroup-Aktivitäten und beinhaltet Kriminalisierungsrisiken (Kersten 1997, S.107–108). Sie werden in sozialen Drucksituationen eingegangen aufgrund von fehlenden Zugängen zu legitimen Mitteln. Reaktanz gegenüber Entbehrlichkeit sowie Defianz gegenüber Etablierten erhöhen zudem den Zuspruch, illegitime Mittel einzusetzen. Jungen und junge Männer geraten so in anomische Zustände, in denen der Gegenentwurf zum männlichen Leitbild entsteht, nämlich abweichende, gefährliche Männlichkeiten.

Innerfamiliäre Gewalt- und Missbrauchserfahrungen

Die Frage nach der zukünftigen Täterschaft und Opferwerdung in Folge frühkindlicher Gewalt- bzw. Missbrauchserfahrungen wird heterogen diskutiert. „Gesichert ist die Tatsache, daß ein hoher Anteil sexuell mißbrauchter Jungen unter jugendlichen Straffälligen, unter männlichen Psychiatriepatienten, Strichjungen, Drogenabhängigen […] zu finden ist und daß erwachsene Täter oft schon in ihrer Jugend durch sexuellen Missbrauch an Gleichaltrigen oder Kindern aufgefallen sind“ (Bründel/Hurrelmann, S. 99), wobei die Entwicklung vom Opfer zum Täter nicht zwingend ist und maßgeblich von der Unterstützung abhängt, die Jungen bekommen. Zum anderen weist die KfN-Studie nach, dass die höchsten Gewalttäterraten bei Jugendlichen liegen, die in ihrer Kindheit und Jugend schwere Gewalt oder häufiger leichte Gewalt (mehrmals pro Monat) erlebt haben und eine stärkere Zustimmung zu GLMN aufweisen. Die hohen Opferraten bei Jungen und Männern lassen annehmen (s. KfN-Studie), 1. dass sich Elterngewalt auf eine gesunde sozio-emotionale Entwicklung von Jungen und Männern mehrfach negativ auswirkt, 2. dadurch Beeinträchtigungen bestimmter Hirnregionen verursacht werden, 3. dass innerfamiliäre Gewalt- und Missbrauchs-erfahrungen in der Kindheit das Risiko einer Opferwerdung in der Jugend erhöhen wie auch das spätere Risiko, selbst Gewalt anzuwenden und 4. die Abwesenheit der Väter in der Erziehung der Jungen für die Entwicklung der Geschlechtsidentität schädigend ist (Hagemann-White 1984). Problematisch an dem traditionellen, meist im familiären Umfeld vermittelten Männlichkeitsbild – Ein Mann muss stark und mächtig sein – ist einerseits, dass nur wenige Männer dieser geforderten Norm von Härte und Unabhängigkeit entsprechen. Andererseits verkümmern emotionale Kompetenzen, Gefühle von Ohnmacht und Unzulänglichkeit dominieren, wodurch Männer selbst einen Teil ihres Menschseins abspalten und entwerten. Anhand des Konzepts „Entgrenzung der Männlichkeit“ beschreibt der Sozialisationstheoretiker Lothar Böhnisch (2003) diesen Abspaltungsprozess, wodurch die Lebenslage des Mannes insgesamt bewältigungs-problematisch wird und ein wie immer geartetes (Kriminalisierungs-)Risiko darstellt – im Gegensatz zu Connell, welche die Krise in der modernen Geschlechterordnung auf Legitimationsprobleme der sog. „alten Männer“ zurückführt, wodurch sich Gewalt entladen kann.

Resümee und Kritik

Erklärungen für die hohen männlichen Täter- und Opferraten ergeben sich durch die Dunkelfeld-Jugendstudien und durch accomplishing gender im Bereich der Jugenddelinquenz und Devianz der underclass. Ingesamt kann festhalten werden, dass in der BRD in bestimmten Milieus Männlichkeitsvorstellungen und -konzepte existieren, die Gewalt zur Verteidigung von Ehre und als Reaktion auf Selbstwertbedrohungen legitimieren: Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, Gewaltdelikte zu begehen. Jugendliche mit ausgeprägten GLMN finden sich auch in der Gruppe der autochthonen Deutschen. In diesen Fällen ist eine erhöhte Gewaltdelinquenz nachweisbar (Enzmann/Brettfeld/Wetzels, S. 285). Zusätzlich kann sich eine Zustimmung zu GLMN auch aufgrund von den in den jeweiligen Sozialisationsinstitutionen vermittelten und angeeigneten Orientierungsmustern (Bestrafungen und Gewalt) und Traditionen ermöglichen, die nicht hinterfragt an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Grundsätzlich ist jedoch vor einer kulturalistischen Deutung i. B. auf eine Zustimmung zu den GLMN zu warnen. Unklar bleibt zudem, „[…] inwieweit die jugendspezifische Verbundenheit mit einer derartigen ‚Kultur der Ehre’ auch tatsächlich eine Hinwendung zu kollektivistischen Orientierungen impliziert […]“ (Enzmann/Brettfeld/Wetzels, S. 283). Obwohl sich traditionell verwurzelte Männlichkeits-vorstellungen transformieren können, wenn es darum geht, sich in einer modernen Konsumgesellschaft zur Partizipationsoptimierung anzupassen, streben besonders Jugendliche der underclass nach Teilhabe und nach dem hegemonialen Männlichkeitsbild. Im Druck, die männlichen Handlungsdomänen zu erfüllen, gehen sie zuweilen enorme Lebens- und Kriminalisierungsrisiken ein, wofür Messerschmidt und Kersten Erklärungen liefern. Kersten erörtert u. a. in Anlehnung an Messerschmidt's Hyptohese (s. Krienert's quantitative Untersuchung) eine milieu-spezifische Kultur der Ehre und erweitert nach meinem Dafürhalten das Modell Culture of Honor.

Das Erklärungsmodell der KfN-Studie fasst im Bereich jugendlicher Mehrfachtäterschaft im Übrigen folgende Ursachenfaktoren zusammen: GLMN, intensives Schulschwänzen, gewalthaltige Medien, erlebte Elterngewalt, delinquente Freunde und Alkohol- und Drogenkonsum. Da jedoch die Vielfältigkeit sozialer Interaktionen bei Jungen und Männern sowie das breite Spektrum der männlichen Gewaltkriminalität durch monolithische Vorstellungen von einer Geschlechtsidentität und statischen Auffassungen der männlichen Geschlechtsrolle nicht umfassend erklärt werden können, bedarf es weiterer Täter- und Opferforschungen u. a. im Bereich von Erwachsenen bei schwerer Gewaltkriminalität, White-Collar-Crime, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Weitere kriminologische Theorien wie z. B. die General Strain Theory von Agnew, die Anomie-Teorie von Merton, die allgemeine Kriminalitätstheorie von Braithwaite, der Seducations of Crime-Ansatz von Jack Katz können hierzu fruchtbare Erklärungen liefern. Die beiden sozialpsychologischen Forschungsexperimente von Pillip Zimbardo (1971) und Stanley Milgram aus dem Jahr 1961 sind als wegweisende Erkennntnisquellen i. R. von situativen und kontextbezogenen Faktoren hervorzuheben. Auch historische (Dinges 2005, Neitzel/Welzer 2011), sozialisationstheoretische Erkenntnisse (Böhnisch 2003/2004, Hageman-White 1984) und neue Ansätze aus der Neuro-Psychologie (Elbert 2010) bieten Ansätze für weitere Forschungen.

Literatur

  • Agnew, R., Foundation for a general strain theory of crime and delinquency, in Criminology 30, Vol. 30 No. 1, S. 47–87, Atlanta, 1992
  • Böhnisch, L., Die Entgrenzung der Männlichkeit, Opladen, 2003
  • Böhnisch, L., Männliche Sozialisation, Weinheim und München, 2004
  • Bourdieu, P., Die männliche Herrschaft, Frankfurt a. M., 2005
  • Bründel, H./Hurrelmann, K., Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann, Stuttgart, 1999
  • Butler, J., Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M., 1991
  • Connell, R. W., Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen, 1999
  • Dinges, M., Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt am Main, 2005
  • Elbert, T. / Weierstall, R. / Schauer, M., Facination violence: on mind and brain of man hunters, in: European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience, 260, S. 100–105, 2010
  • Hagemann-White, C., Sozialisation: weiblich – männlich?, Opladen, 1984
  • Hearn, J./Morgan, D.H.J., Men, Masculinities and Social Theory, London, 1990
  • Katz, J., Seductions of Crime. Moral and sensual attractions in doing evil, New York, 1988
  • Kersten, J., Risiken und Nebenwirkungen: Gewaltorientierungen und die Bewerkstelligung von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ bei Jugendlichen der underclass, in: Krasmann, S./Scheerer, S. (Hg.), Die Gewalt in der Kriminologie. Kriminologisches Journal, 6. Beiheft, S. 103–114, 1997
  • Merton, R. K., Sozialstruktur und Anomie, in: Sack,F./König, R. (Hg.): Kriminalsoziologie, 3. Aufl., S. 283–313, Wiesbaden, 1979
  • Messerschmidt, J. W., Masculinities and Crime. Critique and Reconceptualization of Theory. Boston, 1993
  • Meuser, M., Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Wiesbaden, 2010
  • Meuser, M., Gewalt, hegemoniale Männlichkeit und doing masculinity, in: Löschper, G./Smaus, G. (Hg.), Patriarchat und Kriminologie. Kriminologisches Journal, 7. Beiheft, S. 49–65, 1999
  • Milgram, S., Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Reinbek, 1974
  • Neitzel, S./Welzer, H., Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben,Frankfurt am Main, 2011
  • Nisbett, R. E./Cohen, D., Culture of Honor. The Psychology of Violence in the South, Colorado/Oxford, 1996
  • Schumann, K. F., Delinquenz im Lebensverlauf. Bremer Längsschnittstudie zum Übergang von der Schule in den Beruf bei ehemaligen Hauptschülern, Band 2, Weinheim, 2003
  • Zimbardo, P., Der Luzifer-Effekt. Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen, Heidelberg, 2008

Weblinks