Benutzer:Katrin S.

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Kritik der strafenden Vernunft [1] bezeichnete Sebastian Scheerer[2] einen von ihm 2001 verfassten Artikel in der Zeitschriftenreihe „Ethik und Sozialwissenschaften – Streitforum für Erwägungskultur“.

S. Scheerer setzt sich in diesem Artikel kritisch mit der sozialen Institution „Strafe“ auseinander. Scheerers Annäherung aus verschiedenen (wissenschaftlichen) Perspektiven heraus bzgl. der Entstehung, Entwicklung, den Umgang mit und der Funktion von Strafe wird in diesem Beitrag illustriert.

Der Artikel Scheerers liefert einen Beitrag hinsichtlich der Überlegungen, inwieweit Strafe/das Strafrecht in der jetzigen Form noch zu rechtfertigen ist. Sebastian Scheerer hinterfragt vor dem Hintergrund aktueller Strafe(zweck)theorien, ob Strafe Sinn macht. Er eröffnet einen kritischen Blick auf die lange als vernunftgeleitet betrachtete Institution „Strafe“.[3]

Zusammenfassung der Kritik der strafenden Vernunft

Muss Strafe sein ?

Seit längerer Zeit sei die Verbindung von Verbrechen und Strafe als „Zwillingspaar“ in geistes-, sozial und rechtswissenschaftlichem Denken allgegenwärtig. Grundsätzlich dränge sich die Frage auf, ob eine gesellschaftliche Ordnung ohne Strafe denkbar wäre. Die Vorstellung von Normalität, wenn nicht Natürlichkeit der Strafe ist denn auch der mächtigste Stützpfeiler dieser sozialen Institution[1]

Scheerer führt beispielhaft klassische literarische Werke, die großen Utopien der Weltliteratur[2] an, die zwar bspw. Normtreue gratifizierende Systeme beschreiben, jedoch allesamt nicht auf die Institution der Strafe verzichten würden. Ausgehend vom Gedanken, dass der Mensch, durch den Zeitgeist bestimmt und in seiner Phantasie begrenzt ist, scheine gesellschaftliche Ordnung ohne Strafe undenkbar (gewesen).

Scheerer leitet über zu den Erziehungswissenschaften im 19. Jahrhundert, innerhalb derer ein gesellschaftlicher Konsens entstanden sei, die pädagogische Strafe (bspw. die Schläge mit dem Rohrstock) abzuschaffen. Noch einige Jahrzehnte zuvor sei die körperliche Züchtigung als Form der Verhaltensregulation als unverzichtbar angesehen gewesen. Damit führt er in die Richtung, eine kritische Betrachtung der Strafe wäre nun zeitgemäß.[3]

Strafe muss sein

Scheerer illustriert die Geschichte der Straftheorien und zeigt Argumente bzgl. des Rechtfertigungsbedürfnisses von Strafe auf, das seit je her Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaften bemüht habe.(Anmerkg. Verf.: siehe hierzu auch Wolfgang Naucke und das Beccaria-Schema und Peter Strasser und die Beccaria-Falle)

Zusammengefasst seien benannt

  • Die Absicht, jemandem (als Strafe) Übel zuzufügen, sei widersprüchlich dem modernen christlichen Denken, Böses mit Gutem zu überwinden
  • Die vertikale, befehlsartige Ausrichtung von Strafe, die sich quer zu unserer modernen, mehr funktional differenzierten, weniger nach Befehl und Gehorsam funktionierenden, offenen Gesellschaft verhalte und deshalb deren Aktualität in Frage stelle
  • Das Skandalon, dass es sich bei der Mehrheit der Bestraften um Personen handele, für die der Staat evtl. früher mehr hätte tun können/sollen (Stichwort "soziale Ungleichheit")
  • Dem für Strafe postulierten Prinzip der Reziprozität, das von struktureller Inkongruenz überschattet werde und damit den Widerspruch aufzeige, „gegen Kriminalität“ wirken zu wollen, diese jedoch auch schaffe

Nachdem Scheerer grundlegende Zweifel an der Aktualität des (modernen) Strafrechts und dessen Rechtfertigungsgründe eingeführt hat, beleuchtet er die geschichtlichen und u.a. (rechts)philosophischen Hintergründe und deren Einfluss auf die Gesetzgebung und die Entstehung des Strafrechts.

Scheerer begründet die Entwicklung des Strafrechts mit der Regelung von Konflikten und der Sicherung von (ungleich verteilten) Gütern. (Straf)-recht dien(t)e beiden Zwecken. Scheerer schreibt, eine Auseinandersetzung mit der Sache an sich, dem pädagogischen Zweck der Strafe, sei nur unzureichend erfolgt. Das Strafrecht gebe zwar im Wesentlichen vor, pädagogische Zwecke zu erfüllen; dass jedoch eine kritische Diskussion darüber, wie effektiv das Strafrecht in Bezug auf die Umsetzung des pädagogischen Zweckes sei, ausbleibe, wertet Scherer als Hinweis dafür, dass es letztlich beim Strafrecht nicht eigentlich um Pädagogik denn vielmehr um Sicherung der Herrschaft der privilegierten Klassen ginge. Erst heute, da es Kritikern möglich ist, das Strafrecht zu kritisieren ohne drakonische Strafen zu riskieren, könne eine kritische Auseinandersetzung mit dessen Zweck und Funktion erfolgen.


Zur Geschichte der Strafe

Die Geschichte des Strafrechts zeige Veränderungen von Gesellschaften, Traditionen und Zeitgeist. Naturrechte und „göttliches Recht“ (das Mittelalter verstünde Verbrechen als eine Sünde gegen Gott) veränderten sich, hin zu einer Normierung, die „Gesetz von Gesetz wegen“ erkläre. Bereits in der römischen Spätantike seien Straftheorien und deren Legitimation aus dem geschriebenen Recht (ratio scripta) unumstössliche Notwendigkeiten gewesen. Humanismus und Renaissance gingen von einem säkularisierten Weltbild aus, das sich von seinen religiösen Bezügen gelöst hätte und nunmehr das Individuum in den Mittelpunkt stelle.

Eine Form des Rechtspositivismus habe daraus entstehen können, die Jahrhunderte Bestand hatte, sich in sich verändert habe und mitunter drastische Folgen in der praktischen Anwendung und Durchführung von Recht nach sich gezogen hätten. Die Rechtswissenschaften seien in nicht unwesentlicher Form mit der Philosophie verbunden.

Für Hobbes stelle es ein Verbrechen dar, dass der profan denkende Bürger sich bezüglich der öffentlichen Vernunft ein Bild zu machen versuche. Auch Kant argumentiere rigoros und um der Ordnung Willen, im Sinne der Notwendigkeit und Unanfechtbarkeit der Straftheorien. Hegels Einfluss auf die Entwicklung der Jurisprudenz sei dahingehend, dass der Staat als Wirklichkeit schaffendes Organ diene und die Strafe als Ordnung herstellendes und einforderndes Mittel zwangsläufig gut und sinnvoll sei. Die Strafe, das sei die Unterwerfung unter die Rechtsherrlichkeit und man brauche sie, um die Herrlichkeit des Gesetzes auszudrücken.

Scheerer erwähnt hier den damaligen Stand der Erziehung und Politik. Wenn die Rechtfertigung der Strafe immer wieder ganz zwanglos zu gelingen scheint, dann hat das also nicht unbedingt mit der Qualität der Argumente zu tun[4].

Zu Zeiten des Marburger Programms habe das Strafrecht dann eine Veränderung erlebt, weg vom Vergeltungsgedanken hin zu einer Zweckmässigkeit des Strafens und des Rechts, um der gerechten Strafe willen – damit sei ein neuer Gedanke aufgekommen, der die Auswirkungen und Hintergründe von Strafe im Sinne einer strafenden Vernunft völlig anders betrachten liesse.

An dieser Stelle des Artikels greift zunehmend die eigentliche Kritik der strafenden Vernunft Scheerers. Strafe rechtfertigende Gedanken führt Scheerer nun ad absurdum.

Scheerer argumentiert, Strafe sei kein kulturelles Erbe und nicht universalistisch. Er zieht unter anderem die Betrachtung akephaler Gesellschaften hinzu, die Strafe nicht im Sinne der Absonderung und Exklusion praktizierten, sondern Alternativen dazu bedienten, um Normtreue innerhalb von Gemeinschaften herzustellen.[4]


These: Strafe ist kein kulturelles Erbe der Menschheit

Scheerer vereint Erkenntnisse verschiedener Disziplinen zu dem Schluss, dass Strafe nicht zwingend notwendige Institution für Gesellschaften oder Gemeinschaften sei. Genüge das Argument der „Transzendenz“ nicht mehr zur Rechtfertigung, diene die nächst höhere Stufe als Versuch der Rechtfertigung, die soziologisch ausgerichteten Argumentation.

In akephalen Gesellschaften seien Verhaltensabweichungen, die der Gemeinschaft schadeten, lediglich gebüßt, nicht bestraft worden. Die vermutete „Universalität“ der Strafe (für den Menschen als zoon politicon[5]) sei ein von Völkerkundlern und Soziologen des 19. Jhdts begründeter Mythos.

So konnte lt. Scheerer keine Disziplin jeher die Universalität der Strafe und ihrer Verankerung im (Straf)-recht nachweisen. Die angeführten Argumente, Strafe diene den gesellschaftlichen Gerechtigkeitserwartungen, also der Gesellschaft (und nicht der Kontrolle der Gesellschaft), würden hinfällig, wenn keine Alternativen auffindbar seien.

Scheerer zweifelt die These der unabdingbaren Notwendigkeit des Strafrechts, im Hinblick auf nationale und transnationale Gesetzgebung, an.

Heute lässt sich der Stand des Wissens so zusammenfassen: Strafrecht und Kriminalstrafen sind keine universalen Formen sozialer Kontrolle. In herrschaftsfreien Gesellschaften, die immerhin für die längste Zeit der Menschheitsgeschichte charakteristisch waren, existieren sie nicht. Soziale Kontrolle ist hier nicht repressiv, sondern zielt auf Reintegration des Abweichenden, Wiedergutmachung eventueller Schäden, Wiederherstellung des status quo, Pazifizierung und Konfliktbegrenzung. Erst mit den sozialen Klassen, mit Herrschaft, und mit staatlicher Organisation der Gesellschaft entstehen antagonistische Konflikte, die nicht mehr im Interesse der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder oder gar des ganzen Kollektivs gelöst werden können. [6]

Er zeigt auf, dass Strafe im Grunde unvernünftig ist, jedoch logisch, betrachtet man das nach dem Prinzip der Reziprozität funktionierende Ziel der Sicherung der Klassengesellschaft. Scheerer negiert Strafe nicht einfach, sondern hinterfragt infolge ihre Bedeutung und ausdifferenzierten Funktionen.


  • Exkurs: Strafe ist aber auch nicht bloß verkappte Rache

Scheerer grenzt Strafe noch von Rache ab, indem er das Argument der unterschiedlichen „Rechte“ als ein zentrales im Unterschied von Rache zu Strafe nennt und eine weitere Hierarchie manifestierende Ebene einbringt. Wo Rache eher dyadisch erscheint, d.h. auf gleicher Ebene beruhend erfolge, zeige sich Strafe triadisch. Strafe brächte zusätzlich (zu den beiden für Rache und Strafe geltenden Momenten des Vergangenheitsbezugs, der Retrospektion, und der Hoffnung auf andere Zukunft) eine Ebene der Über-, und Unterordnung mit ein. Der Bestrafende scheine dazu das Recht zu haben.

Ein weiterer Unterschied zur Rache sieht Scheerer darin, dass im Bereich der Strafe die Opferperspektive und dessen Wunsch nach (rächender) Vergeltung (entgegen einem Prinzip der Reziprozität) mit eine Rolle spiele. Diese werde verstaatlicht. Darin sieht Scheerer einen Widerspruch. Im modernen Strafgedanken solle Strafe nicht dem Zweck der Vergeltung dienen, sondern die Dimensionen des Zwecks der Abschreckung, positiver Generalprävention und Spezialprävention (negativer Generalprävention) erfüllen.

Scheerer stellt die These auf, dass der schlechte Ruf der Rache auch dazu diene, die Strafe als kleineres Übel und die bessere Alternative erscheinen zu lassen. Er hinterfragt die Institution der Rache und vor diesem Hintergrund die Annahme, ob die Menschheit wirklich in Selbstzerstörung mündete, würde das Strafrecht abgeschafft. Scheerer vollführt nun den Kreisschluss zu einer nochmaligen Überprüfung der Strafe anhand ihres postulierten Zwecks. Er betrachtet die Zwecke der Abschreckung, der positiven und negativen Generalprävention und Spezialprävention und den etwaigen Zweck der Sicherung von Klassenungleichheiten zugunsten bestimmter Klassen kritisch und befasst sich dann mit Gedanken zu Alternativen.

These: Als Steuerungsinstrument ist die Strafe nicht erforderlich

Betrachte man die hinsichtlich ihres Zweckes variierenden Strafformen, ergebe sich zwangsläufig einerseits die Diskussion um deren Verhältnis zu einander. Zum anderen folgere die Notwendigkeit der Überprüfung, inwieweit Strafe ihren offiziellen Zweck erreiche. Scheerer zieht zuvorderst den Bereich der Spezialprävention heran. Empirisch belegbar sei, dass das Ziel der Resozialisierung durch die erfolgte Ausgrenzung konterkariert wird. (vgl. Kapitel "Muss Strafe sein - Rechtfertigungsbedürfnisse)

Im Bereich der Abschreckung scheine Strafe zwar nicht bei allen, jedoch bei einigen Individuen dahingehend zu funktionieren, dass sie vom Begehen von Straftaten abgehalten würden. Hinsichtlich der Betrachtung des Strafrechts als Steuerungsinstrument werde wohl lediglich auf die Wirkung des Strafrechts gebaut. Die meisten Rechtsgüter seien bereits durch andere Rechtsbereiche (wie das Zivilrecht, etc.) abgesichert und bedürfen dem Strafrecht nicht (d.h. Abschreckung funktioniere ebenso über andere Bereiche und rechtfertige damit nicht das Strafrecht).

Scheerer zeigt auf, dass das Prinzip der Abschreckung nicht immer seinen Zweck erfülle. Abschreckung versuche, mit geringen Mitteln größtmögliche Wirkung zu erzielen, was oftmals verfehlt würde. Betrachte man die (schlechte) Resozialisierungswirkung des Strafrechts und die unsichere Abschreckungsquote, ergebe sich die Suche nach weiteren Zwecken des Strafrechts als die instrumentellen, da Strafrecht sonst fragwürdig erschiene. Scheerer findet sich nun im Bereich des symbolischen Zweckes des Strafrechts wieder.


These: Strafe als Markierung des Raumes der Freiheit

Strafe funktioniere demnach hauptsächlich symbolisch als eine expressive Markierung moralischer Grenzen im Sinne einer Markierung dessen, was mit dem Stigma der objektivierten Unerträglichkeit für die gesamte Rechtwissenschaft belegt werden solle. Laut Scheerer stellt das Argument der Darstellung von Handlungsbewertungen die Hauptfunktion von Strafrecht dar, mehr, als dass sie dem postulierten Zweck der Verhaltensänderung diene.


  • Exkurs: symbolisches Strafrecht

Die symbolische Funktion des Strafrechts besteht laut Scheerer in der

  • Ziehung moralischer Grenzen
  • der Bewahrung moralischer Grenzen und der Wiederherstellung des Systemvertrauens und
  • der Darstellung eines Vorbilds humanen Umgangs mit Abweichung.

Scheerer stellt heraus, dass dieser Absolutismus der Ächtungserklärung die Repulsivität des Verbrechens wiederspiegele. Die Straffolgen für den Täter und unbeteiligte Dritte blieben unbeachtet. Strafe erlebe absolute Souveränität, ihre eigenen (negativen) Folgen würden in Kauf genommen und damit die Ernsthaftigkeit der Verletzung und der Reaktion darauf unterstrichen. Dem notwendigen "Ahnden" der Tat würde Raum gegeben.

Scheerer unterscheidet Strafgesetze danach, inwieweit ihre Anwendung den Vorsatz der unabdingbaren Notwendigkeit erfüllen. Er sieht dies nicht in jedem Fall als erwiesen und schlussfolgert daraus, nicht jedes Strafgesetz sei legitim. In symbolischem Strafrecht sehe er einen Missbrauch der Strafe, bspw. dann, wenn Strafe angewandt werde, um Handlungsentschlossenheit der Regierung zu demonstrieren oder um über seine Anwendung Unwerturteile in einer Gesellschaft zu erzeugen. Scheerer hält das Strafrecht für ungeeignet, um moralsch-ethische Grenzen zu vermitteln.

Scheerer hebt hervor, dass bestimmte Taten durchaus als strafwürdig gesehen werden können, jedoch das „ultima ratio-Prinzip“ (Anmerkung der Verf.: des klassischen Strafrechts)zu überprüfen sei. Die Frage um die Klärung evtl. Alternativen zum wirksamen Schutz der angegriffenen Rechtsgüter stelle sich an.

Sebastian Scheerer sieht diesbezüglich die rechtsprechung und gestezgebung in der Pflicht. Diese Aufgabe sieht Scheerer sowohl in der Politik, als auch in Justiz und Wissenschaften ungenügend verfolgt. Über Alternativen, also darüber, ob das Strafrecht in jedem Fall wirklich erforderlich ist, wird nicht ersichtlich nachgedacht[5].


These: Besseres als Strafe ist keine Utopie

Strafe markiere Böses und sei in ihrer Moralität, Expressivität und absolutistischen Autorität spezifisch (wert-)rational. Als die zentrale Frage stelle sich bei der Überlegung zur Aktualität der Strafe heraus, inwieweit Strafe noch notwendig wäre, würde es Alternativen geben, die ohne die Mängel (und Nachteile) der Institution Strafe auskämen.

Scheerer argumentiert bei seiner Betrachtung der Alternativen auf Grundlage der aktuellen (veränderten) Form der (ausdifferenzierten, individualisierten, multikulturellen) Gesellschaft dahingehend, dass eine direkte Steuerung „von oben“ obsolet sei. Eine strukturelle Kopplung erscheine sinn-, und wirkungsvoller.

Die Steuerung von Prozessen, (negotiated regulations, officially sponsored indigenous laws,Prozeduralisierung, reflexives Recht, „responsive law“, Relationierungsprogramme, Vernetzung semi-autonomer Felder) erscheine (auch im systemtheoretischem Kontext) als sinnvoll, um Selbststeuerungsprozesse anzustossen und zu begleiten. Der Fokus läge hier auf dem Prozess, nicht dem (Erzwingen) eines Ergebnisses. Die Bürgerrechte seien so besser geschützt.

Scheerer nimmt ebenso wieder den Vergleich zur Pädagogik und Psychologie auf. Kein Pädagoge versuche Verhaltensänderungen über Zwang und Lähmung zu erreichen. Es sei mittlerweile verbreiteter Konsens, dass eine Erreichung des Abweichlers über Zwang wohl eher in Widerstand und Polarisierung oder Unerreichbarkeit, eben dem Gegenteil dessen, was beabsichtigt gewesen sei, münde.

Auch vermisse er die Betrachtung der Auswirkungen der strafrechtlichen Prozesse auf das Opfer, deren Erleben und das (resultierende schwindende Vertrauen in Behörden). Ein tatsächliches „Empowerment“ des Opfers, nicht eine Vereinnamung der Opferrolle als Argument punitiven (Punitivität) Vorgehens des Staates bedeute ein Verschwinden des Strafrechts. Strafe wäre veraltet. Scheerer sieht die Aufgabe des Staates eher dahingehend, dass bei Unrecht eine Wahrung der Garantie auf Einhaltung von Verfahrensprinzipien (Normvalidierung) bei gleichzeitiger Öffnung in Richtung auf die verstärkte Anerkennung originär zivilgesellschaftlicher Konfliktregelungskulturen und –kompetenzen (Subsidiarität) zweckdienlich sei. Der Staat wäre Dienstleister und Clearingstelle (Ombudsmann), Appellationsinstanz und nicht länger Herr des Verfahrens. Die Konfliktparteien würden bspw. entscheiden über Relevanz und Gewichtung dessen, was betrachtet würde, nicht mehr die Chefideologen der strafrechtlichen Kontrollorgane. Die Annahme, dass das Strafrecht zwischen Ordnung und Chaos stünde, negiert er, auch mit dem Argument, dass auch derzeit trotz nicht strafrechtlich erfasster, im sog. Dunkelfeld verbliebener Delikte sich die Gesellschaft nicht „auflöse“.

Scheerer fügt hinzu, dass eine kritische Betrachtung der Wissenschaften Sinn mache, da diese ebenso nicht immer dem Argument der Vernünftigkeit folgten.


Kritik der Kritik

Unter Bezugnahme auf den Hauptartikel Scheerers setzten sich unterschiedliche Autoren mit den behandelten Thesen und Ausführungen, sowohl widersprechend als auch ergänzend und zustimmend, auseinander. Um den hier vorliegenden Artikel zu begrenzen sei an dieser Stelle auf die Originalliteratur verwiesen.[7]

Kriminologische Relevanz

Inwieweit Strafe noch gerechtfertigt erscheint und in welcher Form, ist für die Kriminologie eine zentrale Frage. Beschäftigt sich die Kriminologie als aktualitätsbezogene Wissenschaft doch immer mit der Frage des Umgangs mit abweichendem Verhalten, erscheint eine kritische Auseinandersetzung mit der Institution „Strafe“ vor ihren (postulierten und vermuteten) Rechtfertigungen interessant.

Eine kleine Zusammenfassung eines Artikels des Leiters des Institutes für kriminologische Sozialforschung kann sicherlich (auch nicht nur für in Ausbildung befindliche Personen (kriminologisch)) interessant und inspirierend sein.

Literaturangaben

  • (Hrsg.) Henner Hess, Lara Ostermeier und Bettina Paul, Texte zur Kriminalpolitik im Anschluss an David Garland, in: KrimJ, kriminologisches Journal, 39. Jg., 9. Beiheft 2007
  • (Hrsg.) Klaus Lüderssen und Fritz Sack, Seminar: Abweichendes Verhalten IV Kriminalpolitik und Strafrecht, Suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1980
  • Heinrich Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen, 1980
  • (Hrsg.) Helge Peters, Muss Strafe sein ? Zur Analyse und Kritik strafrechtlicher Praxis, Westdeutscher Verlag, Studien zur Sozialwissenschaft, 1993,
  • (Hrsg.) Arbeitskreis Junger Kriminologen, Theorie der Kriminalpolitik: zwischen Abolitionismus und Neoklassizismus ?, KrimJ 1.Vj.83 B21375 F 1/1983, Juventa Verlag, 1983
  • Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, suhrkamp Taschenbuch, 1973
  • Nils Christie, Kriminalitätskontrolle als Industrie Auf dem Weg zu Gulags westlicher Art , Centaurus-Verlagsgemeinschaft, Pfaffenweiler Forschungen zur Kriminalpolitik, Band 10, 1995
  • Monika Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion Beziehungen zwischen Rechtsphilosophie, Dogmatik, Rechtspolitik und Erfahrungswissenschaften, Dunker & Humblot, Berlin, Schriften zum Strafrecht, Heft 71, 1987
  • (Hrsg.) Rüdiger Lautmann, Daniela Klimke und Fritz Sack, Punitivität, in: KrimJ 36. Jg., 8. Beiheft 2004, Juventa Verlag, 2004
  • David Garland, Kultur der Kontrolle-Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart, Campus Verlag Frankfurt/New York, 2001
  • (Hrsg.) Kaiser/Kerner, Sack/Schellhoss, Kleines kriminologisches Wörterbuch, UTB Birkhäuser Verlag Basel, 1985

weblinks

  1. Sebastian Scheerer, Kritik der strafenden Vernunft, http://ebookbrowsee.net/scheerer-2001-kritik-der-strafenden-vernunft-pdf-d245225717, S. 69
  2. Sebastian Scheerer, Kritik der strafenden Vernunft, http://ebookbrowsee.net/scheerer-2001-kritik-der-strafenden-vernunft-pdf-d245225717, S. 69
  3. auffällig ist, daß im Bereich der gesetzlichen Normen und besonders im Strafrecht (neg.) Sanktionen vorherrschen, vgl. Kerner 1985, S. 367, was in Sachen Zweckmässigkeit des Strafrechts oftmals Gegenstand fachlicher Auseinandersetzung geworden ist. Jedoch wird ebenso konstant bemerkt, dass die Berücksichtigung anderer Disziplinen, wie der Kriminologie, noch immer als zu gering (bzw. wieder geringer) eingeschätzt wird.(vgl. Jäger 1980)
  4. http://ebookbrowsee.net/scheerer-2001-kritik-der-strafenden-vernunft-pdf-d245225717
  5. http://ebookbrowsee.net/scheerer-2001-kritik-der-strafenden-vernunft-pdf-d245225717 S.75