Beccaria-Schema

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Dass Cesare Beccaria in der Geschichtsschreibung des Strafrechts routinemäßig und stereotyp als besonders verehrungswürdige Figur hervorgehoben wird, produziert und reproduziert laut Wolfgang Naucke (2005: XIII ff.) das Beccaria-Schema. Dieses Schema verleiht der Vergangenheit wie auch der Gegenwart einen schönen Anstrich, der zugleich die Lücken und Schwächen in der Argumentation Beccarias und die negativen Seiten der heutigen Realität der Kriminalpolitik verdeckt.

Merkmale des Beccaria-Schemas sind:

  • Beccaria war einer der großen Bewirker der neueren Strafrechtsgeschichte und zugleich ein Pionier moderner Kriminalpolitik, der frühzeitig Forderungen aufstellte, die noch heute als Grundprinzipien aufgeklärter Kriminalpolitik Bestand haben. Dass wir in der Gegenwart ein säkulares, liberales und humanes Strafrecht haben, verdanken wir ihm und seinem epochemachenden und weltbewegenden Werk Dei delitti de delle pene, das heute "zum geistigen Gemeingut der zivilisierten Welt" zählt (Eberhard Schmidt). Wilhelm Alff (1966: 40): "Beccaria ist der Begründer der modernen Rechtszivilisation genannt worden. Mögen indessen die meisten seiner Forderungen erfüllt sein: losgelöst von der Gesinnung, der einst sie entsprachen, bleiben sie noch als erfüllte diesseits der Schranke, die zwischen den Menschen und der Menschlichkeit errichtet wurde."
  • Verbrechen und Strafe sind keine Angelegenheiten der Religion oder der Metaphysik, sondern der Gesellschaft. Straftaten sind sozialschädliche Handlungen und Strafen dienen der Abschreckung und damit der Vorbeugung von weiteren sozialschädlichen Handlungen.
  • Zweck der Strafgesetzgebung ist das größte Glück der größten Zahl. Der Staat wird durch den Gesellschaftsvertrag zur Bestrafung sozialschädlichen Verhaltens ermächtigt.
  • "Nützlich sind Verbrechensbestimmung, Strafe und Strafprozess nur, wenn die präventive Notwendigkeit nicht überschritten wird. Das Verbrechen muss gesetzlich bestimmt werden, sonst leidet die Abschreckung. Die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative müssen getrennt werden, denn sonst ist das größte Glück der größten Zahl nicht zu sichern. Die Justiz muss unabhängig sein, damit das Strafgesetz ohne Ansehen der Person seine abschreckende Wirkung entfalten kann. Im Prozess muss die Unschuldsvermutung beachtet werden; Prozesse gegen Unschuldige schaden der Prävention. Die Strafen müssen verhältnismäßig sein, sonst verrohen sie die Bürger. Strafprozess und Strafvollstreckung müssen öffentlich sein, damit der Bürger weiß, was ihn erwartet, wenn er ein Verbrechen begeht. Die nützliche Abschreckung verlangt, dass die Strafe möglichst schnell auf das Verbrechen folgt. Alle Strafschärfungen, die der Verbrechensvorbeugung nicht dienen, sind zu lassen. Die Todesstrafe ist für die Vorbeugung nutzlos, muss abgeschafft werden und abgeschafft bleiben. Die Folter garantiert die Wahrheit einer Aussage nicht; Verurteilungen aufgrund erzwungener Geständnisse schwächen die Verbrechensvorbeugung; die Folter muss abgeschafft werden und abgeschafft bleiben" (Naucke 2005: XV).

Kritik

Selbstbetrug

Die heutige Realität stellt - anders als vom Beccaria-Schema unterstellt - nicht die Realisierung der Ideale des Aufklärers dar. Die Todesstrafe ist ebenso wenig verschwunden wie die Folter. In vielen Fällen zeigt das Strafrecht "eine ungebremste, säkulare, rationale Grausamkeit, als hätte es Beccaria nie gegeben" (Naucke 2005: XVII). Das Beccaria-Schema dient dazu, sich ein geschöntes Bild von der Realität zu machen und so zu tun, als sei alles in Ordnung.


Inhärente Schwächen von Beccarias Argumentation

Das Beccaria-Schema ist nicht vollkommen falsch, verabsolutiert aber gewisse Züge des Reformers, "verdinglicht" sie gewissermaßen und verdeckt vor allem entscheidende Widersprüche und Schwächen in der Begründung für "humane" Reformen des Strafrechts, die das Bild des Reformers deutlich verdunkeln. Letztlich nämlich wird die Humanisierung des Strafens als Königsweg der Effektivierung des Strafens legitimiert - Humanität ist also deshalb wünschenswert, weil sie auch nützlicher für die Gesellschaft ist. Das Problem dieser Begründung (von Peter Strasser als Beccaria-Falle bezeichnet) ist das unglückliche Verhältnis von Wert- und Zweckrationalität: der Wert der Humanität ist nur dann durchsetzungsfähig, wenn das Humane auch zugleich das Nützliche ist. Wo das aber nicht der Fall ist, geht dann (selbstverständlich) die Zweckmäßigkeit vor. Wenn der Verzicht auf die Todesstrafe zu einem rasanten Anstieg der Kriminalität führt - muss man dann die Todesstrafe nicht schleunigst wieder einführen? Das Beccaria-Schema vermeidet die Thematisierung dieses Problems zugunsten einer "monumentalischen" Historie, die das Vorbild verehrt, aber nicht analysiert.

"Es ist auffällig, dass Beccarias wohlklingende Ergebnisse überall nachzulesen sind, die Begründungen Beccarias für diese Ergebnisse jedoch vernachlässigt werden (...) Beccaria begründet seine bis heute weitergehenden strafrechtlichen Forderungen mit der natürlichen, nützlichen und wahren Funktionstüchtigkeit des Strafrechts, getragen vom Gefühl für Humanität" Dies freilich seien keine Begründungen, sondern nur "Abbildungen einer kriminalpolitischen Mentalität" (Naucke 2005: XIX).


Todesstrafe

"Beccaria wird dafür gerühmt, dass er sich gegen die Todesstrafe gewandt hat. Dieser Ruhm ist nicht zu schmälern. Man muss jedoch genau hinsehen (...). Für Staatsfeinde wollte er sie ohne lange Ausführungen beibehalten und präventiv angewandt wissen (S. 49). 'Staatsfeind' ist ein so ungenauer Begriff, dass er die Todesstrafe nicht begrenzen kann. Die häufigen politischen Ausnahmesituationen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts produzieren immer neue todeswürdige Staatsfeinde.
Die Begründung für die Abschaffung der Todesstrafe in weiten Bereichen des Strafrechts ist bei Beccaria von politisch fahrlässiger Oberflächlichkeit. Das Argument, man dürfe die Todesstrafe nicht vollstrecken, weil der Verurteilte im Gesellschaftsvertrag in seine Tötung durch den Staat nicht eingewilligt habe (S. 11; 48 f.), ist eine im schlechten Sinne akademische Überlegung; sie rettet keinem zum Tode Verurteilten das Leben.
Das Hauptgewicht in Beccarias Argumentation gegen die Todesstrafe liegt auf einer anderen Erwägung. Die Todesstrafe sei für den Staat nicht nützlich. Die Tötung nehme dem Herrscher einen vielleicht noch verwendbaren Untertanen. Die Vollstreckung habe auf andere mögliche Täter keine präventive Wirkung. (...) Beccarias Vorschlag ist: lebenslange Knechtschaft bei härtesten Arbeitsbedingungen, 'Fesseln und Ketten unter Schlagstock und Joch oder in eisernem Käfig' (S. 51 f.), öffentlich vollstreckt; diese Organisation wirke auf den Betrachter. Das ist die säkularisierte Hölle" (Naucke 2005: XXVI).

Folter

"Beccaria wir dafür gerühmt, dass er die Abschaffung der Folter verlangt und mitbewirkt hat. Auch dieser Ruhm wird ihm bleiben. Aber es darf, wie bei der Todesstrafe, nicht vergessen werden, dass Beccarias Forderung so schlecht begründet war, dass die Folter bis heute als Mittel der Informationserlangung bei Devianz immer mitgedacht wird.
Beccarias Hauptargument ist wiederum, die Folter sei im Prozess nicht nützlich. Es sei unsicher, ob Foltern zu wahren Aussagen führe. Der Bürger, der von der Folter höre oder die Anwendung der Folter sehe, werde vor eigenen möglichen Taten nicht abgeschreckt, sondern eher verroht (S. 31 ff.). Die Leichtgewichtigkeit dieses Arguments erschreckt. Mit wenigen einfachen Zügen ist es zu schwächen. Die tatsächlichen Behauptungen, die es tragen, sind unüberprüfbar und durch die gegenteiligen Behauptungen außer Kraft zu setzen. So geschieht es bis heute.
Der Beginn dieses Geschehens liegt bei Beccaria selbst. Er kennt und teilt die Sorge des Kriminaljustizsystems vor dem Verlust eines überführungsfähigen Beweismittels. So will er an die Stelle der Folter bei Verweigerung von Antworten im Verhör 'eine gesetzlich festzusetzende Strafe (setzen), und zwawr eine Strafe, die zu den strengsten gehört, die das Gesetz kennt, damit die Menschen nicht auf diese Weise die Notwendigkeit des Exempels verweigern, das sie der Öffentlichkeit schuldig sind" (S. 29).
Der Ruhm Beccarias an dieser Stelle verhindert, wie bei der Todesstrafe, dass man sich um festere Begründungen für die Forderung nach einer absoluten Ächtung der Folter bemüht. Das Verbot der Folter im positiven Recht ist keine solche festere Begründung" (Naucke 2005: XXVIII).

Fazit

Beccarias Strafrecht ist gesetzlich, relativ, rational, präventiv und säkular. Human ist es nicht. Kritisch ist es gegen ein nicht-säkulares, d.h. nicht-präventives Strafrechts. Diese Kritik hat keinen Gegenstand mehr. - Das rationale, relative, säkulare, präventive Strafrecht bei Beccaria und im Beccaria-Schema hat gegen sich selbst keine Möglichkeit der Kritik. 'Von den Verbrechen und von den Strafen' enthält die prinzipielle Strafrechtsbeurteilung nicht, die man in dieser Schrift sieht. Die elementaren Probleme des Strafrechts sind ungeklärt. Vielleicht hat man sich zu sehr auf Beccaria verlassen. Das ist kein Einwand gegen Beccaria, aber gegen seine in Bewunderung verharrenden Interpreten" (Naucke 2005: XLIII).

Eine humane Begrenzung des Strafens ist mit Beccarias Argumentation allein nicht zu garantieren. "Das geht nur mit Kants 'Metaphysik der Sitten' von 1797: der Mensch dürfe nicht als Mittel zu den Zwecken von Staat und Gesellschaft benutzt werden, wogegen ihn seine angeborene Würde schütze" (Naucke 2005: XXVII).

Zur Frage, inwiefern der Begründungs-Modus, den Beccaria anwandte, für die Kriminalpolitik auch heute noch kennzeichnend (und fatal) ist, siehe Peter Strassers Beccaria-Falle.

Literatur

  • Naucke, Wolfgang (2005) Einführung. In: Cesare Beccaria, Von den Verbrechen und von den Strafen (1764). Aus dem Italienischen von Thomas Vormbaum. Berlin: BWV I-XLVI).