Normvalidierung

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Unter Normvalidierung versteht man die Bestätigung der tatsächlichen Geltung einer Norm. Der Begriff verweist auf die Notwendigkeit von Mechanismen, mit deren Hilfe soziale Normen in ihrer Gültigkeit (validity) bestätigt und auf diese Weise faktisch am Leben erhalten werden. Sebastian Scheerer hat den Begriff verwendet, um auf die Ersetzbarkeit von Strafe durch eine „prozeduralisierte expressive Normvalidierung“ aufmerksam zu machen.


Begriffserläuterung

Als Normen in einem sozialen Sinne können Beurteilungsmaßstäbe und verbindliche Vorschriften für menschliches Verhalten bezeichnet werden, die gesellschaftlichen Ursprungs und für menschliches Miteinander unerlässlich sind. Nach Durkheim existieren soziale Normen auf gesellschaftlicher Ebene unabhängig von einem konkreten Individuum und beeinflussen dieses in seinem Verhalten. Von einer Norm im sozialen Sinne kann einerseits nicht gesprochen werden, wenn von ihr überhaupt nicht abgewichen werden kann, da sie dann überflüssig wäre. Wenn andererseits zu oft abgewichen wird, wird die Abweichung zur Norm. Eine Norm als Grundpfeiler von sozialer Kontrolle kann daher schon begrifflich nur vorliegen, wenn Abweichungen möglich, aber nicht zu häufig sind. Die Häufigkeit der Abweichungen ist nicht unveränderlich, so dass die Wirkungsmacht einer sozialen Norm Schwankungen unterworfen ist. Unter Validierung lassen sich dann solche Mechanismen oder Maßnahmen verstehen, die dazu dienen oder dienen sollen, Einbußen an Wirkungsmacht auszugleichen bzw. die tatsächliche Geltung einer Norm möglichst hoch zu halten.

Derzeitige Mechanismen der Normvalidierung

Neben der weltanschaulichen oder religiösen Wertevermittlung ("Du sollst nicht töten") sind es vor allem staatliche Mechanismen und Maßnahmen, die funktional oder expressiv der Validierung von Normen in kriminologisch relevanten Bereichen dienen oder dienen sollen. Die Validierung erfolgt durchweg auf negative Art und Weise, d.h. die Befolger einer Norm haben keine Vorteile, wohl aber die Abweicher Nachteile zu erwarten.

Aufdeckung eines Normverstoßes

Die Aufdeckung eines Normverstoßes durch Strafverfolgungsorgane, also dessen Bekanntmachung an einen größeren Kreis von Adressaten, bewirkt zweierlei: Zum einen wird die Verletzbarkeit der Norm publik, zum anderen wird jedoch auch dem Normbrecher und potentiellen anderen Normbrechern signalisiert, dass sie mit ihrem Verhalten gegen vorherrschende Erwartungen verstoßen (haben) und dass dies vor allem auch den Trägern solcher Erwartungen bekannt werden kann. Wer gegen Erwartungen "der Gesellschaft" verstößt, läuft Gefahr, an deren Rand gedrängt oder ganz ausgeschlossen zu werden. Letztlich dienen damit Maßnahmen, welche die Aufdeckungswahrscheinlichkeit von Normverstößen erhöhen, der Normvalidierung. Mit Popitz ist allerdings davon auszugehen, dass eine Norm bei Aufdeckung aller Verstöße gegen sie Gefahr liefe, gänzlich an Verbindlichkeit zu verlieren. Das richtige Maß der Aufdeckung von Verstößen trägt somit wesentlich zur Validität einer Norm bei.

Strafrecht

Scheerer hat den Begriff der Normvalidierung im Zusammenhang mit der Legitimation von Strafrecht diskutiert. Für diese Legitimation werden allgemein verschiedene Begründungen von Abschreckung, Sicherung bis hin zur Besserung (Spezialprävention, Generalprävention) herangezogen. Der einzig (noch) denkbare legitime Zweck der Strafe sei allerdings nach Scheerer in ihrer symbolischen, expressiven Markierung moralischer Grenzen zu sehen. Ihre Hauptaufgabe sei die Darstellung von Handlungsbewertungen, nicht die Herstellung von Verhaltensänderungen. Strafe markiere den Kern-Raum der individuellen Freiheit und die Linie, von der an sich der Staat der Verteidigung des Individuums und seiner Freiheit mit aller Macht annehme. Durch diese symbolische Markierung des Bösen läge die Legitimität der Strafe in ihrer wertrationalen Expressivität. So gesehen erfolgt die Validierung von Normen durch das Strafrecht also nicht nur, indem sie durch Einwirkung auf (potentielle) Normbrecher möglichst funktional vor Verletzungen geschützt werden sollen, sondern indem auch die Norm selbst durch ihre symbolische Bekräftigung gestärkt wird.

Schuldprinzip

Das deutsche Strafrecht regelt zum einen, welche Handlungen derart von bestimmten Erwartungen abweichen, dass sie als Rechtsfolge eine Bestrafung nach sich ziehen. Zum anderen wird über das Schuldprinzip nicht nur festgelegt, wann jemand die Verantwortung für sein Tun trägt, es wird damit auch mittelbar festgestellt, dass die Ursache der Abweichung beim Handelnden liegt. Dieser trägt die Verantwortung für sein Verhalten, wenn er Einsicht in das "Unrecht" seines Handeln hatte und sich dennoch dafür entschieden hat, obwohl er auch anders hätte handeln können (vgl. §§ 17, 20 StGB). Es ist keinesfalls zwingend, als letzte identifizierbare Ursache der Normabweichung eine (zumindest bedingt) freie Willensentscheidung des Individuums zu sehen. Ebenso denkbar wäre es, die Normabweichung der "Natur" bzw. einer göttlichen Gewalt zuzuschreiben oder aber das Augenmerk darauf zu legen, dass einer Handlung selber nichts "Abweichendes" innewohnt, sondern dass die Abweichung vielmehr erst von außen zugewiesen wird (labeling approach). Indem aber das Strafrecht (in erster Linie durch das Schuldprinzip) die Ursache einer Normverletzung beim "Täter" verortet, wirkt es auf subtile aber gleichwohl wirksame Weise normvalidierend. Mittelbar ergibt sich diese Wirkung aus einer Förderung der gesellschaftlichen Akzeptanz und Durchsetzbarkeit von Strafmaßnahmen, die ihrerseits normvalidierend sind. Wenn auch der Zweck des Strafens in erster Linie mit präventiven Erwägungen begründet wird, so läßt sich doch der (auch) repressive Charakter einer Strafe nicht leugnen. Diese repressive Wirkung trifft durch das Postulat der freien Wahl zwischen Recht und Unrecht auf breitere gesellschaftliche Zustimmung. Der Täter ist, umgangssprachlich ausgedrückt, "selber schuld". Das Schuldprinzip wirkt aber auch unmittelbar normvalidierend. Indem die Ursache einer abweichenden (bzw. einer "schlechten" oder "bösen") Handlung in der Willensentscheidung des Täters gesehen wird, wird sie auch dessen Bestandteil. Dieser wird, zumindest zum Teil, "schlecht" oder "böse" und läuft damit Gefahr, Ziel von Aggressionen und gegebenenfalls vernichtet zu werden. Mit der Aktivierung der Angst des Individuums vor der Vernichtung wird sich so durch das Schuldprinzip auf gesellschaftlicher Ebene eine mächtige psychologische Kraft zur Normvalidierung zunutzen gemacht.

Strafvollzug

Als Form der Normvalidierung kann auch der Strafvollzug angesehen werden, also die Vollziehung von Freiheitsstrafen. Zum einen können die Inhaftierten bestimmte Normen für die Dauer ihrer Inhaftierung zumindest nicht im Verhältnis zur "Allgemeinheit" brechen (negative Spezialprävention). Auch sollen sie durch den Strafvollzug auf ein künftiges Leben ohne Straftaten vorbereitet werden (positive Spezialprävention). Die wahre Kraft des Strafvollzuges zur Normvalidierung liegt aber wohl außerhalb der Begründung des Gesetzgebers: Wenn nach Scheerer ein wesentlicher Zweck des Strafens darin besteht, auf gesellschaftlicher Ebene symbolhaft auszudrücken, dass eine Norm trotz der Möglichkeit zur Abweichung im Einzelfall Bestand hat, dann erfüllt sich dieser Zweck durch den Strafvollzug besonders effektiv. Das Gefängnis kann als weithin sichtbare und dauerhafte Markierung des "Bösen" angesehen werden. Auch seine Insassen, die mit ihrer Inhaftierung von Vätern, Ehefrauen, Mittelständlern usw. zu Gefangenen werden, sind symbolhafte Träger des Normbruchs und seiner Folgen.

Prozeduralisierte expressive Normvalidierung als denkbare Alternative

Eine Normvalidierung ist wohl zumindest in einem bestimmten, eng umgrenzten Bereich (dem hypothetischen Kernstrafrecht), notwendig. Die gegenwärtige Form der strafrechtlichen Normvalidierung kann als materiell bezeichnet werden, denkbar wäre jedoch auch eine eher prozeduralisierte Normvalidierung, für die Scheerer plädiert. Deren Verbindlichkeit resultiere weniger aus der Autorität der Strafgewalt als aus der Sicherstellung der Anerkennbarkeit und Anerkennung von Prozeß und Ergebnis. Ein eigener Strafanspruch des Staates sei nicht erforderlich, dieser sei gegenüber dem Opferinteresse subsidiär und daher kaum noch aufrechtzuerhalten. Im autoritären Staat und im autoritären Recht gebe es keine Alternative zu der Vorstellung, dass Normen und Werte nur im Rahmen einer bipolaren Autoritäts-Demonstration validiert werden könnten. Je weniger autoritär jedoch Staat und Recht seien, desto stärker werde die vertikale Bipolarität von pluripolaren und "einbeziehenden" Prozessen der Normvalidierung verdrängt. Der Staat wäre dann nicht untätig, aber er wäre Dienstleister für den Prozeß der Normvalidierung, nicht Herr dieses Verfahrens. Dazu sei notwendig, dass der Staat seine Rolle reduziere auf eine Garantiemacht für die Einhaltung von Verfahrensprinzipien bei gleichzeitiger Öffnung in Richtung auf die verstärkte Anerkennung originär zivilgesellschaftlicher Konfliktregelungskulturen und - kompetenzen. Die Konzeptualisierung einer Unrechtshandlung als Angelegenheit zwischen Täter und Opfer würde auch zu vermeiden helfen, die schwache Stellung des Opfers zu perpetuieren, wie das durch die Strafe geschehe, indem sich die Strafgewalt selbst als das eigentliche Opfer einer Straftat gerieren könne. Anders als eine staatszentrierte Verarbeitung von Unrecht validiere eine subjektzentrierte Alternative die Normgeltung nicht per Autorität, sondern auf komplexerem, dafür aber wirkungsvollerem, weil weithin mitgetragenem und nachvollzogenem Weg. Als Modell für ein derartiges Vorgehen nennt Scheerer den parlamentarischen Untersuchungsausschuß.

Literatur

Durkheim, Emile (1985) Die Regeln der soziologischen Methode, Suhrkamp - Frankfurt am Main.

Schäfers/Kopp, Hg. (2006) Grundbegriffe der Soziologie, 9. Auflage, Wiesbaden.

Scheerer, Sebastian: Kritik der strafenden Vernunft, in: Ethik und Sozialwissenschaften, 2001, 69-83.

Popitz, Heinrich (1968) Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, Tübingen.

Wagner, Georg (1985) Das absurde System - Strafurteil und Strafvollzug in unserer Gesellschaft, Heidelberg.