Labeling Approach

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- in Bearbeitung -

1. Der Begriff label (engl.) n geht auf das Alt-Französische label, lambel (später lambeau) zurück und wurde dort wahrscheinlich von dem Fränkischen labba oder dem wortverwandten lappa aus dem Alt-Hochdeutschen abgeleitet. Ursprünglich bedeutete er soviel wie Fetzen oder Lumpen und wurde später auch für Zettel verwendet, durch deren Beschriftung und Befestigung an verschiedene Objekte eben diese selbst oder auch deren Inhalte gekennzeichnet wurden. Daher kann label n heute wörtlich mit Etikett, Kennzeichnung oder Markierung bzw. label-ing v mit etikettieren, kennzeichnen oder markieren übersetzt werden.
Der Begriff approach (engl.) n geht auf das Mittelenglische approachen zurück. Abgeleitet wurde er vom Alt-Französischen approchier (jetzt approcher) und dort wiederum vom Lateinischen appropiare übernommen. Wörtlich übersetzt bedeutet er soviel wie Annäherung bzw. sich annähern an, an etwas herantreten.

2. Der Begriff L.A. umschreibt eine in den 50er-Jahren im angloamerikanischen Raum aufgekommene und Ende der 60er-Jahre in Deutschland rezepierte kriminalsoziologische Strömung, deren Vertreter in Abgrenzung zu früheren Erklärungsversuchen abweichendes Verhalten nicht als Merkmal individueller Anlagen oder die Qualität einer bestimmten Handlung, sondern als das Produkt gesellschaftlicher Definitions- und Zuschreibungsprozesse qualifizieren. Hier wird also nicht mehr nach täter- oder situationsspezifischen Ursachen für "abweichendes" bzw. "kriminelles" Verhalten gefragt, sondern das Augenmerk darauf gerichtet, durch wen und auf welche Weise eben diese Attribute an bestimmte Personen(-gruppen) herangetragen werden und welche Bedeutung dies für den (weiteren) Verlauf einer kriminellen Karriere hat (vgl. hierzu auch >Kriminalisierung). Sehr unterschiedlich wird dabei auf makrosoziologischer Ebene mit der Definitions- und Selektionsmacht der Kontrollinstanzen wie z.B. der Polizei und Justiz und/oder mikrosoziologisch mit den Erfahrungen von Etikettierung und Stigmatisierung als Ursache für die Verfestigung devianter Verhaltensmuster (vgl. >Devianz) argumentiert. Gemein haben die Labeling-Ansätze insofern nur, dass sie die Reaktionen des sozialen Umfeldes auf bestimmte Verhaltensweisen als maßgebliche Einflussgröße für das abweichende Verhalten Einzelner bzw. die Konstitution von Kriminalität in der Gesellschaft betrachten und ihren Blick damit auf die Bedeutung und Wirkung der sozialen Kontrolle (vgl. >soziale Kontrolle) lenken, die in allen ihren Erscheinungsformen und Ausprägungen zum Gegenstand der Überprüfung gemacht wird.
Die Prämisse dieser Perspektive, „Abweichung“ und „Kriminalität“ nicht länger als etwas Feststehendes, anhand objektiver Kriterien Bestimmbares, sondern als das Resultat eines (gesellschafts-)dynamischen Prozesses zu betrachten, dessen Verlauf und Bedingungen es aufzudecken und zu analysieren gilt, grenzt die Vertreter des L.A. deutlich zum Selbstverständnis der traditionellen Kriminologie ab, in welchem entgegen dieser kritischen Haltung (vgl. zur späteren Entwicklung auch >kritische Kriminologie), die Objektivität von Normen bzw. die des Rechts allgemein nie wirklich in Frage gestellt worden ist. Angesprochen ist mit diesen Perspektivenwechsel insofern auch ein Theorienstreit in den Sozialwissenschaften allgemein, der sich mit Thomas Wilson auf die Begriffe normatives vs. interpretatives Paradigma bringen lässt (vgl. 1973, 95ff.). Die Vielzahl an Variationen bzw. unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in den Labeling-Ansätzen macht es nahezu unmöglich, eine Argumentationslinie aufzuzeigen, die alle der im Rahmen dieser Perspektive aufgezeigten Aspekte berücksichtigen würde. Insofern hier nur in den wesentlichen Grundzügen beschrieben, wird zunächst die Auffassung vertreten, dass „Abweichung“ in einer Gesellschaft erst dadurch entsteht, als dass bestimmte Verhaltensweisen von den formellen wie auch den informellen Kontrollinstanzen zunächst als „abweichend“ definiert werden (Fokussierung der Normsetzungsebene) und diese Definition dann personen- bzw. gruppenspezifisch unterschiedlich angewendet, dieses Merkmal insofern nur bestimmten Personen(-kreisen) zugeschrieben wird (Fokussierung der Normanwendungsebene). Relevant werden in diesem Zusammenhang schichtspezifische Unterschiede und Aspekte politischer bzw. allgemein gesellschaftlicher Macht, die es bestimmten Personen(-gruppen) überhaupt erst ermöglicht, andere „erfolgreich“ als abweichend definieren bzw. behandeln zu können.
An diese durch bestimmte Instanzen bzw. Personen vorgenommene Etikettierung anderer als "kriminell" knüpfen wiederum weitere Vertreter an, die in ihren Ansätzen die Wirkung eben dieser Zuschreibung auf individueller Ebene problematisieren. Hervorgehoben werden hier die Schwierigkeiten und Probleme, die sich für die Betroffenen daraus ergeben, öffentlich als abweichend oder kriminell abgestempelt worden zu sein ; argumentiert wird also mit der stigmatisierenden Wirkung von Sanktionen, durch welche die Betroffenen zunehmend gesellschaftlich degradiert bzw. ausgegrenzt und damit immer weiter in kriminelle Rollen hineingedrängt werden.
Je nachdem, wo die Schwerpunkte der Argumentationen liegen, wird der L.A. auch als Definitions-, Etikettierungs- bzw. Reaktionsansatz und aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit dem früher vorherrschenden ätiologischen (vgl. >Ätiologie) Bezugsrahmen in der Kriminologie z.T. als Kontrollparadigma bezeichnet (zum Paradigmenstreit vgl. u.a. Keckeisen 1976, 23ff. ; Lamnek 1997, 25ff.).

3. Die frühe Entwicklung des L.A. - sofern man von einer solchen sprechen möchte, da es sich hier eher um die Gesamtheit der über einen bestimmten Zeitraum parallel formulierten und dabei in ihren Schwerpunktsetzungen z.T. sehr stark voneinander abweichenden Ansätzen als um die Weiterentwicklung konkreter Grundpositionen handelt - kann hier nur in Kürze anhand einiger Ausführungen bzw. Publikationen dargestellt werden, mit denen die Hauptakzentuierungen des L.A. gesetzt und insofern seine wesentlichen Grundzüge geprägt worden sind:
Sein Ursprung wird ganz überwiegend in dem ersten, durch Frank Tannenbaum formulierten Etikettierungsansatz (1938) gesehen, auch wenn es wohl schon früher Hinweise auf genau die Dimensionen gegeben hat, die heute kennzeichnend für die Labeling-Perspektive sind (vgl. Keckeisen, der hier beispielhaft die bereits 1916 gemachte Formulierung des Sozialisten Bonger anführt, dass "Macht eine notwendige Bedingung für diejenigen ist, die ein Verhalten als Verbrechen klassifizieren wollen", vgl. 1976, 35). Während dort jedoch nicht weiter problematisiert, war es Frank Tannenbaum mit dem Aufzeigen des Prozesses der "Schaffung eines Kriminellen" (vgl. 1951, 19f.), der erstmals auf die Bedeutung sozialer Reaktionen für abweichendes Verhalten hingewiesen hat.
Populär geworden ist der L.A. jedoch erst wesentlich später durch das Wiederaufgreifen dieser Gedanken durch Edwin M. Lemert und Howard S. Becker (1951). Welcher der beiden insofern als sein "Wiederentdecker" gilt, ob Lemert mit der erstmaligen Formulierung der für den (gemäßigten) L.A. zentralen Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz oder Becker mit seiner berühmten Formulierung “the deviant is one to whom that label has been successfully applied: deviant behavior is behavior that people so label“ (vgl. 1963, 9), ist strittig. Jedenfalls haben beide etwa zeitgleich ihre Arbeiten publiziert.
In seiner "Social Pathology" (1951) beschreibt Lemert den Prozess der Verfestigung devianter Verhaltensmuster, wie er sich durch die Anpassung der Betroffenen an die ihnen durch die Gesellschaft zugeschriebene Rolle der "Abweichler" vollziehen und in der letzten Konsequenz zu der Übernahme einer kriminellen Identität führen kann. Seinen Ausführungen liegen dabei die Annahmen der ganz maßgeblich durch George H. Mead geprägten Theorie des symbolischen Interaktionismus zugrunde.
Dem ursprünglichen abweichenden Verhalten einer Person, welches er primäre Devianz nennt, kommt in seiner Arbeit keine große Bedeutung zu ; die für ihn maßgebliche (sekundäre) Devianz manifestiert sich erst in Handlungen, die der Betroffene in Folge der Reaktionen des sozialen Umfeldes darauf vornimmt. Denn erst diese (Reaktionen) sind es, die dem Betroffenen seinen "abweichenden" Status bewusst machen und dazu führen können, dass er das Bild, von welchem er glaubt, dass es die Gesellschaft von ihm hat, für sich anerkennt und gemäß den Erwartungen an diese Rolle dann weitere Abweichungen zeigt. Die seitens des sozialen Umfeldes in Folge immer stärker werdenden Stigmatisierungen und Ausgrenzungen machen es ihm zunehmend unmöglich, sich diesen Etiketts wieder zu entledigen und drängen ihn soweit in die kriminelle Rolle hinein, bis diese letztlich angenommen wird.
Ähnlich argumentiert Becker in seinem Modell der „abweichenden Laufbahn“ (1951, 1953 zunächst als Teilpublikationen seines späteren Werkes Outsiders - Studies in the Sociology of Deviance erschienen)damit, dass Sanktionen bzw. deren stigmatisierende Wirkung den Betroffenen zunehmend die Möglichkeiten nehmen, sich normkonform zu verhalten (vgl. 1975,23ff.) Anders als Lemert bezieht er jedoch über den Aspekt der Zuschreibung des Merkmals „Abweichung“ und den sich daraus ergebenen Problemen für die Betroffenen hinaus auch den der Normsetzung in seine Überlegungen mit ein: Seiner Meinung nach enthält keine Verhaltensweise per se die Qualität „Abweichung“, sondern wird erst von den Normsetzern einer Gesellschaft als eine solche definiert. Wirksam wird diese Definition aber erst mit ihrer Anwendung, wobei insofern selektiv vorgegangen wird, als dass gleichartige Verhaltensweisen situations- und personenspezifisch unterschiedlich – als entweder abweichend oder nicht-abweichend – definiert werden. Daher plädiert er auch dafür, in Fällen von Normverstößen zunächst von Regelverletzungen zu sprechen (vgl. 1975, 21f.).
Mit dem Hinweis darauf, dass nur bestimmte Mitglieder einer Gesellschaft die Möglichkeit zur Formulierung und Durchsetzung von Normen haben, nämlich die, deren Stellung ihnen die dazu erforderlichen „Waffen“ und Macht gibt (vgl. 1975,22) erweitert Becker die Labeling-Perspektive um eine gesellschaftspolitische Dimension.
Eine in diesem Zusammenhang weitere wichtige Differenzierung machten wenig später John I. Kitsuse und Kai T. Erikson in ihren Ansätzen (1963), indem sie ausführten, wie eine zunächst auf der Mikroebene erfolgte Etikettierung später auch von der Makroebene übernommen werden kann.
Die Ende der 60er- Anfang der 70er - Jahre beginnende Rezeption des L.A. in Deutschland ist der Verdienst von Fritz Sack mit der Formulierung seines radikalen Ansatzes (1968). Als „radikal“ deswegen bezeichnet, weil er im Gegensatz zu anderen Vertretern jede Ursachenforschung ablehnt und ausschließlich auf Definitions- und Zuschreibungsprozesse der Gesellschaft als Grund für das Auftreten von Kriminalität in der Gesellschaft abstellt.
Seinen Annahmen, die er 1968 als „Neue Perspektiven in der Kriminologie“ vorgestellte, liegen die v.a. durch Harold Garfinkel, Aaron V. Cicourel und Harvey Sacks geprägten Grundzüge der Ethnomethodologie zugrunde, welche ihrerseits die der Phänomenologie von Alfred Schütz mit denen des symbolischen Interaktionismus verbindet.
Vorangestellt wird die Behauptung, dass abweichendes Verhalten ubiquitär, d.h. gleichmäßig über alle Bevölkerungsschichten verteilt, also eine normale Erscheinung ist und erst durch die Instanzen der sozialen Kontrolle die Entscheidung getroffen wird, wem das Attribut „abweichend“ tatsächlich zugeschrieben wird. Da den Normen des Strafgesetzbuches aufgrund dessen, dass die Qualifizierung eines Verhaltens als „abweichend“ immer auch entscheidend von der Interpretation des darunter subsumierten Sachverhaltes durch die Parteien eines Rechtsstreites (mit-) beeinflusst wird, kein eigenständiges Definitionspotential zukommen kann und das Gericht mit seinem Urteil insofern als eine "tatsachenerzeugende Instanz" zu werten ist (vgl. 1968,465), plädiert Sack dafür, Kriminalität nicht als ein Verhalten, sondern als ein „negatives Gut“ analog zu den positiven Gütern wie Vermögen oder Einkommen zu verstehen 1968,469f.). Die Zuweisung in kriminelle Rollen hinein hängt dabei seiner Meinung nach maßgeblich von der sozialen Schicht und der Familiensituation des Betroffenen ab, da Personen aus schlechten sozialen Verhältnissen eher von anderen als abweichend bzw. als kriminell definiert werden, als Personen höherer Schichten.(vgl.1968,472f.).
Wie oben schon angedeutet, sind eine Vielzahl weiterer Ansätze mit ganz unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen formuliert worden, die in diesem Artikel nicht berücksichtigt werden können.
Als weiterer deutscher Vertreter soll hier nur noch Stephan Quensel genannt werden, der unter dem Titel "Wie wird man kriminell?" ein Modell vorstellte, das den Labeling-Gedanken mit psychoanalytischen und sozialisationstheoretischen Überlegungen verbindet (1970, 377ff.) und dort in acht Stufen dargestellte, wie verschiedene Phasen fehlgeschlagener Interaktionen zwischen Jugendlichen und den Instanzen sozialer Kontrolle die Verfestigung abweichenden Verhaltens zur Folge haben können.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, dass delinquentes wie kriminelles Verhalten von Jugendlichen immer der Versuch ist, ein bestehendes Problem zu lösen (1970,377.). Bleibt dieses (ursprüngliche) Problem ungelöst und kommt es infolge weiterer Abweichungen zu stärkeren Stigmatisierungen, verfestigt sich die kriminelle Karriere. Der Prozess der Kriminalisierung wird dabei je eher und wahrscheinlicher eintreten bzw. voranschreiten, desto stärker die Sozialisationsbelastungen und -bedingungen des Jugendlichen sind, desto früher dessen kriminelle Karriere begonnen hat und desto später dabei das (ursprüngliche) Problem erkannt wurde sowie je fehlgeschlagener die Reaktion auf die Abweichung ausgefallen ist.

4. Kritisiert worden sind die Vertreter des L.A. zum einen aus ätiologischer Richtung bzgl. der mangelnden Berücksichtigung objektiver Kriminalitätsursachen und hier insbesondere des Verhaltensaspektes bzw. deren Ausblendung in der radikalen Position von Fritz Sack und zum anderen bzgl. der Unschärfe des Ansatzes, des Verbleibens und Leugnens eines "objektivistischen Restes" gekoppelt an den Vorwurf, idealistisch zu argumentieren.
Zu Bedenken gegeben wurde darüberhinaus, dass der L.A. – jedenfalls in seiner radikalen Ausprägung – den Weg zu Präventivmaßnahmen gänzlich verstellt, „mit zunehmender Verabsolutierung des Ansatzes die Möglichkeiten, beim Kriminellen selbst mit Erfolg zu intervenieren oder auch antizipierend auf die Vermeidung delinquenten Handelns vorzubereiten“ immer geringer eingeschätzt und somit therapeutische Forschungen und praktische Anstrengungen vernachlässigt bzw. gänzlich aufgehoben werden (so v. Engelhardt 1975,125) bzw. der L.A. sozialpädagogisches Handeln „schlechthin delegitimiert, weil seine Umkehrung im Kern das Nichts-Tun, die Non-Intervention fordert“ (vgl. Peters 1996,112).
> wird ausgeführt

5. Eine Verbindung mit anderen, kriminologisch relevanten Begriffen lässt sich für den L.A. wie folgt herstellen:
Allgemein kann seine Rezeption als der wohl "konsequenteste Ausdruck einer Neuorientierung der Kriminologie in Richtung der Einbeziehung der sozialen Kontrolle (vgl. >soziale Kontrolle) in die Analyse der Kriminalität" betrachtet werden (so Sack 1993, 332.), wie sie sich in Abgrenzung zur traditionellen die kritische Kriminologie (vgl. >Kriminologie) zur Aufgabe gemacht hat.
Unter Ablehnung ätiologischer Fragestellungen (vgl. >Ätiologie) wird Kriminalität nicht als ein Verhalten, sondern als eine zugeschriebene Eigenschaft (vgl. >Zuschreibung) bzw. in der radikalen Ausprägung als ein "negatives Gut" verstanden und der Blick auf die für die Beurteilung eines Verhaltens als "abweichend" maßgebenden Definitions- Interpretations- (vgl. >Norm und abweichendes Verhalten) und Aushandlungsprozesse (vgl. >Verfahrenseinstellungen, Kriminalität höherer Schichten, Wirtschaftskriminalität) gerichtet.
Als einzelne Aspekte seiner Grundannahmen sind hier u.a. die Begriffe der Etikettierung, der Selektion und der Stigmatisierung zu nennen, bzgl. letzterer zudem die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz ( vgl. >Devianz). In theoretischer Hinsicht gewinnt der L.A. heute in Verbindung mit den Annahmen der marxistischen und der konfliktorientierten Kriminologie (>vgl. kritische Kriminologie) sowie in Verbindung mit anderen Ansätzen an Bedeutung (vgl. hier das Makro-Mikro-Makro-Modell von H. Hess/S. Scheerer 1997, 83ff.).
In kriminalpolitischer Hinsicht lässt sich neben der Forderung nach Non-Intervention bzw. einem "Weniger" daran (vgl. >Diversion) eine Linie zum Abolitionismus insofern ziehen, als dass dessen Zielsetzung -die Abschaffung bestimmter staatlicher Kontrollstrategien- wohl die stringenteste Umsetzung der rechts- bzw. kriminalpolitischen Forderung des L.A. nach Begrenzung staatlicher Machtausübung darstellt (vgl. zu den Zusammenhängen der beiden Strömungen Schumann 1985, 19ff.).
In methodischer Hinsicht waren es v.a. die qualitativen Verfahren (vgl. qualitative Methoden), die seit der Rezeption des L.A. stark an Bedeutung gewonnen und insofern stark von ihm profitiert haben, da Fragen danach, wie die Wirklichkeit von Abweichung und Kriminalität durch Interaktionen mit den Instanzen sozialer Kontrolle hervorgebracht wird oder wie abweichende Laufbahnen durch Etikettierungsprozesse erst in Gang gesetzt oder auch verfestigt werden, qualitative Forschungsdesigns zumindest nahe legen, wenn nicht sogar zwingend erforderlich machen (vgl. Meuser / Löschper 2002, Abs 4 und 5).

6. Die seit der Rezeption in einer Vielzahl durchgeführten empirischen Untersuchungen zum L.A. lassen sich nicht annähernd dokumentieren. An dieser Stelle bleibt nur zu sagen, dass sich die sog. Instanzenforschung auf das Handeln nahezu aller Institutionen sozialer Kontrolle erstreckt hat, wobei es insbesondere die Polizei war, die hier ein „geradezu exponential wachsendes“ Forschungsinteresse auf sich gezogen hat (so Sack 1993, 504). Nach anfänglichen Untersuchungen zur Selektivität bei Verdachtsgewinnung und Kriminalisierung, wie u.a. die von Feest/Lautmann (1971) oder Feest/Blankenburg (1972), wurde der Blick später auch auf Faktoren gerichtet, die einen generellen Einfluss auf die Ausfüllung polizeilicher Handlungsspielräume haben können (vgl. Lehne 1993, 393, der hier u.a. die Rekrutierung und Ausbildung sowie die Organisationsstruktur der Polizei nennt).
Wie für die Polizei (>vgl. Polizei, Polizeiforschung) haben sich im Gefolge des L.A. auch um die Justiz bzw. das Handeln aller der am Strafverfahren beteiligten Vertreter (vgl. >Justiz, Justizforschung) und später auch um das Anzeigeverhalten eigenständige Forschungsfelder etabliert.
Weiter zu nennen und nur beispielhaft aufgeführt sind zudem Studien in den Bereichen der Sozialarbeit wie von Manfred Brusten (1973) und Helge Peters / Helga Cremer-Schäfer (1975), zu Stigmatisierungsprozessen in Schulen wie von Manfred Brusten / Klaus Hurrelmann (1973) sowie zur Stigmatisierung durch Heimerziehung (vgl. Bürger, 1990).
Allerdings lässt sich trotz der Fülle der durchgeführten Untersuchungen keine klare Aussage über die Gültigkeit des L.A. treffen. Grund für die z. T. sehr unterschiedlichen Ergebnisse (den Einfluss des L.A. z.T. bestätigend Feest/Blankenburg 1972 ; verneinend hingegen Boy 1984, Bürger 1990) sind wohl die Vielseitig- und Vielschichtigkeit der den Studien zugrundegelegten Fragestellungen und methodischen Probleme bzgl. des empirischen Nachweises.
Anzumerken bleibt jedoch, dass spätere Untersuchungen z. T. hochsignifikante Ergebnisse bzgl. kausaler Beziehungen zwischen Stigmatisierung und krimineller Karriere hervorgebracht haben (vgl. u.a. Kaplan 1980) und in diesem Zusammenhang wohl auch unbestritten ist, dass Ergebnisse wie diese wesentlich zur Verbreitung des Diversionsgedankens (vgl. >Diversion) beigetragen haben.

7. Die kriminologische Relevanz des L.A. besteht darin, dass die Kriminologie mit seiner Rezeption um eine Perspektive erweitert worden ist, deren Grundzüge in keiner Analyse mehr unberücksichtigt bleiben können. Um es mit Fritz Sack auf den Punkt zu bringen, ist es sein Verdienst „mit dem Insistieren auf die Bedeutung der sozialen Reaktion für die Kriminologie die soziologische und politische Dimension der Kriminalität auch in ihren Alltagserscheinungen und Mikrostrukturen“ zur Geltung gebracht zu haben (so 1993, 504).
Die kriminalpolitische Relevanz des L.A. mit seiner Forderung nach Nicht-Intervention bzw. einem „Weniger“ zeigt sich in der Bedeutung der alternativen Reaktionen zum Strafrecht und Diversionsprogrammen. > wird ausgeführt

Literatur:

  • Becker, H. S.: Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance, New York 1963 (Teilpublikationen zunächst in: American Journal of Sociology, LVII = Sept.1951 und LIX = Nov.1953)
  • ders.: Regelverletzung und Abweichung, in: Stallberg, F.W.(Hrsg.): Abweichung und Kriminalität, 1975, S. 18-32.
  • Boy, P.: Etikettierungstheoretische Analyse des Strafverfahrens - Empirisch fundierte Theorie oder plausible Fiktion? in: Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, Bd.2, S.1380-1413, Köln 1983.
  • Brusten, M.: Prozesse der Kriminalisierung. Ergebnisse einer Analyse von Jugendamtsakten, in: Otto, H. U./Schneider, S.: Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, Bd. 2., Berlin 1973, S. 85-126.
  • Brusten, M./ Hurrelmann, K.: Abweichendes Verhalten in der Schule. Eine Untersuchung zu Prozessen der Stigmatisierung, München 1973.
  • Bürger, U.: Heimerziehung und soziale Teilnahmechancen, München 1990.
  • Christ, H., in : Kritische Justiz 1971, S. 492-494.
  • Eisenberg, U.: Kriminologie, 3. Aufl., Köln: Heymann 1990.
  • Engelhardt, D. von: Der „Labeling approach“ in kriminologischer Sicht, in: Kriminologisches Journal 4/1972, S. 56-60.
  • Erikson, K. T.: Notes on the Sociology of Deviance in : Social Problems 1962, Vol. 9 Nr.4, S. 307-314.
  • Feest, J./Blankenburg, E.: Die Definitionsmacht der Polizei. Strategien der Strafverfolgung und soziale Selektion, Düsseldorf 1972.
  • Göppinger, H.: Kriminologie, 4. Aufl., München: Beck 1980.
  • Hess, H./ Sebastian Scheerer: Was ist Kriminalität? Skizze einer konstruktivistischen Kriminalitätstheorie, in: KrimJ 1997, S. 83-109.
  • Kaplan, H. B.: Deviant Behavior in Defence of Self, N.Y. 1980.
  • Keckeisen, W.: Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens - Perspektiven und Grenzen des Labeling approach, 2. Aufl., München 1976.
  • Kituse, J. I.: Societal Reaction to Deviant Behavior. Problems of Theory and Method, in: Social Problems 1962, Vol. 9 Nr.3, S. 247-256.
  • Lamnek, S.: Neue Theorien abweichenden Verhaltens, 2. durchges. Aufl., München 1997.
  • Lehne, W.: Polizeiforschung, in: Kaiser, G./Kerner, H. J./Sack, F./Schellhoss, H. (Hrsg): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg: C. F. Müller 1993.
  • Lemert, E. M.: Social Pathology, New York 1951.
  • ders.: Der Begriff der sekundären Devianz, in: Lüderssen, K./ Fritz Sack (Hrsg.), Seminar abweichendes Verhalten I, 1975, S. 433-472.
  • Luhmann, N.,: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1985.
  • Paternoster, R./Iovanni, L.: The Labeling Perspective and Delinquency : An Elaboration of the Theory and an Assessment of the evidence, in: Justice Quarterly 1989, S. 359-394.
  • Meuser, M. / Löschper, G.: Einleitung : Qualitative Forschung in der Kriminologie (26 Absätze), in: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (On-line Journal) 3 (1)/2002, verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs/fqs.htm (Zugriff am 19. 01. 2006).
  • Opp, K. D.: Die "alte" und die "neue" Kriminalsoziologie: Eine kritische Analyse einiger Thesen des labeling approach, in: KrimJ 1972, S.32-52.
  • Peters, H.: Als Partisanenwissenschaft ausgedient, als Theorie aber nicht sterblich : der labeling approach, in: KrimJ 1996, S.107-115.
  • Rüther, W.: Abweichendes Verhalten und Labeling approach, Köln/Berlin/Bonn/München 1975.
  • Sack, F.: Neue Perspektiven der Kriminologie, in: Sack, F./König, R.: Kriminalsoziologie, Wiesbaden 1968.
  • ders., : Kritische Kriminologie, in: Kaiser, G./Kerner, H. J./Sack, F./Schellhoss, H. (Hrsg): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg: C. F. Müller 1993.
  • Schneider, H.: Schöpfung aus dem Nichts. Missverständnisse in der deutschen Rezeption des Labeling Approach, in: MschKrim 1999, S. 202-213.
  • Tannenbaum, F.: Crime and the Community, New York/London 1938 (Nachdruck 1951).