Kinderdelinquenz

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Kinderdelinquenz


Verfasserin: Juleka Schulte Ostermann


Weltweit gibt es Kinder, die mit ihren Handlungen gegen die in dem jeweiligen Land/ der jeweiligen Gesellschaft geltenden Straftatbestände in der Vergangenheit und auch noch heute verstoßen. Die Reaktionen auf Handlungen von Kindern sind von Land zu Land/ von Gesellschaft zu Gesellschaft und von (zeitlicher) Epoche zu Epoche verschieden. Eine Thematisierung des Begriffes Kinderdelinquenz soll im Folgenden ausschließlich auf die Situation in Deutschland seit dem Beginn der Industrialisierung bezogen sein:

Etymologie

Vgl.: Begriff Delinquenz, Devianz

Definition Kinderdelinquenz

In Deutschland können Kinder grundsätzlich nicht kriminell sein, da sie bis zum 14. Geburtstag gem. § 19 StGB strafunmündig sind. Um normbrechendes Verhalten von Kindern nicht im Bereich der strafrechtlich verstandenen Kriminalität anzusiedeln, erscheinen die sozialpsychologischen Begriffe der Devianz und Delinquenz zur Benennung des abweichenden Verhaltens angemessen, zumal diese Begriffe die mit dem Begriff Kriminalität verbundene soziale Verurteilung des Verhaltens und die damit verknüpfte Stigmatisierung vermeiden. Vgl. auch: Begriff Delinquenz

Begriffsgeschichte

Im Rahmen der Industrialisierung im 19. verbreitete sich in den westlichen Gesellschaften langsam die Überzeugung, dass „Kindheit“ ein vom Jugend- und Erwachsenalter abzugrenzender eigenständiger Lebensabschnitt im Leben eines jeden Menschen ist, der besonderen Schutz bedarf. Die Entwicklung der modernen Entwicklungspsychologie und allgemeinen Psychologie betrachtete und betrachtet die sich verändernden Lebensbedingungen für Kinder (d.h. zunehmende Berufstätigkeit der Eltern, Auflösung der sog. Großfamilie, Entstehung der Kern-/ Kleinfamilie bis hin zu den heute existierenden vielfältigen Formen von Familie: Klein-, Patchwork-, Ein- Elternfamilie etc., damit verbunden ein zunehmender Verlust elterlicher Kontrolle über die Kinder, sich verändernde und variierende Erziehungsformen, wachsende Zahl außerfamilialer Sozialisationsinstanzen wie Schule, Freunde/ peer- group, Medien usw., die neben den Eltern Einfluss auf die Sozialisation der Kinder ausüben etc.) und führte zu der allgemeinen Ansicht, dass Kindern die Reife fehle, um die volle Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Vor diesem Hintergrund setzten Diskussionen hinsichtlich der Höhe der Strafmündigkeitsgrenze um das 19. Jahrhundert ein.
Zu diesem Zeitpunkt galt in Deutschland gemäß dem Strafgesetzbuch von 1871 noch die Strafmündigkeitsgrenze von 12 Jahren. D.h. abweichendes, strafrechtlich relevantes Verhalten von Kindern wurde ab ihrem 12. Lebensjahr als ebenso kriminelles Verhalten verstanden, wie abweichendes, Strafgesetze brechendes Verhalten von Jugendlichen und Erwachsenen. Die Strafmündigkeitsgrenze von 12 Jahren wurde mit dem ersten Jugendgerichtsgesetz von 1923 auf 14 Jahre heraufgesetzt. Es wurde und wird jedoch auch heute noch immer wieder darüber diskutiert, ob die Strafmündigkeitsgrenze auf 12 Jahre gesenkt oder aber auf 16 Jahre erhöht werden sollte.

Der Begriff Kinderdelinquenz wird heute gemäß der im Abschnitt „Definition Kinderdelinquenz“ dargestellten Fassung verstanden und steht in einem zeitlichen Zusammenhang zu dem sich seit dem 19. Jahrhundert wandelnden Verständnis von Kindheit (s.o.). Seit wann genau dieser Begriff zur Bezeichnung strafrechtlich relevanten normbrechenden Verhaltens von Kindern verwendet wird, ist (m.E.) jedoch unklar.


Zusammenhänge mit anderen Begriffen

Devianz, Jugendkriminalität, Jugendgewalt, abweichendes Verhalten, Kinderkriminalität

Zusammenhänge mit der Realität

  • Entwicklung und Quantität der Kinderdelinquenz anhand der Daten der PKS

Es gibt verschiedenen Forschungsansätze, mittels derer versucht wird, die Entwicklung und Quantität der Kinderdelinquenz in Deutschland zu ermitteln: Die Akten- Verlaufs- Untersuchung (veraltet), die Dunkelfeldforschung (in der Regel nicht repräsentativ, da zu speziell) und die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Die PKS ist die einzige Statistik in der Bundesrepublik, die umfassende Zahlen über das Kriminalitätsgeschehen von Kinderdelinquenz ermöglichen kann. Insgesamt ist ein wellenförmiger Verlauf in der Entwicklung der Tatverdächtigenanteile der Kinder in der PKS zwischen 1972 und 1998 festzustellen. Ende 1990 war ein ähnlich hohes Niveau erreicht, wie es bereits in den 70er Jahren einmal existiert hatte.
Speziell in den 1990er Jahren ist festzustellen, dass von 1993 bis 1998 insgesamt ein Anstieg der Kinderdelinquenz, v.a. der 12- 13jährigen Kinder, innerhalb der absoluten Tatverdächtigenzahlen (TVZ) und der Tatverdächtigenbelastungsziffern (TVBZ) zu verzeichnen ist. Seit 1999 sind diese Zahlen wieder rückläufig. Jedoch bedeuten zunehmende TVZ und TVBZ nicht unbedingt, dass die Kinderdelinquenz tatsächlich so entschieden und bedrohlich geworden ist, dass dies neue gesetzliche Regelungen erforderlich machen bzw. rechtfertigen würde. Denn die Aussagekraft der PKS hinsichtlich der tatsächlichen Kinderdelinquenz kann durch sog. „Zehrfaktoren“ erheblich gemindert werden (Veränderung des Anzeigen- und Registrierungsverhaltens der Bevölkerung und Polizei zu Lasten der Strafunmündigen seit den 1990er Jahren u.ä.).
Der Vergleich der Tatverdächtigenanteile der strafunmündigen Kinder an der Gesamtkriminalität jedoch zeigt, dass die registrierte Kinderdelinquenz zwar gestiegen, insgesamt aber nach wie vor nur einen geringen Anteil ausmacht. Insofern besteht auch kein Grund, die Kinderdelinquenz als so besorgniserregend einzustufen, wie es in der Öffentlichkeit, v.a. den Medien und der Politik, erfolgt. Dies bedeutet nicht, dass die Kinderdelinquenz verharmlost werden soll und kein Handlungsbedarf bezüglich dieser Problematik existieren würde.

  • Die Veränderung der Sozialisationsbedingungen und der Strukturwandel der Kindheitsphase, die Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinderdelinquenz haben

Seit den 1990er Jahren ist ein verstärkter Wandel hinsichtlich der Familie, der Freizeit- und Umwelt, den Konsum- und Medieninteressen festzustellen: Immer stärker werdende Berufstätigkeit der Eltern, vielfältige Formen von Familie, verbunden mit einem zunehmenden Verlust elterlicher Kontrolle über die Kinder, sich verändernden und variierenden Erziehungsformen, eine wachsende Zahl an außerfamilialen Sozialisationsinstanzen (Schule, Freunde/ peer- group, Medien usw.), die neben den Eltern Einfluss auf die Sozialisation der Kinder nehmen u.v.m.
Insgesamt ergibt sich durch die veränderten Sozialisationsbedingungen und den Strukturwandel der Kindheitsphase, dass Kinder, besonders die 12-13jährigen, zunehmend mehr Freiheiten besitzen, die Individualisierungstendenzen zunehmen, die Verselbstständigung altersbezogen früher als bisher einsetzt, neben der Familie und den traditionellen außerfamilialen Sozialisationsinstanzen wird die peer- group immer bedeutender für die Kinder und ihre Sozialisation, durch das Sinken der Normverbindlichkeit steigt die Freiheit der Kinder, sich bezüglich der Verhaltens- und Lebensform frei entscheiden zu können usw. Diese neuen Freiheiten müssen jedoch nicht immer bedeuten, dass die Kinder auch dementsprechend selbstständig und eigenverantwortlich handeln können, denn zum Teil sind die Kinder mit der teilweise frühen Entlassung aus der elterlichen Kontrolle, dem frühen Verfügen über finanzielle Ressourcen und damit verbundenen, von den Medien geförderten, früh einsetzenden Bedürfnissen nach Unabhängigkeit und Konsum völlig überfordert.

  • Die Entstehungsbedingungen von Kinderdelinquenz

Die Entstehungsbedingungen für Kinderdelinquenz sind vielfältig und niemals nur durch einen Erklärungsansatz auf der gesellschaftlichen Makro- oder der sozial bedingten individuellen Mikroebene erklärbar. Bei Kinderdelinquenz besteht die Schwierigkeit der Vorhersagemöglichkeit der weiteren biographischen Entwicklung des Kindes. Anhaltspunkt zur Vorhersage der Entwicklung des jeweiligen Kindes können auffällige Persönlichkeitsmerkmale des Kindes und bekannte ungünstige Sozialisationsbedingungen sein, wobei v.a. das Zusammenspiel dieser verschiedenen Faktoren bedeutsam ist. Delinquentes Verhalten von Kindern ist gemäß wissenschaftlichen Erkenntnissen ubiquitär und episodenhaft, unterschiedlich, spontan sowie unüberlegt Deshalb ist m.E. davon auszugehen, dass eine der Entstehungsbedingungen für Kinderdelinquenz das junge Alter ist.

  • Existierende Möglichkeiten der formellen Sozialkontrolle in Deutschland zur Bekämpfung der Kinderdelinquenz

Es wird heute häufig in der Öffentlichkeit beklagt (Medien, Politik, z.T. auch Pädagogen), dass nur unzureichende Möglichkeiten der formellen Sozialkontrolle zur Bekämpfung der Kinderdelinquenz existieren würden. Diese Klage ist jedoch unberechtigt:
Eine formelle Sozialkontrolle im Sinne einer strafrechtlichen Verfolgung ist bei Kindern insofern ausgeschlossen, als dass sie gem. § 19 StGB unwiderlegbar schuldunfähig sind. Der Schutz des Kindes vor strafrechtliche- formeller Sozialkontrolle bedeutet jedoch nicht, dass ein Kind nicht unmittelbar und mittelbar als Folge seines delinquenten Handelns mit formellen Reaktionen konfrontiert werden könnte. Die Konfrontation des Kindes mit formellen Reaktionen kann z.B. durch die Ermittlungsarbeit der Polizei, zivilrechtliche Schadensersatzverfahren, kinder- und jugendhilferechtliche Reaktionen, familiengerichtliche Maßnahmen bezüglich eventueller Sorgerechtsentscheidungen und Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen durch schulische Einrichtungen erfolgen.
Neben den Möglichkeiten, das Kind aufgrund von delinquentem Handeln mit formellen Reaktionen zu konfrontieren, gibt es auch die Möglichkeit der formellen Sozialkontrolle der Eltern, wenn die Führsoge- und Erziehungspflicht als verletzt angesehen werden kann, z.B. gemäß § 171 StGB oder gemäß § 12 Abs.2 JÖschG.
Es zeigt sich also, dass in der BRD im Bereich formeller Sozialkontrolle, wenn auch nicht im strafrechtlichen Sinne, umfassend und differenziert auf Kinderdelinquenz reagiert werden kann.

  • Aktuelle politische und gesellschaftliche Diskussionen zur Kinderdelinquenz

In der nahen Vergangenheit (insbesondere Zeitraum des Regierungswechsel in Hamburg von der SPD zur CDU/ Schill- Partei im Jahr 2001 sowie CDU/ Schill- Partei zur CDU im Jahr 2004) und der Gegenwart wurde die Problematik von Kinderdelinquenz massiv als Wahlkampfthema benutzt. Die Medien und die CDU/ Schill- Partei thematisierte Kinderdelinquenz öffentlichkeitswirksam, ohne dabei sachliche Argumente aus der Wissenschaft (Fachrichtungen Kriminologie, Pädagogik, Rechtswissenschaften) einzubeziehen. Als Folge dessen ist zu vermuten, dass die Kriminalitätsfurcht der Hamburger Bevölkerung vor Kinderdelinquenz in einem nicht mit dem tatsächlichen (geringen) Ausmaß der Kinderdelinquenz in Hamburg übereinstimmenden Maße gestiegen ist. Auf diese These, die es noch wissenschaftlich zu überprüfen gilt, deutet u.a. die Wiedereinführung der geschlosseneUnterbringung geschlossenen Unterbringung von delinquenten Kindern hin, die aus wissenschaftlicher und rechtlicher Perspektive umstritten ist.

  • Schlußfolgerungen

Die Ergebnisse bisheriger Datenerhebungen und Untersuchungen zu dem Thema Kinderdelinquenz weisen darauf hin, dass ein erhöhter Präventionsbedarf besteht. Zu empfehlende (kombinierte) Präventionsansätze wären: Die Verbesserung der Zusammenarbeit aller an der Sozialisation Beteiligten, zeitnahe sozialpädagogische Sofortmaßnahmen in Zusammenarbeit mit der Polizei, ein frühzeitiges Eingreifen des Staates aufgrund des Wächteramtes, eine ausgewogene Kinder-, Jugend-, Sozial- und Familienpolitik und eine sachliche Darstellung und Thematisierung der Kinderdelinquenz in der Öffentlichkeit.

Kriminologische Relevanz

Kinderdelinquenz besitzt als frühester Zeitpunkt für mögliches strafrechtlich relevantes abweichendes Verhalten im Leben eines Menschen kriminologische Relevanz.


Literatur

Hauptliteratur

  • Reuter, Dirk: Kinderdelinquenz und Sozialkontrolle. Hamburg 2001. S. 1-3, 6-110, 118ff, 123-134, 207- 224, 236- 251, 267, 269-272, 281f.

Ergänzungsliteratur

  • Plewig, Hans-Joachim: Was braucht der kleine Willy? In: Müller, Siegfried/Peter, Hilmar: Kinderkriminalität 1998, S. 277-288 (277-285).
  • Pongratz, Eckhard L.: Zum Umgang mit kindlichen Auffälligkeiten. Eine Untersuchung zum Dunkelfeld und zur Prävention von Kinderdelinquenz in Grundschulen. Mainz 2000, S. 23f, 45, 48, 66f.
  • Weitekamp, Elmar/Meier, Ulrike: Werden unsere Kinder immer krimineller? In: Müller, Siegfried/ Peter, Hilmar: Kinderkriminalität. 1998. S. 83-112 (83-85, 98f, 111).