Kinderdelinquenz: Unterschied zwischen den Versionen

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===Historischer Hintergrund===
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Im Rahmen der Industrialisierung im 19. verbreitete sich in den westlichen Gesellschaften allmählich die Überzeugung, dass „Kindheit“ ein vom Jugend- und Erwachsenalter abzugrenzender eigenständiger Lebensabschnitt im Leben eines jeden Menschen ist, der besonderen Schutz z.B. vor Ausbeutung und anderen schädlichen Einflüssen bedarf.<br>  
Im Rahmen der Industrialisierung im 19. verbreitete sich in den westlichen Gesellschaften allmählich die Überzeugung, dass „Kindheit“ ein vom Jugend- und Erwachsenalter abzugrenzender eigenständiger Lebensabschnitt im Leben eines jeden Menschen ist, der besonderen Schutz z.B. vor Ausbeutung und anderen schädlichen Einflüssen bedarf.<br>  
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===Begriffliche Abgrenzung Kinderdelinquenz / Kinderkriminalität===
===Begriffliche Abgrenzung Kinderdelinquenz / Kinderkriminalität===
In Deutschland können Kinder grundsätzlich nicht kriminell sein, da sie bis zum 14. Geburtstag gem. § 19 <nowiki>StGB</nowiki> strafunmündig sind. Um normbrechendes Verhalten von Kindern nicht im Bereich der strafrechtlich verstandenen [[Kriminalität]] anzusiedeln, erscheinen die sozialpsychologischen Begriffe der [[Devianz]] und [[Delinquenz]] zur Benennung des abweichenden Verhaltens angemessen, zumal diese Begriffe die mit dem Begriff [[Kriminalität]] verbundene soziale Verurteilung des Verhaltens und die damit verknüpfte [[Stigmatisierung ]] vermeiden. <br>
Der Begriff "Kriminalität" beinhaltet einen bewussten Normenverstoß, insofern ein "tatbestandliches, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten", welches einer Strafverfolgung und ggf. Bestrafung zugänglich ist. Kinder unter 14 Jahren können sich in Deutschland "tatbestandlich" und "rechtswidrig", aber nicht "schuldhaft" verhalten, da nach § 19 StGB eine "unwiderlegbare Vermutung der Schuldunfähigkeit" für bei Begehung einer Tat unter 14-jährige vorliegt; Kinder unter 14 Jahren sind in Deutschland strafunmündig.<br>
Um eine Abgrenzung von strafrechtlich verfolgbarem Verhalten (welches für Kinder aufgrund der Strafunmündigkeit nicht angenommen werden kann) zu erreichen, wird heute anstelle der Bezeichnung eines kindlichen, gegen geltende Strafnormen verstoßendes Verhalten als "kriminell" von einem "delinquenten" Verhalten gesprochen.
Von Kindern realisiertes von Normen abweichendes Verhalten ist unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Aspekte im Rahmen der kindlichen Sozialisation einzuordnen: Um eine gesellschaftlich festgelegte Norm befolgen zu können, muss diese zunächst kennengelernt, verstanden und ausprobiert werden, ggf. müssen Erfahrungen mit Konsequenzen auf Normverstöße gemacht werden. Erst durch einen Prozess des Internalisierens von außen vorgegebener Normen wird eine Grundlage dafür geschaffen, bei Verstößen gegen die Norm eine Vorwerfbarkeit (im Sinne eines absichtsvollen normübertretenden Verhaltens) annehmen zu können. <br>
Um geltende Normen brechendes Verhalten von Kindern auch verbal nicht im Bereich der strafrechtlich verstandenen [[Kriminalität]] anzusiedeln, wird in der Literatur der neutralere Begriff der "Delinquenz" bevorzugt: Kinder handeln danach delinquent, wenn sie gegen die Strafrechtsnormen verstoßen, auch wenn dieses nicht vorwerfbar (also nicht schuldhaft) ist. Kinderdelinquenz wird danach als ein kindliches Verhalten definiert, das im Sinne des Strafrechts als eine Straftat verstanden werden würde, wenn es durch einen Erwachsenen (bzw. eine über 14 Jahre alte Person) gezeigt werden würde.<br>
Die begriffliche Unterscheidung weist auch auf eine unterschiedliche Reaktionsweise gegenüber kindlichen vs. erwachsenen Normen brechenden Verhaltens hin: Während auf (erwachsene) Kriminalität repressiv zu reagieren ist, soll auf (kindliche) Delinquenz präventiv reagiert werden.


===Ursachen/Entstehungsbedingungen für delinquentes kindliches Verhalten===
===Ursachen/Entstehungsbedingungen für delinquentes kindliches Verhalten===

Version vom 14. April 2009, 02:01 Uhr

Historischer Hintergrund

Im Rahmen der Industrialisierung im 19. verbreitete sich in den westlichen Gesellschaften allmählich die Überzeugung, dass „Kindheit“ ein vom Jugend- und Erwachsenalter abzugrenzender eigenständiger Lebensabschnitt im Leben eines jeden Menschen ist, der besonderen Schutz z.B. vor Ausbeutung und anderen schädlichen Einflüssen bedarf.

Im Verlauf der Zeit veränderte sich das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, z.B. mit der Auflösung der Großfamilie, veränderten Erziehungsstilen oder einer zunehmenden Berufstätigkeit der Eltern außer Haus. Damit einhergehend verringerten sich die innerfamiliären Kontakte und die Beaufsichtigung der Kinder durch die Eltern, aber auch die innerfamiliären Identifikationsmöglichkeiten für die Kinder. Kinder orientier(t)en sich zunehmend an außerfamiliären Personen, z.B. in der Gleichaltrigengruppe (peer group), an Lehrkräften oder Rollenvorbildern in den Medien (Fernsehen, Internet). Eine Sozialisation und damit auch die Vermittlung von Normen erfolgt(e) insofern zunehmend nicht mehr (vorwiegend) innerhalb des familiären Verbandes.

Im Strafgesetzbuch von 1871 wird die Altersgrenze für eine Strafmündigkeit mit 12 Jahren festgelegt. Psychologische Erkenntnisse, insbesondere der Entwicklungspsychologie, zeigten eine Unreife von Kindern, für ihr Handeln Verantwortung zu übernehmen. Um die Jahrhundertwende wurde mit Bezug auf diesen Aspekt die Strafmündigkeitsgrenze von 12 Jahren diskutiert. MIt dem ersten Jugendgerichtsgesetz von 1923 wurde die Strafmündigkeitsgrenze auf 14 Jahre heraufgesetzt.Dabei trat die Zielsetzung einer Erziehung (anstelle des Gedankens einer milderen Bestrafung) von Kindern in den Vordergrund.
Eine Festlegung auf diese Altersgrenze erfolgte u.a. mit Argumenten wie dem Volksschulabschluss. Da die Altersgrenze eher normativ-rechtlich als z.B. entwicklungspsychologisch begründet ist und für andere Bereiche gesellschaftlichen Handelns (z.B. eine Volljährigkeit) andere - höhere - Altersgrenzen festgelegt sind, wird wiederkehrend über eine Veränderung der Strafmündigkeitsgrenze nach oben oder unten diskutiert.

Begriffliche Abgrenzung Kinderdelinquenz / Kinderkriminalität

Der Begriff "Kriminalität" beinhaltet einen bewussten Normenverstoß, insofern ein "tatbestandliches, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten", welches einer Strafverfolgung und ggf. Bestrafung zugänglich ist. Kinder unter 14 Jahren können sich in Deutschland "tatbestandlich" und "rechtswidrig", aber nicht "schuldhaft" verhalten, da nach § 19 StGB eine "unwiderlegbare Vermutung der Schuldunfähigkeit" für bei Begehung einer Tat unter 14-jährige vorliegt; Kinder unter 14 Jahren sind in Deutschland strafunmündig.
Von Kindern realisiertes von Normen abweichendes Verhalten ist unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Aspekte im Rahmen der kindlichen Sozialisation einzuordnen: Um eine gesellschaftlich festgelegte Norm befolgen zu können, muss diese zunächst kennengelernt, verstanden und ausprobiert werden, ggf. müssen Erfahrungen mit Konsequenzen auf Normverstöße gemacht werden. Erst durch einen Prozess des Internalisierens von außen vorgegebener Normen wird eine Grundlage dafür geschaffen, bei Verstößen gegen die Norm eine Vorwerfbarkeit (im Sinne eines absichtsvollen normübertretenden Verhaltens) annehmen zu können.
Um geltende Normen brechendes Verhalten von Kindern auch verbal nicht im Bereich der strafrechtlich verstandenen Kriminalität anzusiedeln, wird in der Literatur der neutralere Begriff der "Delinquenz" bevorzugt: Kinder handeln danach delinquent, wenn sie gegen die Strafrechtsnormen verstoßen, auch wenn dieses nicht vorwerfbar (also nicht schuldhaft) ist. Kinderdelinquenz wird danach als ein kindliches Verhalten definiert, das im Sinne des Strafrechts als eine Straftat verstanden werden würde, wenn es durch einen Erwachsenen (bzw. eine über 14 Jahre alte Person) gezeigt werden würde.
Die begriffliche Unterscheidung weist auch auf eine unterschiedliche Reaktionsweise gegenüber kindlichen vs. erwachsenen Normen brechenden Verhaltens hin: Während auf (erwachsene) Kriminalität repressiv zu reagieren ist, soll auf (kindliche) Delinquenz präventiv reagiert werden.

Ursachen/Entstehungsbedingungen für delinquentes kindliches Verhalten

Die Rechtsstellung des tatverdächtigen Kindes

Völker- und Europarecht

Im Völker- und Europarecht werden als "Kinder" Personen bezeichnet, die das 18.Lebensjahr noch nicht vollendet haben (Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (KRÜ, Artikel 1) und Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCharta, Art. 24)). Damit umfasst der Begriff "Kind" eine Altersgruppe, die in Deutschland weiter in Kinder und Jugendliche differenziert wird.

Im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes steht die Anerkennung des Vorranges des Kindeswohls im Vordergrund. Bezogen auf Kinder, die von strafrechtlichen Ermittlungen betroffen sind, wird in Art. 40 KRÜ die Behandlung des Kindes im Strafrecht und Strafverfahren geregelt ( so ist die Würde des Kindes zu wahren und das Kind ist altersgemäß so zu behandeln, dass es seinem Wohl dienlich ist. U.a. ist das Recht auf einen Beistand, auf eine baldige Entscheidung in einem fairen gerichtlichen Verfahren oder die Achtung der Privatsphäre des Kindes festgelegt. Es wird u.a. geregelt, dass die Staaten ein Strafmündigkeitsalter festlegen sollen, wobei keine angemessene Untergrenze benannt und die Festlegung in die Verfügung der einzelnen Staaten gelegt wird).
In Art. 37 KRÜ sind bezogen auf Kinder ein Verbot der Folter, der Todesstrafe und der lebenslangen Freiheitsstrafe geregelt.


noch ergänzen z.B. dazu, wer ratifiziert hat, HInweis, dass dennoch auch in ratifizierenden Staaten Verletzungen der Kinderrechte, Umsetzung in Deutschland?

Im Europarecht haben Kinder Anspruch auf Schutz und Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind (Art 24 EU-GRCharta, Kapitel III, Abs. 1), das Kindeswohl wird als vorrangig eingestuft (Abs. 2). Es gibt keine speziellen Regelungen zum Umgang mit tatverdächigen Kindern. Es gelten die Mindeststandards für Strafverfahren (z.B. EU-GRCharta, Kapitel VI "Justizielle Rechte"). Neben der EU-Grundrechtecharta sind Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention bedeutsam (Art. 3, 5, 6 und 7 EMRK), in denen z.B. Beschuldigten bestimmte Verfahrensrechte absolut garantiert werden.

Die Rechtslage auf völker- und europarechtlicher Ebene zielt darauf ab, Kindern in den Mitgliedsstaaten einen annähernd gleichen rechtlichen Standard anzubieten. Die Vorgaben sind in Deutschland im verfassungsrechtlichen wie im einfachrechtlichen Bereich verankert.

Deutschland

Auf verfassungsrechtlicher Ebene sind Kinder laut BVerfG von Geburt an wie Erwachsene Träger aller Grundrechte. Bezogen auf Grundrechte für Personen, die sich in einem Strafverfahren befinden, kommen verschiedene Artikel des Grundgesetzes (GG) zur Anwendung. Kinder sind nach § 19 StGB nicht strafmündig und damit von einem Strafverfahren ausgeschlossen. Sie können sich nicht auf die angeführten grundrechtlichen Garantien berufen, sind aber über die Grundrechte hinaus geschützt.
In der einfachen Rechtsordnung besteht ein abgestuftes System rechtlicher Verantwortung, orientiert an einer zunehmenden Selbstständigkeit von Kindern und Jugendlichen: Es bestehen Altersgrenzen bezogen auf eine Geschäftsfähigkeit, auf eine Verantwortlichkeit Minderjähriger im zuvilrechtlichen Haftungsrecht und auf die Strafmündigkeit.
Bezogen auf den Umgang mit einem einer Tat verdächtigen Kindes ist aufgrund der Regelung des § 19 StGB umstritten, ob die Strafprozessordnung (StPO) Anwendung finden kann. So stellt bereits die Aufnahme einer Strafanzeige gegen ein Kind oder die Abgabe des Vorganges an die Staatsanwaltschaft im Prinzip eine Ermittlungstätigkeit der Polizei dar. Da eine solche vom Willen getragen ist, ein Strafverfahren gegen einen einer Straftat Verdächtigen zu betreiben, ist zu fragen, ob ein Kind unter Beachtung von § 19 StGB überhaupt eine BEschuldigteneigenschaft innehaben kann und entsprechend von Ermittlungen betroffen werden darf. Strafunmündigkeit stellt aufgrund einer normativ bindenden Schuldlosigkeitsvermutung bezogen auf Kinder ein Strafverfolgungshindernis dar.

Strafmündigkeitsgrenzen im europäischen Vergleich

In den europäischen Ländern bestehen z.T. sehr unterschiedliche Altersgrenzen für eine Strafmündigkeit (und damit für eine Anwendung strafrechtlicher Regeln).

(dazu aus Praxis)

Zusammenhänge mit der Realität

Entwicklung und Quantität der Kinderdelinquenz anhand der Daten der PKS

Es gibt verschiedenen Forschungsansätze, mittels derer versucht wird, die Entwicklung und Quantität der Kinderdelinquenz in Deutschland zu ermitteln: Die Akten- Verlaufs- Untersuchung (veraltet), die Dunkelfeldforschung (in der Regel nicht repräsentativ, da zu speziell) und die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Die PKS ist die einzige Statistik in der Bundesrepublik, die umfassende Zahlen über das Kriminalitätsgeschehen von Kinderdelinquenz ermöglichen kann. Insgesamt ist ein wellenförmiger Verlauf in der Entwicklung der Tatverdächtigenanteile der Kinder in der PKS zwischen 1972 und 1998 festzustellen. Ende 1990 war ein ähnlich hohes Niveau erreicht, wie es bereits in den 70er Jahren einmal existiert hatte.
Speziell in den 1990er Jahren ist festzustellen, dass von 1993 bis 1998 insgesamt ein Anstieg der Kinderdelinquenz, v.a. der 12- 13jährigen Kinder, innerhalb der absoluten Tatverdächtigenzahlen (TVZ) und der Tatverdächtigenbelastungsziffern (TVBZ) zu verzeichnen ist. Seit 1999 sind diese Zahlen wieder rückläufig. Jedoch bedeuten zunehmende TVZ und TVBZ nicht unbedingt, dass die Kinderdelinquenz tatsächlich so entschieden und bedrohlich geworden ist, dass dies neue gesetzliche Regelungen erforderlich machen bzw. rechtfertigen würde. Denn die Aussagekraft der PKS hinsichtlich der tatsächlichen Kinderdelinquenz kann durch sog. „Zehrfaktoren“ erheblich gemindert werden (Veränderung des Anzeigen- und Registrierungsverhaltens der Bevölkerung und Polizei zu Lasten der Strafunmündigen seit den 1990er Jahren u.ä.).
Der Vergleich der Tatverdächtigenanteile der strafunmündigen Kinder an der Gesamtkriminalität jedoch zeigt, dass die registrierte Kinderdelinquenz zwar gestiegen, insgesamt aber nach wie vor nur einen geringen Anteil ausmacht. Insofern besteht auch kein Grund, die Kinderdelinquenz als so besorgniserregend einzustufen, wie es in der Öffentlichkeit, v.a. den Medien und der Politik, erfolgt. Dies bedeutet nicht, dass die Kinderdelinquenz verharmlost werden soll und kein Handlungsbedarf bezüglich dieser Problematik existieren würde.

Die Veränderung der Sozialisationsbedingungen und der Strukturwandel der Kindheitsphase, die Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinderdelinquenz haben

Seit den 1990er Jahren ist ein verstärkter Wandel hinsichtlich der Familie, der Freizeit- und Umwelt, den Konsum- und Medieninteressen festzustellen: Immer stärker werdende Berufstätigkeit der Eltern, vielfältige Formen von Familie, verbunden mit einem zunehmenden Verlust elterlicher Kontrolle über die Kinder, sich verändernden und variierenden Erziehungsformen, eine wachsende Zahl an außerfamilialen Sozialisationsinstanzen (Schule, Freunde/ peer- group, Medien usw.), die neben den Eltern Einfluss auf die Sozialisation der Kinder nehmen u.v.m.
Insgesamt ergibt sich durch die veränderten Sozialisationsbedingungen und den Strukturwandel der Kindheitsphase, dass Kinder, besonders die 12-13jährigen, zunehmend mehr Freiheiten besitzen, die Individualisierungstendenzen zunehmen, die Verselbstständigung altersbezogen früher als bisher einsetzt, neben der Familie und den traditionellen außerfamilialen Sozialisationsinstanzen wird die peer- group immer bedeutender für die Kinder und ihre Sozialisation, durch das Sinken der Normverbindlichkeit steigt die Freiheit der Kinder, sich bezüglich der Verhaltens- und Lebensform frei entscheiden zu können usw. Diese neuen Freiheiten müssen jedoch nicht immer bedeuten, dass die Kinder auch dementsprechend selbstständig und eigenverantwortlich handeln können, denn zum Teil sind die Kinder mit der teilweise frühen Entlassung aus der elterlichen Kontrolle, dem frühen Verfügen über finanzielle Ressourcen und damit verbundenen, von den Medien geförderten, früh einsetzenden Bedürfnissen nach Unabhängigkeit und Konsum völlig überfordert.

Die Entstehungsbedingungen von Kinderdelinquenz

Die Entstehungsbedingungen für Kinderdelinquenz sind vielfältig und niemals nur durch einen Erklärungsansatz auf der gesellschaftlichen Makro- oder der sozial bedingten individuellen Mikroebene erklärbar. Bei Kinderdelinquenz besteht die Schwierigkeit der Vorhersagemöglichkeit der weiteren biographischen Entwicklung des Kindes. Anhaltspunkt zur Vorhersage der Entwicklung des jeweiligen Kindes können auffällige Persönlichkeitsmerkmale des Kindes und bekannte ungünstige Sozialisationsbedingungen sein, wobei v.a. das Zusammenspiel dieser verschiedenen Faktoren bedeutsam ist. Delinquentes Verhalten von Kindern ist gemäß wissenschaftlichen Erkenntnissen ubiquitär und episodenhaft, unterschiedlich, spontan sowie unüberlegt Deshalb ist m.E. davon auszugehen, dass eine der Entstehungsbedingungen für Kinderdelinquenz das junge Alter ist.

Existierende Möglichkeiten der formellen Sozialkontrolle in Deutschland zur Bekämpfung der Kinderdelinquenz

Es wird heute häufig in der Öffentlichkeit beklagt (Medien, Politik, z.T. auch Pädagogen), dass nur unzureichende Möglichkeiten der formellen Sozialkontrolle zur Bekämpfung der Kinderdelinquenz existieren würden. Diese Klage ist jedoch unberechtigt:
Eine formelle Sozialkontrolle im Sinne einer strafrechtlichen Verfolgung ist bei Kindern insofern ausgeschlossen, als dass sie gem. § 19 StGB unwiderlegbar schuldunfähig sind. Der Schutz des Kindes vor strafrechtliche- formeller Sozialkontrolle bedeutet jedoch nicht, dass ein Kind nicht unmittelbar und mittelbar als Folge seines delinquenten Handelns mit formellen Reaktionen konfrontiert werden könnte. Die Konfrontation des Kindes mit formellen Reaktionen kann z.B. durch die Ermittlungsarbeit der Polizei, zivilrechtliche Schadensersatzverfahren, kinder- und jugendhilferechtliche Reaktionen, familiengerichtliche Maßnahmen bezüglich eventueller Sorgerechtsentscheidungen und Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen durch schulische Einrichtungen erfolgen.
Neben den Möglichkeiten, das Kind aufgrund von delinquentem Handeln mit formellen Reaktionen zu konfrontieren, gibt es auch die Möglichkeit der formellen Sozialkontrolle der Eltern, wenn die Führsoge- und Erziehungspflicht als verletzt angesehen werden kann, z.B. gemäß § 171 StGB oder gemäß § 12 Abs.2 JÖschG.
Es zeigt sich also, dass in der BRD im Bereich formeller Sozialkontrolle, wenn auch nicht im strafrechtlichen Sinne, umfassend und differenziert auf Kinderdelinquenz reagiert werden kann.

Aktuelle politische und gesellschaftliche Diskussionen zur Kinderdelinquenz

In der nahen Vergangenheit (insbesondere Zeitraum des Regierungswechsel in Hamburg von der SPD zur CDU/ Schill- Partei im Jahr 2001 sowie CDU/ Schill- Partei zur CDU im Jahr 2004) und der Gegenwart wurde die Problematik von Kinderdelinquenz massiv als Wahlkampfthema benutzt. Die Medien und die CDU/ Schill- Partei thematisierte Kinderdelinquenz öffentlichkeitswirksam, ohne dabei sachliche Argumente aus der Wissenschaft (Fachrichtungen Kriminologie, Pädagogik, Rechtswissenschaften) einzubeziehen. Als Folge dessen ist zu vermuten, dass die Kriminalitätsfurcht der Hamburger Bevölkerung vor Kinderdelinquenz in einem nicht mit dem tatsächlichen (geringen) Ausmaß der Kinderdelinquenz in Hamburg übereinstimmenden Maße gestiegen ist. Auf diese These, die es noch wissenschaftlich zu überprüfen gilt, deutet u.a. die Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung von delinquenten Kindern hin, die aus wissenschaftlicher und rechtlicher Perspektive umstritten ist.

Schlußfolgerungen

Die Ergebnisse bisheriger Datenerhebungen und Untersuchungen zu dem Thema Kinderdelinquenz weisen darauf hin, dass ein erhöhter Präventionsbedarf besteht. Zu empfehlende (kombinierte) Präventionsansätze wären: Die Verbesserung der Zusammenarbeit aller an der Sozialisation Beteiligten, zeitnahe sozialpädagogische Sofortmaßnahmen in Zusammenarbeit mit der Polizei, ein frühzeitiges Eingreifen des Staates aufgrund des Wächteramtes, eine ausgewogene Kinder-, Jugend-, Sozial- und Familienpolitik und eine sachliche Darstellung und Thematisierung der Kinderdelinquenz in der Öffentlichkeit.

Kriminologische Relevanz

Kinderdelinquenz besitzt als frühester Zeitpunkt für mögliches strafrechtlich relevantes abweichendes Verhalten im Leben eines Menschen kriminologische Relevanz.


Zusammenhänge mit anderen Begriffen

Devianz, Jugendkriminalität, Jugendgewalt, abweichendes Verhalten, Kinderkriminalität

Literatur

  • Bott, Klaus/Reich, Kerstin/Kerner, Hans-Jürgen: Kriminalitätsvorstellungen von Kindern, In: Praxis der Rechtspsychologie 16. Jahrgang, Heft 1/2 Juli 2006 Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn (S. 8-29)
  • Brettfeld, Katrin: Umfang, Struktur und Entwicklung der Kinderdelinquenz: Befunde und Aussagekraft der polizeilichen Kriminalstatistik für Deutschland, In: Praxis der Rechtspsychologie 16. Jahrgang, Heft 1/2 Juli 2006 Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn (S. 30-52)
  • Drenkhahn, Kirstin: Rechtliche Reaktionsmöglichkeiten auf Kinderdelinquenz im europäischen Vergleich, In: Praxis der Rechtspsychologie 16. Jahrgang, Heft 1/2 Juli 2006 Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn (S. 82-93)
  • Feest, Johannes: Kinderkriminalität In: Kaiser, Günther/Kerner, Hans-Jürgen/Sack, Fritz/Schellhoss, Hartmut (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3.Auflage, 1993 C.F. Müller Juristischer Verlag Heidelberg
  • Heßler, Manfred: Institutioneller Umgang mit Kinderdelinquenz am Beispiel von Polizei und Jugendamt - Rechtlicher Rahmen, tatsächliche Praxis und aktuelle Entwicklungen, In: Praxis der Rechtspsychologie 16. Jahrgang, Heft 1/2 Juli 2006 Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn (S. 94-119)
  • Holzmann, Alexa: Polizeilicher Umgang mit unter 14-jährigen Tatverdächtigen, Eine kritische Analyse der PDV 382, 2008 Verlag Dr. Kovac, Hamburg
  • Plewig, Hans-Joachim: Was braucht der kleine Willy? In: Müller, Siegfried/Peter, Hilmar (Hrsg.): Kinderkriminalität, 1998 Leske + Budrich, Opladen, S. 277-288 (277-285).
  • Pongratz, Eckhard L.: Zum Umgang mit kindlichen Auffälligkeiten. Eine Untersuchung zum Dunkelfeld und zur Prävention von Kinderdelinquenz in Grundschulen, 2000 Weißer Ring Verlags-GmbH, Mainz, S. 23f, 45, 48, 66f.
  • Pongratz, Lieselotte/Jürgensen, Peter: Kinderdelinquenz und kriminelle Karrieren. Eine statistische Nachuntersuchung delinquenter Kinder im Erwachsenenalter, 1990 Pfaffenweiler: Centaurus
  • Reuter, Dirk: Kinderdelinquenz und Sozialkontrolle. Hamburg 2001. S. 1-3, 6-110, 118ff, 123-134, 207- 224, 236- 251, 267, 269-272, 281f.
  • (noch ergänzen) In: Schmidt-Gödelitz, Axel/Pfeiffer, Christian/Ziegenspeck, Jörg (Hrsg.): Kinder- und Jugendkriminalität in Deutschland: Ursachen, Erscheinungsformen, Gegensteuerung, 1997 Verlag edition erlebnispädagogik, Lüneburg
  • Weitekamp, Elmar/Meier, Ulrike: Werden unsere Kinder immer krimineller? In: Müller, Siegfried/ Peter, Hilmar (Hrsg.): Kinderkriminalität, 1998 Leske + Budrich, Opladen, S. 83-112 (83-85, 98f, 111).


Weitere Informationen zum Stichwort Kinderdelinquenz finden Sie im Kriminologie-Lexikon ONLINE unter Kinderdelinquenz.