Urbanisierung

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Unter Urbanisierung [lat. urbanus: städtisch] versteht man das starke Bevölkerungs- und Beschäftigungswachstum in den Kernstädten von Verdichtungsräumen (städt. Agglomerationen) durch deren innerregionale Konzentration (vgl. Brockhaus Enzyklopädie).

Eine allgemein gültige Definition der Begriffe Urbanisierung, Urbanisation und Urbanität existiert durch die Komplexität des Stadtbegriffs bisher noch nicht.


Historie

Der Prozess der Urbanisierung setzte in den Industriestaaten im 19. Jh. ein. Er formte das Erscheinungsbild vieler Regionen radikal um und rief wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Veränderungen hervor.

In Deutschland fand die eigentliche Urbanisierungsphase in den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg statt. Während 1871 noch ca. 64% der Bevölkerung in ländlichen und ca. 36% in städtischen Gemeinden wohnten, kehrte sich das Verhältnis bis 1910 fast um.

Durch die neuen Arbeitsplätze und ansteigenden Einwohnerzahlen dehnte sich die Stadt immer mehr aus. Dieser Prozess beinhaltet Eingemeindungen sowie den sog. Agglomerationsgürtel (vulgo „Speckgürtel“) und stellt einen wesentlichen Aspekt der Verstädterung dar. Entscheidende Voraussetzungen dafür waren Entwicklung und Ausbau des Massenverkehrs sowie des Kommunikationsnetzes.

Durch die Urbanisierung verbreiteten sich die städtischen Lebens-, Wirtschafts- und Verhaltensweisen in Stadt und Land und sind heutzutage in den hochentwickelten Länden annährend gleich. Der städtische und ländliche Lebensstil kann derzeit nur noch anhand sog. „Urbanisierungsindizes“ voneinander abgegrenzt werden, z.B. durch die Betätigungsfelder (Landwirtschaft vs. Industrie und Verkehr), Bevölkerungsdichte, zahlenmäßige Bedeutung der Agglomerationen sowie den Energieverbrauch.

Da die Veränderungen bis in die heutige Zeit hineinreichen und sie bestimmen, sprechen einige Wissenschaftler von einer fortdauernden Urbanisierung. Andere betrachten den Urbanisierungsprozess in den Industriestaaten im Gegensatz zu den Entwicklungsländern bereits seit Mitte des 20. Jh. als weitgehend abgeschlossen bzw. stabilisiert.

Für das Jahr 2030 wird von einer urbanen Weltbevölkerung von etwa sechzig Prozent ausgegangen, was einer Verdoppelung seit den fünfziger Jahren des 20. Jh. entspräche.


Kriminologische Relevanz

Allgemeines

Die rasanten Veränderungen in Deutschland Ende des 19. Jh., insbesondere die Industrialisierung und die einhergehende Urbanisierung mit ihren fassettenreichen Begleiterscheinungen, zogen die Aufmerksamkeit der Kriminologen auf sich. Auch in der Soziologie war damals der Prozess der Urbanisierung im Zusammenhang mit abweichendem Verhalten bereits ein klassisches Thema.

Aus der natürlichen Umwelt hatte sich die technische bzw. städtische Umwelt entwickelt. In der so entstandenen (Groß-)Stadt fand im 19. und 20. Jh. durch das neue Produktionssystem und den technischen Fortschritt eine soziale Umwälzung statt. Aus dieser neuen Gesellschaftsform resultierten Konfliktsituationen, durch die wiederum die Kriminalitätsrate anstieg. Dies sei anhand der damaligen Kriminalstatistik nachvollziehbar gewesen.

Für die überdurchschnittlich hohe Kriminalität wurden die allgemeinen Lebensbedingungen in den Städten verantwortlich gemacht. Die Anonymität des urbanen Lebens, die damit verbundene geringere soziale Kontrolle und die Möglichkeit, nach einer Straftat „abtauchen“ zu können, machte die Großstadt aus krimineller Sicht attraktiv (im Sinne von „Stadtluft macht frei“). Dazu zählte auch, dass Kontakte zu kriminellen Gleichgesinnten leichter geknüpft werden konnten und sich generell mehr Möglichkeiten boten, Verbrechen zu begehen.

Das städtische Leben erschien den meisten Kriminologen daher als kriminalitätsbegünstigendes Milieu und wurde nach Ansicht einiger soziologisch orientierter Kriminologen erst unter den Bedingungen der Industrialisierung und der Binnenwanderung zu einem kriminalitätsverursachenden Milieu. Von den sozialen Missständen der städtischen und insbesondere der großstädtischen Lebensbedingungen waren überwiegend die sozialen Unterschichten betroffen. Diese Missstände behinderten die moralische Entwicklung des einzelnen und förderten auf vielfältige Weise deviantes Verhalten.

Die städtische Lebensform besteht aus soziologischer Sicht aus drei Ebenen - der Ebene der Gesellschaft, der Kultur und der Persönlichkeit. Davon ausgehend kann die städtische Umwelt als ein wichtiger Faktor der sozialen Nichtanpassung angesehen werden, deren Umfang durch den Begriff der Anomie gemessen werden kann. Je differenzierter also eine Gesellschaft und je heterogener eine Kultur ist, desto häufiger treten Spannungen und Konflikte auf und desto mehr sind soziale Beziehungen durch Anomie gekennzeichnet. Urbanität spielt daher in verschiedenen Kriminalitätstheorien eine Rolle, z.B. in der Anomietheorie von Durkheim, der Vereinigungstheorie von Franz von Liszt und bei dem Konzept der sozialen Desorganisation der Chicago School. Wie beschrieben, verringerte sich der Gegensatz zwischen Stadt und Land im Laufe der Jahre im Bereich dieser drei Ebenen stetig. Dazu proportional war auch das Interesse der Wissenschaft am Thema „Urbanisierung“ - immerhin ein Hauptthema der amerikanischen Soziologie der 20er und 30er Jahren des 20. Jh., - bereits in den 60er Jahren rapide gesunken. Die problematische Parallele zwischen Verstädterung und sozialkulturellen Konflikten, die zu kriminellem Verhalten führen können, existiert jedoch aktuell noch in den Entwicklungsländern.

In den Industrieländern wird seit Jahren der Trend zur Exurbanisierung beobachtet, d.h. dass immer mehr Besserverdienende und andere sozial stabile Gruppen mit sicherem Einkommen aus der Stadt wegziehen und zur Arbeit pendeln. Infolge der u.a. verringerten sozialen Mischung im Quartier entwickeln sich weitere soziale Problemlagen und Brennpunkte.

Dass der Urbanisierungsprozess nicht nur in der Kriminologie eine wichtige Stellung einnahm, sondern auch die Geschichte der Polizei wesentlich beeinflusste, zeigt folgendes Zitat: „Because the history of the police is so much part of the history of the city, that the history of the city provides the first and most dominant framework within which to analyse the police.” (Monkkonen, 1982)

Jugendkriminalität

Die verminderte soziale Kontrolle wirkt sich insbesondere auf den Bereich der Jugendkriminalität aus. Hier wird angenommen, dass die Urbanisierung und die Anonymität der modernen Gesellschaft die Verhaltenskontrolle von Jugendlichen durch herkömmliche informelle Kontroll- und Sanktionsmechanismen (Familie, Nachbarschaft, Gemeinde) eingeschränkt, z.T. aufgehoben und auf die justizförmig formelle und somit jugendstrafrechtliche Sozialkontrolle abgedrängt hat.

Der technische Fortschritt als eine Ausgangsform der Urbanisierung habe dem Einzelnen schneller Freiheiten verschafft, als sich Verhaltensnormen bilden und Werte genau bestimmt werden konnten. Der vermehrte Missbrauch dieser Freiheiten sei in Großstädten z.B. durch die hohe Jugendkriminalitätsrate erkennbar.

Kritische Betrachtungen

Der Annahme des Kriminalitätsanstiegs infolge der Urbanisierung steht entgegen, dass die Verbrechensrate in Europa in den vergangenen zwei Jahrhunderten relativ stabil geblieben ist. In einigen Zeiten des raschen ökonomischen Wachstums, insbesondere zwischen 1850 und 1930 - d.h. einschließlich der eigentlichen Urbanisierungsphase - hätte sich die Kriminalitätsrate sogar verringert.

Auch der Kausalzusammenhang zwischen Urbanisierung und Gewalt oder Kriminalität wird von einigen Wissenschaftlern als widerlegt angesehen. Die Annahme, dass mit der Stadtgröße das Ausmaß von Anomie, sozialer Desorganisation, Anonymität und Vereinsamung zunehme und dadurch die Bedingungen für steigende Kriminalität gegeben seien, würde nicht der Realität entsprechen. Diese Betrachtung müsse immer im Rahmen einer dynamischen Perspektive des sozialen Wandels erfolgen.

Ferner wird das Zusammenspiel von Großstadt und Kriminalität kritisch hinterfragt - das Ausmaß der Wirkungen sei nicht geklärt, ebenso wie die Frage, ob die Stadt Kriminelle anzieht oder erzeugt.


Urbanisierungsarten

  • Suburbanisierung beschreibt den Prozess der Expansion von Städten in das ländliche Umland.
  • Exurbanisierung charakterisiert die Verlagerung des Bevölkerungs- und somit des Siedlungswachstums der städtischen in benachbarte, noch überwiegend ländlich strukturierte Regionen. Beide werden weiterhin durch den Berufspendlerverkehr verbunden.
  • Desurbanisierung oder Entstädterung bezeichnet die absolute Bevölkerungs- und Beschäftigungsabnahme im gesamten Agglomerationsraum.
  • Reurbaisierung kennzeichnet die erneute, relative Bevölkerungs- und Beschäftigungszunahme in der Kernstadt.


Weiterführende Themen


Literatur

  • Bähr, Jürgen (2008), Einführung in die Urbanisierung, Berlin, S. 1 (Elektronische Quelle, http://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/handbuch_texte/pdf_Baehr_Einfuehrung_Urbanisierung.pdf; letzter Zugriff: 2011-03-01)
  • Brockhaus Enzyklopädie (19. Aufl., 1993), 24 Bände von F.A. Brockhaus, Leip., Band Tep-Ur, S. 695, 696
  • Davis, Mike (2007) Planet der Slums. Berlin: Assoziation A ISBN-10 3935936567
  • Eisner, Manuel (1997), Das Ende der zivilisierten Stadt?: Die Auswirkungen von Modernisierung und urbaner Krise auf Gewaltdelinquenz, Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main, S. 14, 270-271
  • Fischer, Claude (1984) The Urban Experience. 2. Aufl. San Diego: Harcourt Brace Jovanovich.
  • Galassi, Silviana (2004), Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, S. 203-223
  • Kaiser, Günther (1996), Kriminologie: Ein Lehrbuch, C.F. Müller Verlag, Hüthig GmbH, Heidelberg, S. 460, 610, 611
  • Köllmann, Wolfgang (1974), Bevölkerung in der industriellen Revolution, Vandenhoeck & Ruprecht, University of California, S. 127
  • Monkkonen, Eric, H. (1982), From Cop History to Social History, Journal of Social History 15, S. 577
  • Opaschowski, Horst W. (2005), Besser leben, schöner wohnen? Leben in der Stadt der Zukunft, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt für Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn , S. 1-8
  • Roth, Andreas (1997), Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten: 1850-1914, Erich Schmidt Verlag Berlin, S. 20-27
  • Szabo, Deniz zu Urbanisierung und Kriminalität in, Sack, Fritz; König, Rene (1968): Kriminalsoziologie, Akademische Verlagsgesellschaft Frankfurt a.M., S. 105-120
  • Teuteberg, Hans J. (1983), Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert: historische und geographische Aspekte, Böhlau, S. 28

Weblinks

  • Urbanisierung in: de.wikipedia [[1]]
  • Urbanization in: en.wikipedia [[2]]