Kriminalitätstheorien

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Die Kriminalitätstheorien lassen sich in Allgemeine Kriminalitätstheorien und Spezielle Kriminalitätstheorien unterteilen. Während sich die Allgemeinen Kriminaltitätstheorien mit der Entstehung von Kriminalität "allgemein" befassen, beschäftigen sich die Speziellen Kriminalitätstheorien mit speziellen Delikts- und Phänomenbereichen.


Allgemeine Kriminalitätstheorien

Die Allgemeinen Kriminalitätstheorien lassen sich in vier Kategorien unterteilen: die täterorientierten Ansätze, die gesellschaftsorientierten Ansätze, die sog. Kombinantionsansätze und die opferorientierte Ansätze. Während täterorientierte Ansätze das Entstehen von Kriminalität mit Aspekten erklären, die einer Person selbst entstammen, führen gesellschaftsorientierte Ansätze den Ursprung von Kriminalität auf Prozesse innerhalb der Gesellschaft zurück. Die sog. Kombinationsansätze verbinden Aspekte der personen- und gesellschaftsbezogenen Erklärungsansätze. Die opferorientierten Ansätze erklären, unter welchen Bedingungen, sich das Risiko Opfer kriminellen Verhaltens zu werden erhöht.


Täterorientierte Kriminalitätstheorien

Biologische Kriminalitätstheorien

Grundannahme: Kriminalität ist genetisch bedingt


Die Lehre vom geborenen Verbrecher (Lombroso 1894)

In seinem Werk (l'uomo delinquente, der verbrecherische Mensch, 1876) stellte Lombroso die These auf, dass man einen Verbrecher an äußeren Merkmalen (Stigmata) erkennen könne.

"Im Allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, Stirnhöhlen gewölbt, Kinn viereckig oder hervorragend..." Seine Aussagen gründeten auf Schädel- und anderen Körpermessungen bei zunächst ca. 3000 Soldaten und bei zahlreichen Gefängnisinsassen. Lombroso:

  1. Der Kriminelle unterscheidet sich von dem Nicht-Kriminellen durch zahlreiche physische und psychische Anomalien
  2. Verbrechen vererbt sich, es entsteht aus einer kriminellen Anlage
  3. Der Verbrecher ist eine Rückartung der menschlichen Gattung, ein atavistisches Wesen, im Verbrecher treten psychische und physische Merkmale auf, die man entwicklungsgeschichtlich für überwunden glaubte.

Die aufgrund von Anlagefaktoren ererbte körperliche Stigmatisierung ist nach Lombroso damit ursächlich für kriminelles Verhalten. Nach Lombroso handelt es sich bei dem Verbrecher (seine Interpretation der Darwinistischen Evolutionstheorie) um einen Rückfall in frühere Entwicklungsstufen des Menschen.

Der anlagebezogene Ansatz Lombrosos wurde schon zu seiner Zeit widerlegt.

Zwillingsforschung (Johannes Lange 1929, Friedrich Stumpfl 1936)

In der Zwillingsforschung geht man davon aus, dass der Einfluss von Erbanlagen durch den Vergleich der sozialen Entwicklung von eineiigen und zweieiigen bestimmt werden kann. Da eineiige Zwillinge genetisch 100% übereinstimmen (zweieiige Zwillingen stammen aus zwei Eizellen und zwei Spermien) müssten sie auch, sofern Anlagefaktoren von Bedeutung sind, in ihren sozialen Verhaltensweisen ähnlicher sein.

Lange nutzte 1929 erstmals die Zwillingsforschung für sie Erforschung von Kriminalitätsursachen. Er untersuchte 30 Zwillingspaare, von denen 13 Zwillingspaare eineiig und 17 zweieiig waren. Sollten genetische Faktoren von Bedeutung sein, so müsste der Vergleich Unterschiede in der Delinquenz ergeben. Das Ergebnis der Untersuchung zeigte, dass von den 13 eineiigen Zwillingspaaren bereits 10, also 77 % gemeinsam im Gefängnis saßen. Bei den zweieiigen Zwillingspaaren waren es lediglich 12%.

Folgeuntersuchungen durch Christiansen im Jahr 1977 mit 325 eineiigen und 611 zweieiigen Zwillingen ergaben, dass 37,2% der eineiigen und 12,5% der zweieiigen Zwillingspaare delinquent waren.


Adoptionsforschung (Mednick, Gabrielle, Hutchings 1982, Crowe 1972)

In der Adoptionsforschung wird untersucht, ob Adoptierte, deren Eltern kriminell waren eher kriminell werden, als solche, deren Eltern nicht kriminell waren.

Crowe verglich im Jahr 1972 das Schicksal von 52 Kindern von weißen inhaftierten Straftäterinnen, die zur Adoption gelangten mit dem Schicksal von 52 adoptierten Kindern einer vergleichbaren Kontrollgruppe nicht-krimineller Mütter. Ergebnis dieser Untersuchung war, dass 18,2% der Kinder mit kriminellen biologischen Müttern ebenfalls straffällig wurden, bei der Vergleichsgruppe wurden lediglich 2,7% der Kinder straffällig.

Mednick, Gabrielle und Hutchings untersuchten das Schicksal von 4068 adoptieren Kindern mit kriminellen biologischen Vätern. Waren sowohl biologischer, als auch der Adoptivvater kriminell, so wurden auch 24,5% dieser Kinder kriminell. Bei den Kindern mit nur kriminellem biologischem Vater, wurden 20% der Kinder kriminell. War lediglich der Adoptivvater kriminell, so lag die Anzahl der kriminellen Kinder bei 14,7% und waren beide Väter nicht kriminell bei 13,6%.


Chromosomenanomalie (Klein-Vogler, Haberlandt 1974)

Grundannahme dieser Auffassung ist, dass Personen mit einem zusätzlichen Y-Chromosom zwangsläufig kriminell werden. Da das Y-Chromosom nur bei männlichen Personen vorkommt, schloss man auf übersteigerte männliche Eigenschaften, vor allem eine übersteigerte Aggressivität. Untersuchungen von Kriminellen und Nicht-Kriminellen ergaben, dass 11% der Delinquenten diese Chromosomenanomalie aufwiesen. Bei der Vergleichsgruppe lag die Anzahl der Merkmalsträger bei 3%.

Die beschriebene Art der Chromosomenanomalie kommt bei 1-2% der Gesamtbevölkerung vor, hat folglich keine nennenswerte Auswirkung auf sie. Empirisch gesicherte Anhaltspunkte dafür, dass die Chromosomenanomalie sich kriminalitätsbegünstigend auswirkt gibt es bislang nicht.


Vergleichende biologische Verhaltensforschung/ Ethologie (Charles Darwin 1890-1882, Lorenz, Harlow)

Ethologie (wörtl. Lehre von der Verhaltensweise der Tiere) wird definiert als "Biologie des Verhaltens". Sie geht davon aus, dass kriminelles Verhalten instinktgesteuert ist und erklärt dies anhand von Vergleichen menschlicher und tierischer Verhaltensweisen, da aus Sicht der Evolution Mensch und Tier stammesgeschichtlich miteinander verwandt sind (Darwinistische Evolutionstheorie).

Zu den Pionieren der Vergleichenden Verhaltensforschung gehört Konrad Lorenz. Ein prominentes Beispiel seiner Arbeit ist der Versuch mit dem Ei einer Graugans: Nachdem er dieses künstlich ausbrüten ließ, lief es ihm vom Schlüpfen bis zur Reifezeit auf Schritt und Tritt hinterher -das Küken wurde durch ihn "fehlgeprägt". Durch seine Versuche konnte Lorenz nachweisen, dass Graugänse dem ersten sich bewegenden Objekt drei bis neun Stunden nach dem Schlüpfen nachlaufen und dieses als ihre "Mutter" anerkennen und er übertrug diese Erkenntnisse auf den Menschen: Auch der Mensch durchläuft als Säugling eine Prägephase in Bezug auf seine Eltern. Wird diese gestört, kommt es später gehäuft zu Fehlentwicklungen.

Das Ehepaar Harlow führte Versuche mit Rhesusaffen durch. Sie zogen Jungtiere isoliert von ihren Artgenossen auf und ordneten sie später wieder ihrer Population zu. Bei dieser Untersuchung wurde festgestellt, dass die zugeordneten Tiere ungesellig, asozial, sexuell gestört und bindungsunfähig waren. Von den Artgenossen wurden diese Tiere abgelehnt. Die weiblichen Tiere kümmerten sich nicht um ihren Nachwuchs. Das Ehepaar Harlow schloss daraus, dass Kinder, die unter Liebes- und Kontaktentzug litten, auch als Erwachsene oft selbst nicht fähig sind, Zuneigung zu vermitteln.

Psychologische Kriminalitätstheorien

Grundannahme: Kriminalität entsteht im Zusammenhang mit der Persönlichkeit einer Person (Störung der Psyche). Soziologische Aspekte spielen lediglich eine untergeordnete Rolle.


Psychoanalytisches Persönlichkeitsmodell (Sigmund Freud 1915)

Freud unterschied die menschliche Psyche in Bewusstsein, Vorbewusstsein und Unbewusstsein. Das Unbewusstsein beinhaltet Erlebnisse, Gefühle und Wünsche, die als bedrohlich oder beschämend empfunden und deswegen verdrängt werden. Neben dem Verdrängten wird nach Freud auch alles Erlebte, primitive Motive, Triebe, Sexualität und Aggression im Unbewusstsein gespeichert. Diesen Teil des Unbewusstseins nennt Freud "Es-Instanz". Im Laufe der Kindheit entwickelt das Kind eine Gewisseninstanz, das Über-Ich. Diese Instanz enthält moralische und sittliche Gebote, Wertevorstellungen und Normen. Es übernimmt die moralische Wertung des Verhaltens. Die Ich-Instanz (Gedächnis, Wahrnehmung, Denken etc.) vermittel zwischen den der Es-Instanz und der Außenwelt. Das Über-Ich und das Ich werden im Laufe der Sozialisation entwickelt.

Entsprechend Freuds Persönlichkeitsmodells kommt der Mensch als a-soziales, kriminelles Wesen zur Welt. Werden das Überich und Ich im Laufe der Sozialisation nur schwach ausgebildet kommt es zu dissozialem Verhalten. Kriminalität ist somit nicht angeboren, sondern wird auf eine Schädigung des Über-Ichs und Ichs im Rahmen der Erziehung zurückgeführt.

Theorie der latenten Verwahrlosung (Aichborn 1925)

Definition: "Verwahrlosung ist eine im Charakter unsozial oder antisozial ausgeprägte innere Einstellung des Einzelnen gegenüber geschriebenen oder ungeschriebenen Sitten in der Gesellschaft, in der er lebt."

Die Theorie der latenten Verwahrlosung geht davon aus, dass das Kind als ein a-sozialen Wesen geboren wird, welches auf die Erfüllung seiner Triebe besteht. Erst durch die Erziehung wird das Kind sozial angepasst.

Die Eltern nehmen in dieser Theorie eine wesentliche Rolle ein, denn erst durch die Erziehung lernt das Kind Triebeinschränkungen hinzunehmen. Ist die Beziehung zwischen Eltern und Kind gestört, kommt es zu einer latenten Verwahrlosung und somit zu Kriminalität. Die Ursache von Kriminalität (der latenten Verwahrlosung) liegt demnach in einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung.

Frustrations- Aggressions-Theorie (John Dollard 1939)

Die Frustrations-Aggression-Theorie geht davon aus, dass aggressives Verhalten eine Folge von Frustration ist. Als Folge auf eine Wunschversagung kann es demnach zu einer Verstimmung kommen, zu einem verbalen oder tätlichen Angriff. Die Stärke der Aggression hängt nach Dollard vom Grad der Neigung zu Frustrationsreaktionen, vom Grad der Behinderung einer Reaktion, von der Zahl der frustrierenden Reaktionen und von der Zahl gelöschter nicht-aggressiver Reaktionen ab.

Derzeit geht man nicht mehr davon aus, dass es einen zwingenden Zusammenhang zwischen Frustration und Aggression gibt.


Sozialpsychologische Kriminalitätstheorien

Grundannahme: Kriminalität entsteht im Zusammenhang mit der Persönlichkeit einer Person (Störung der Psyche). Soziologische Aspekte sind bei der Entstehung von Kriminalität ebenfalls von Bedeutung.


Theorie der Differenziellen Assoziation (Sutherland 1883-1950) (Lerntheorie)

Die Theorie der Differenziellen Assoziation nach E. Sutherland geht davon aus, dass Kriminalität eine Folge der Aneignung krimineller Verhaltensmuster in Interaktion mit anderen Personen ist. Es handelt sich dabei um ein erlerntes Verhalten durch Kommunikationsprozesse, welches sich vor allem in geschlossenen Gruppen - aber auch über die Massenmedien vollzieht. Der Lernprozess lässt sich wie folgt darstellen: Vorbild → Nachahmung → Häufigkeit der Wiederholungen Während des Lernprozesses werden die Techniken der Verbrechenbegehung, Motive und Einstellungen gelernt.

Nach Auffassung dieser Theorie wird derjenige delinquent, der mehr den Rechtsbruch begünstigende, als diesen missbilligende Einstellungen erlernt.

Theorie der Differenziellen Identifikation (Glaser 1956) (Lerntheorie)

Dieser Ansatz geht davon aus, dass der generelle Kontakt zu einer delinquenten Person oder Gruppe nicht ausreicht um selbst delinquent zu werden. Vielmehr bedarf es dem Kontakt zu ganz bestimmten Personen, nämlich jenen, die als Vorbilder (Idole) für die eigenen Motive und Verhaltensweisen herangezogen werden.


Soziale Bindungstheorie (Hirschi 1969) (Kontrolltheorie)

Nach Hirschi ist Devianz selbstverständlich, Konformität muss gelernt werden. Das Individuum wird dabei prinzipiell als "a-soziales", "a-moralisches" aggressives und impulsives Wesen gedacht, welches während der Sozialisation an gesellschaftliche Normen gebunden wird. Dieses geschieht auf vier Ebenen:

  1. Attachement: Hier geht es um die "emotionale Bindung an die Eltern". Eine schlecht ausgebildete Anbindung lässt viel Freiraum für Abweichung.
  2. Commitment: Hier geht es um die "Anbindung anhand des erlangten Status' in der Gesellschaft". Je höher das Erreichte im konventionellen Bereich gewertet wird, desto niedriger ist die Bereitschaft, dies durch abweichendes Verhalten aufs Spiel zu setzen.
  3. Involvement: Hier geht es um die "Anbindung durch Einbindung". Je mehr eine Person in konforme Strukturen eingebunden ist, desto weniger Freiräume bestehen für delinquentes Verhalten.
  4. Belief: Hier geht es um "den Stellenwert, den eine Person dem allgemeingültigen Wertesystem einräumt".

Je schwächer diese vier devianzverhindernden Faktoren ausgeprägt sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, sich entsprechend der ursprünglichen devianten Struktur zu verhalten.

Diese Theorie wurde in den 90er Jahren durch Hirschi und Gottfredson weiterentwickelt. Ausgangspunkt war, dass der Mensch Lust erreichen und Unlust vermeiden will. Da kurzfristig abgewogene Handlungen nach Hirschi und Gottfredson mehr Lust bereiten als langfristig abgewägte, müssen diese nicht besonders begründet werden, sondern ergeben sich aus der Natur des Menschen. Nicht-deviantes Verhalten zeichnet sich dadurch aus, dass auch langfristige Konsequenzen beachtet werden, mit denen das Individuum konfrontiert werden (insbesondere durch die verschiedenen Sanktionssysteme)

Halttheorie (Reiss 1951, Reckless 1961, Hirschi 1969) (Kontrolltheorie)

Die Halttheorie versucht zu erklären, welche Faktoren die Kriminalitätsentstehung verhindern. Sie geht davon aus, dass konformes Verhalten durch einen inneren und äußeren Halt bedingt wird, wobei der innere Halt u.a. aus einer gelungenen Sozialisation und Erziehung resultiert und er äußere Halt durch u.a. durch Freunde, Gruppe und Religiosität geprägt wird.

Der innere und äußere Halt hilft dem Individuum, den delinquentes Verhalten begünstigenden Zug- und Druckfaktoren zu widerstehen. Bei Zugfaktoren handelt es sich um äußere Einflüsse wie z.B. die Freundschaft mit Kriminellen, materielle Bedürfnisse und Anerkennung. Die Druckfaktoren wirken von innen. Hierbei kann es sich z.B. um materielle Not durch Arbeitslosigkeit, extreme soziale Ungleichheit oder Drogensucht handeln. Thesen:

  • Fehlt es an äußerem Halt, kann der innere Halt kriminelles Verhalten verhindern.
  • Fehlt es an innerem Halt, kann kriminelles Verhalten nur schwer verhindert werden.
  • Ist beides nicht vorhanden, ist kriminelles Verhalten vorprogrammiert.

Demzufolge kommt dem inneren Halt eine ungleich größere Bedeutung zu. Sie gilt als signifikant für die Erklärung von Jugendkriminalität.


Theorie des rationalen Wahlhandelns (rational choice) (Becker 1974, Cornish/Clarke 1986)

So wie die beiden o.g. Kontrolltheorien (1.1.3.3/1.1.3.4) versucht auch diese Theorie zu erklären, warum Individuen keine Verbrechen begehen. Nach der Theorie des rationalen Wahlhandelns entscheidet sich der Mensch gegen oder für ein Verbrechen aufgrund einer Kosten-Nutzen-Analyse. Der potentielle Täter fragt sich also, welche Vorteile (Nutzen) und welche Nachteile (Kosten) die Tat mit sich bringt und wägt dann zwischen Risiko und Nutzen ab.

Nicht erklären kann dieser Ansatz das planlose, nicht vorausschauend durchgeführte Verbrechen, sowie Affekthandlungen oder Verbrechen aus irrationalen Motiven.



Gesellschaftsorientierte Kriminalitätstheorien

Soziologische Kriminalitätstheorien

Grundannahme: Der soziologische Aspekt ist entschiedenes Kriterium bei der Entstehung von Kriminalität.


Theorie der (delinquenten) Subkultur (Albert Cohen 1955)

Die Theorie der delinquenten Subkultur fokussiert die Angehörigen der Unterschicht. Sie geht davon aus, dass diese den Wertevorstellungen und Zielen der Mittelschicht folgen (materieller Erfolg). Die Sozialisationsbedingungen (z.B. in der Schul-/Berufsausbildung) der Kinder und Jugendlichen der Unterschicht benachteiligen diese jedoch im Hinblick auf die Erreichung dieser Ziele; die schlechte Chancenstruktur führt wiederum zu Druck/Stress (Minderwertigkeitsgefühl). Der Druck/Stress kann dann zu einer Subkultur führen, deren Mitglieder sich in der Regel kriminell verhalten, um die Ziele dennoch zu erreichen.

Der Druck/Stress kann aber auch dazu führen, dass der Lebensstil der Unterschicht (Corner-Boy) oder der Mittelschicht (College-Boy) übernommen wird.


Theorie der sozialen Desorganisation (Trasher, Shaw 1929)

Die Theorie der sozialen Desorganisation geht davon aus, dass die Belastung mit Kriminalität umso höher ist, je näher ein Gebiet am Stadtzentrum liegt. Der Aspekt der Gemeinschaftlichkeit ist in ländlichen Gebieten noch wohlgeraten. Die Industriealisierung und soziale Umwälzung, die zu urbanen Lebensformen führt, bricht die Gemeinschaft und leitet den Niedergang der Moral ein. Die Kriminalität kennzeichnet diesen moralischen Niedergang. Bemerkung: Nicht der Raum, sondern die sozialen Bedingungen in der Stadt "produzieren" kriminelles Verhalten. Hierzu gehören schlechte Wohnverhältnisse, große Bevölkerungsdichte, Armut, niedriger Bildungstand, minimale soziale Kontrolle.

Anomietheorie

siehe auch: Begriff Anomie

Durkheim (1893) Anomie: Zustand mangelnder sozialer Regelung, bestimmt durch zu hohe Arbeitsteilung und Konjunkturphasen.

Nach Durkheim steigt der Erwartungshorizont mit dem Ansteigen der wirtschaftlichen Konjunkturphasen. Im Fall der Regression kann dieser nicht mehr so leicht gesenkt werden. Weiter führt die hohe Arbeitsteilung in den Gesellschaften zu einer Verringerung von engen und kontinuierlichen Interaktionen der Menschen. In Folge dieser Punkte werden bestimmte gesellschaftlich notwendige Regeln nicht gemeinsam getragen und es kommt zu einer Deregulierung des moralischen Normsystems und somit zu Kriminalität.


Merton (1938) Anomie: Uneinigkeit zwischen der kulturellen und sozialen Struktur.

Nach Merton handelt es sich bei der kulturellen Struktur um komplexe gemeinschaftliche Wertevorstellungen, die das Verhalten der Mitglieder in einer Gesellschaft regeln. Die soziale Struktur reguliert und kontrolliert die erlaubten Wege zur Erreichung von Zielen, sie kennzeichnet allgemein die Chancenstruktur. Verwehren nun sozial-strukturelle Bedingungen das Erreichen der kulturellen Ziele, kann es zum Gebrauch illegaler Mittel (Kriminalität) kommen, um diese Ziele dennoch zu erreichen.

Etikettierungstheorie

Labeling Approach (Becker 1963/ Vorreiter: Tannenbaum 1938)

Vertreter des Labeling Approach gehen davon aus, dass kriminelles Verhalten nicht durch das soziale Versagen von Menschen entsteht, sondern durch spezielle Zuschreibungsprozesse der Instanzen sozialer Kontrolle (Justiz/Polizei).

Ausgangspunkt dieser Theorie ist die sog. Ubiquitätsthese. Demnach ist Kriminalität eine normale Erscheinung, die man in allen Gesellschaftsschichten gleichermaßen antrifft. Erst durch Sanktionierungsprozesse von Polizei und Justiz wird darüber entschieden, wem der "Stempel" (label) des Straftäters aufgedrückt wird. In der Folge kommt es zu einer Stigmatisierung, welche ein kriminelles Selbstbild verursacht und zu weiterem kriminellen Verhalten führt.



Kombinationsansätze

Mehrfaktorenansatz (Liszt 1905, Göppinger 1983)

Der Mehrfaktorenansatz geht davon aus, dass verschiedene Faktoren bei der Entstehung kriminellen Verhaltens zusammenwirken. Er erfasst unterschiedliche Umwelteinflüsse, Anlagefaktoren und spezielle Persönlichkeitsmerkmale des Straftäters. Dieser Ansatz versucht zu belegen, dass kriminelles Verhalten multifaktoriell zustande kommt. Die Methode besteht aus Erhebung und Analyse von Daten.

The General Theory of Crime

Bei der General Theory of Crime handelt es sich ebenfalls um einen multifaktoriellen Ansatz. Er geht davon aus, dass Menschen mit einer schwachen Selbstkontrolle und bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen wie z.B. Impulsivität dazu neigen sich abweichend zu verhalten.

Opferorientierte Ansätze

Die opferorientierten bzw. viktimologischen Ansätze gehen davon aus, dass bestimmte Konstellationen das Risiko Opfer kriminellen Verhaltens zu werden erhöhen.


Die Routine Activity Theory

siehe auch: routine activity theory

Nach der Routine Activity Theory hängt das Viktimisierungsrisiko mit bestimmten Alltagstätigkeiten des Opfers, wie z.B. Arbeiten oder Ausgehen zusammen. Das Risiko Opfer eines Verbrechens zu werden ist umso höher, je mehr Zeit man in „riskanten Umgebungen“ verbringt. Dieses Risiko erhöht sich nach der Theorie, wenn es erstens eine Person gibt, die bereit ist ein Verbrechen zu begehen (motivated offender), zweitens die Rechtsgüter des potentiellen Opfers Anreize für ein Verbrechen bieten (availability of a suitable target) und drittens die Rechtsgüter des potentiellen Opfers nicht hinreichend geschützt sind ( absence of a capable guardian). Im Vordergrund dieser Theorie stehen folglich die situationsbezogenen Einflussfaktoren.

Theorie der erlernten Hilflosigkeit

Die Theorie der erlernten Hilflosigkeit geht davon aus, das Menschen, die lange Zeit oder mehrfach eine traumatisierende Situation durchlebt haben, nach Beendigung dieser Situation nicht mehr in der Lage sind, sich „normal“ zu verhalten, da durch die Täter das Selbstwertgefühl des Opfers zerstört und die Angstgefühle verstärkt werden. Diese Umstände erhöhen die Re-Viktimisierungswahrscheinlichkeit.


Die „kulturelle“ Viktimisierungstheorie

Nach der „Kulturellen“ Viktimisierungstheorie sind solche Menschen besonders opferanfällig, die sich aufgrund ihrer Andersartigkeit von anderen Menschen unterscheiden und durch diese Andersartigkeit Haßverbrechen auslösen. Hierzu zählen vor allem ethnische oder religiöse Minderheiten und Menschen, die sich durch ihre Lebensweise (Obdachlose) oder ihre sexuellen Vorlieben (Homosexuelle) von Anderen unterschieden.

Literatur

Weblinks

  • Einen ausgezeichneten Überblick über moderne soziologische Kriminalitätstheorien bietet Dirk Enzmann (siehe: Kriminologische Theorien (Überblick)).
  • Eine kompakte Darstellung zu den bekanntesten kriminologischen Kriminalitätstheorien findet sich bei KrimTheo.