Choque de ordem

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Die Regierung von Rio de Janeiro rief 2008 das Programm Choque de ordem (portugiesisch: Ordnungsschock) ins Leben. Es steht für eine neue Sicherheitspolitik der Stadt, die sich auf die FIFA Weltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 vorbereitet. Die Olympischen Spiele werden 2016 zum ersten Mal in Südamerika stattfinden. Auch nach den Spielen soll in Rio langfristig und nachhaltig ein gewaltarmes und geordnetes Klima herrschen, das die Megacity unumstößlich zur Weltstadt werden lässt.[1]

Sicherheitslage in Rio de Janeiro

Rio de Janeiro zählt weltweit zu den Städten mit den größten Kriminalitätsraten, wenngleich die Mordraten in den letzten Jahren zurückgegangen sind. Gab es 2003 noch 53 Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner, sind diese 2009 auf eine historisches Tief von 29 gesunken. Vor allem der Gewalt nach sich ziehende Drogen- und Waffenhandel sorgt für Probleme. In Teilen der Stadt obliegt das Gewaltmonopol nicht mehr der staatlichen Autorität, sondern Drogenkartellen und sogenannten Milizen, selbsternannten Ordnungshütern, die aus ehemaligen Militärs und bestechlichen Polizisten bestehen.[2] Von der internationalen Presse wird daher regelmäßig angezweifelt, ob Rio die geeignete Metropole für die Austragung sportlicher Mega-Events wie den Olympischen Spielen ist. Laut offiziellem Dokument des Sekretariats für öffentliche Ordnung (Secretaria Especial da Ordem Pública, SEOP) stand die öffentliche Sicherheit in den letzten Jahrzehnten nicht sehr weit oben auf der Agenda der Stadt. In Rio de Janiero habe sich eine Kultur der Illegalität verbreitet. Die Ausbreitung von Drogenhandel und organisierter Kriminalität in den Favelas wird in Rio hauptsächlich den Vorgängerregierungen des Bundesstaats angelastet. Vor allem unter Gouverneursehepaar Anthony und Rosinha Garotinho zwischen 1999 und 2007 war es zu schweren Ausschreitungen der Drogenbanden gekommen, die fast das gesamte Stadtgebiet von Rio unsicher gemacht hatten.[3]

Der nationale Aktionsplan des Referats für Öffentliche Sicherheit (Secretaria Nacional de Segurança Pública, SENASP), ansässig beim brasilianischen Justizministerium, rechnet damit, dass die Weltmeisterschaft 2014 ungefähr eine Million Touristen, 15.000 Journalisten, 15.000 Freiwillige sowie 300 Funktionäre und Gäste anziehen wird. Probleme, die ein negatives Bild von Brasilien entstehen lassen können, sollen daher beseitigt werden. Verbrechensbekämpfung und Ordnungssicherung sollen in erster Linie der Gewaltprävention dienen und haben in dem Plan auf der bundesstaatlichen und kommunalen Ebene oberste Priorität. Ebenfalls vorgesehen ist die Entwicklung von sozialen Programmen, die speziell auf Gewaltprävention ausgerichtet sind.[4]

Sicherheitspolitik seit 2007

Mit dem Choque de ordem rief die Regierung von Rio de Janeiro die „Rückeroberung“ der Stadt aus, die sich vor allem auf die von kriminellen Vereinigungen kontrollierten Favelas, in denen ein Fünftel der Bevölkerung Rio de Janeiros lebt[5], konzentrierte. Die Militärpolizei setzte zu diesem Zweck 2009 eine neue Polizeieinheit, die Unidade de Polícia Pacificadora (UPP) ein, die zum Start der WM in 175 Favelas implementiert werden soll. Seitdem werden verschiedene Ordnungsaktionen durchgeführt, die das eigens dafür geschaffene Sekretariat SEOP (Secretaria Especial da Ordem Pública) koordiniert.[6] Die Maßnahmen haben zum Ziel, „die städtische Ordnung zu stärken, kleine Delikte zu bekämpfen und die territoriale Kontrolle des Staats über die wichtigen Gebiete der Stadt wiederzuerlangen, um letztendlich entscheidend zur Verbesserung der öffentlichen Sicherheit in unserer Stadt beizutragen“. [7]

Die Sicherheits- und Ordnungsmaßnahmen in Rio de Janeiro stehen in der Tradition der Broken Windows-Theorie. Der Bürgermeister Eduardo Paes, der im Laufe seiner Karriere fünfmal die Partei gewechselt hat, orientierte sich bei seinem Sicherheitskonzept an der Zero Tolerance-Strategie des ehemaligen Bürgermeisters von New York, Rudy Giuliani.[8] Dessen Politik bestrafte selbst kleine Vergehen und trieb in den neunziger Jahren Drogen, Gewalt, Vandalismus und Armut aus Manhattan. Wie Giuliani verfolgt auch Paes ein erzieherisches Ziel. Den Bürgern soll vermittelt werden, dass die öffentliche Ordnung in direktem Zusammenhang mit Lebensqualität, Sicherheit und Wohlbefinden stehe.[9]

Complexo Alemão

Bereits 2007, als Rio de Janeiro die Panamerikanischen Spiele ausrichtete, fand in dem aus 17 Favelas bestehenden Complexio Alemão einer der größten Polizeieinsätze der Geschichte Rios statt, der gleichsam als Testlauf des neuen Sicherheitskonzeptes gilt. Der Complexio Alemão, eines der wichtigsten Zentren der Drogenkriminalität, dient insbesondere als Lagerstätte von Drogen und Waffen. Insgesamt vier groß angelegte Polizeieinsätze wurden durchgeführt, wobei an dem letzten 1.450 Mitglieder von Polizei- und Sondereinheiten beteiligt waren. Entgegen der Zielvorgabe, 60 Prozent des Areals zu besetzen, gelang es der Polizei lediglich 400m in die Favela vorzudringen. Es schloss sich eine wochenlange Besetzung der Ein- und Ausgänge des Viertels an. Am Ende der Polizeioperation wurden 44 getötete Favelabewohner – mutmaßliche Mitglieder des dort herrschenden Comando Vermelho (CV) – , zwei getötete Polizisten und 80 durch Schusswaffen verletzte Personen verzeichnet. Alle Opfer wurden als „im bewaffneten Widerstand gegen die Staatsgewalt getötet“ deklariert. Allein es wurden weniger Waffen konfisziert als Menschen getötet. Der damalige Innenminister José Mariano Beltrame sagte der Presse, man könne kein Omelette machen ohne Eier zu zerbrechen.

Da der Versuch, die lokalen Drogenbanden zu zerschlagen, fehlschlug, die Menge an beschlagnahmten Drogen und Sprengstoff (300 kg) sowie an Waffen (12) relativ gering war und die Favela nach dem Verlassen der Polizei weiter unter der Herrschaft des Comando Vermelho stand, war die Aktion nicht von Erfolg gekrönt. Die Evaluierung ergab, dass einer dergestalten Razzia eine dauerhafte Polizeipräsenz folgen muss, um zu verhindern, dass die Favelas wieder unter die Kontrolle von Kriminellen gelangen. Um das Leben der gewöhnlichen Favela-Bewohner zu schützen, müsse die Polizeiarbeit effektiver und weniger militärisch sein.[10]

Rocinha

Ein Beispiel für einen erfolgreichen, friedlichen Einsatz, bei dem kein einziger Schuss fiel, ist die Besetzung der Favela Rocinha im November 2011. Wenige Kilometer von den wohlhabenden Vierteln Leblon und Ipanema gelegen, gilt Rocinha mit 70.000 Einwohnern als die größte Favela Brasiliens. 2008 hatte der Innenminister erklärt, dass im oberen Teil der Rocinha seit sechs Jahren kein Polizist mehr gewesen war. An der Besetzungsaktion nahmen 3.000 Polizisten teil; es wurden auch Hubschrauber und Panzer eingesetzt. Nachdem die Zufahrten zur Rocinha schon Tage zuvor streng kontrolliert worden waren, wurde die Favela innerhalb von zwei Stunden vollständig besetzt und unter die Kontrolle der Polizei gebracht.[11] Seit August 2012 sind 750 UPP-Polizisten in der Rocinha aufgestellt.

Die Unidade de Polícia Pacificadora (UPP)

Seit 2009 wird nach einer neuen Strategie zur Kontrolle der Favelas vorgegangen. Das Gewaltmonopol und die an die Drogenbanden und Milizen verlorengegangenen Territorien sollen wieder zurückerobert bzw. dauerhaft gesichert werden. Deswegen verbleiben die sogenannten UPPs (Unidade de Polícia Pacificadora) andauernd in den jeweiligen Vierteln.

Neu ist, dass die Besetzung der jeweiligen Favelas angekündigt wird, um Gefahren für die Zivilbevölkerung sowie Konfrontationen mit Waffengewalt zu verringern. Zu Beginn des Einsatzes besetzen die Spezialeinheiten des BOPE (Batalhão de Operações Policiais Especiais) strategisch wichtige Punkte der Favela und verhaften bzw. vertreiben Mitglieder der lokaler Banden. Ist eine relative Sicherheit gewährleistet, wird die BOPE von den Einheiten der UPP abgelöst. Im letzten Schritt folgt der Einsatz der „UPP social“, die die Rückkehr staatlicher Institutionen und Maßnahmen unterstützen bzw. ermöglichen soll. Die Polizeikräfte arbeiten in drei Schichten und sollen 24 Stunden am Tag für Sicherheit und Ordnung sorgen. Eine weitere Neuheit ist der Einsatz „nicht tödlicher Waffen". Diese sollen auch der Herausforderung Abhilfe schaffen, das über Jahre verloren gegangene Vertrauen der Bewohner in die Polizei wieder herzustellen. Jahrelang verbanden die Einwohner Polizeipräsenz mit Gefahr für Leib und Leben und nicht mit der Herstellung von Ordnung und Sicherheit. Zwischen 1998 und 2009 registrierte der Bundesstaat Rio de Janeiro 10.000 Zivilpersonen, die bei Auseinandersetzungen mit der Polizei starben.[12]

Der Einsatz der UPPs wird weitläufig als Erfolg angesehen. In den besetzten Favelas wird ein stetiger Rückgang der Kriminalitätsraten festgestellt. Umfragen bei den Bewohnern der betroffenen Gebiete zufolge sei die Sicherheit und Lebensqualität angestiegen. Das Brasilianische Institut für Sozialforschung (Instituto Brasileiro de Pesquisa Social, IBPS) gibt an, dass sich in den Favelas mit UPP 93 Prozent der Einwohner sicher oder sehr sicher fühlen, wohingegen sich in den Favelas ohne UPP 50 Prozent der Einwohner unischer oder sehr unsicher fühlen. Weiter bestätigte die große Mehrheit der Befragten, dass nach Einsatz der UPP in ihren Vierteln keine bewaffneten Mitglieder von Drogenbanden mehr auf den Straßen patroullierten, dass der Drogenhandel aufhörte sowie der Drogenkonsum auf der Straße zurückging und dass keine Schusswechsel und Hinrichtungen mehr stattfanden. Dennoch bleibt die Angst bestehen, Repressionen durch die Drogenbanden zu erleiden, wenn die Einwohner zu sehr mit den UPP-Einheiten kooperieren. Bis 2016 sollen 60.000 Polizisten für die UPP rekrutiert und ausgebildet werden, um einen Großteil der ca. 1.000 Favelas in Rio zu besetzen.[13] Bislang sind 19 „Friedenseinheiten“ in über 60 Favelas tätig. (Stand: April 2012) Fraglich ist, ob es die Polizei bis 2016 schafft, wie geplant 60.000 neue Polizisten zu rekrutieren. Außerdem ist der Grad der Korruption in der „polícia militar“ sehr hoch und auch die Mitglieder der UPPs gehören zur polícia militar und werden an deren Akademie ausgebildet. Der Polizeichef von Rio, Robson Rodrigues da Silva, betont aber, dass es einen Transformationsprozess der Polizei hin zur „Legitimität des staatlichen Eingreifens“ gäbe. [14] Auch der brasilianische Soziologe Ignacio Cano sieht im Gegensatz zum früheren „Krieg gegen den Drogenhandel“ eine Neuausrichtung der Polizei, weg von einer repressiven und hin zu einer präventiven. Diese könne den Drogenhandel zwar nicht verhindern, aber seine gewaltsame Ausübung abwenden.[15]

Nachhaltige Favelapolitik

Ein Argument für „Rio 16“ war das Nachhaltigkeitskonzept der Stadt. Neben dem Aspekt des Umweltschutzes enthält das Konzept eine Partnerschaft zwischen der Stadtregierung und Privatunternehmen - insbesondere Immobilienunternehmen - die der Entlastung des öffentlichen Haushalts dienen soll. Anlässlich der Olympischen Spiele 2016 wird viel Geld in den Ausbau der Infrastruktur investiert: neue Metrolinien entstehen, der Flughafen wird ausgebaut, das Hafenviertel wird renoviert. An dem Ort, wo der neue Olympiapark gebaut werden soll, ist heute noch die Favela Vila Autódromo angesiedelt. Da es hier keine Drogenbanden oder Milizen gibt, gilt sie als Vorzeigefavela und soll dennoch abgerissen werden. Im Dossier, das Rio für seine Olympiabewerbung eingereicht hat, wird versprochen, die Lagune von Barra da Tijuca zu säubern. Da die Favela Vila Autódromo bis heute nicht an das städtische Abwassernetz angeschlossen ist, fließen die meisten Abwässer in die Lagune, was den Abriss aus Sicht der Stadtverwaltung rechtfertigt. Wenn die Olympischen Spiele 2016 vorbei sind, wird ein Viertel des Olympiaparks als Sportanlage erhalten bleiben. Den Rest dürfen die Unternehmen, die den Olympiapark für die Stadt errichten, zu luxuriösen Wohnanlagen umbauen.[16]

Eine andere strittige Maßnahme der Stadt ist die Errichtung einer 650m langen und 3m hohen Mauer in der Favela Morro Dona Marta in Botafogo, im Süden Rios. Der Bau wurde damit begründet, die Umweltzerstörung in der Umgebung aufzuhalten. Jedoch sehen viele in der Maßnahme eine Separierung von Arm und Reich. Nach Angaben der Presse sind weitere 17 Mio. US-$ für die Errichtung von Mauern um Armenviertel geplant.[17]

Ordnungsmaßnahmen im Alltag

Die Maßnahmen der Stadtverwaltung wirken sich auch auf das Strandleben an der Copacabana aus. Strandverkäufer werden nur noch geduldet, wenn sie eine Lizenz haben. Am Strand darf nicht mehr gegrillt werden. Der Verkauf des typischen, in Oregano gewälzten Grillkäses am Stiel ist verboten. Ballspielen ist am Tag nur noch am hinteren Teil des Strandes erlaubt. An der Brandung ist es untersagt, weil Menschen verletzt werden könnten. Am Strand patrouillieren Wächter um dies zu kontrollieren. Die Farbe der Sonnenschirme und Stühle der Verleiher sind jetzt vorgeschrieben. Getränke in Glasflaschen dürfen nicht mehr verkauft werden. Die Kokosnüsse dürfen nicht mehr mit der Machete geöffnet werden, sondern sollen aufgebohrt werden.[18] Auch jenseits des Strandes werden alle ohne Gewerbeschein - Snackverkäufer, Autowäscher, Parkwächter, Motorradtaxifahrer, Straßenhändler - von den Behörden verfolgt. Falsch geparkte Autos werden abgeschleppt. Es wurde eigens eine Hotline eingerichtet, bei der die Bürger anrufen sollen, um Vergehen ihrer Mitbürger anzuzeigen. Am häufigsten wird der heiße Draht zum Karneval genutzt, wenn Betrunkene auf die Straße urinieren. Bis 2012 sollten außerdem 400 Kameras zur Videoüberwachung zentraler Plätze der Stadt installiert werden.[19]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. http://www.zeit.de/2010/19/Rio-de-Janeiro
  2. http://www.kas.de/brasilien/de/publications/21260/
  3. http://m.faz.net/aktuell/politik/ausland/drogenhandel-in-brasilien-friede-den-favelas-11715774.html
  4. Pellacini, Anna: Sicherheitskonzepte im Vorfeld sportlicher Mega-Events. Eine Chance für Rio de Janiero?, in: ZFAS Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 4/2011, S. 619.
  5. http://www.zeit.de/2010/19/Rio-de-Janeiro/seite-1
  6. Insgesamt 8000 Menschen arbeiten im Amt für Öffentliche Ordnung.
  7. Pellacini, Anna: Sicherheitskonzepte im Vorfeld sportlicher Mega-Events. Eine Chance für Rio de Janiero?, in: ZFAS Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 4/2011, S. 621.
  8. http://www.zeit.de/2010/19/Rio-de-Janeiro/seite-1
  9. Pellacini, Anna: Sicherheitskonzepte im Vorfeld sportlicher Mega-Events. Eine Chance für Rio de Janiero?, in: ZFAS Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 4/2011, S. 620.
  10. http://www.kas.de/brasilien/de/publications/21260/
  11. http://www.sueddeutsche.de/panorama/brasilien-polizei-rueckt-in-die-groesste-favela-ein-1.1187555
  12. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1478395/
  13. http://www.kas.de/brasilien/de/publications/21260/
  14. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1478524/
  15. Ebd.
  16. http://www.taz.de/Olympia-2016-in-Rio/!99337/
  17. Pellacini, Anna: Sicherheitskonzepte im Vorfeld sportlicher Mega-Events. Eine Chance für Rio de Janiero?, in: ZFAS Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 4/2011, S. 623.
  18. http://mediathek.daserste.de/sendungen_a-z/329478_weltspiegel/10939886_brasilien-spielverbot-am-strand-von-rio?buchstabe=W
  19. Pellacini, Anna: Sicherheitskonzepte im Vorfeld sportlicher Mega-Events. Eine Chance für Rio de Janiero?, in: ZFAS Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 4/2011, S. 621.