Labeling Approach

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- in Bearbeitung -

1. Der Begriff label (engl.) n geht auf das Alt-Französische label, lambel (später lambeau) zurück und wurde dort wahrscheinlich von dem Fränkischen labba oder dem wortverwandten lappa aus dem Alt-Hochdeutschen abgeleitet.
Ursprünglich bedeutete er soviel wie Fetzen oder Lumpen und wurde später auch für Zettel verwendet, die mittels ihrer Beschriftung und Befestigung an verschiedensten Objekten deren Kennzeichnung dienten. Dementsprechend kann label n heute wörtlich mit Etikett, Kennzeichnung oder Markierung bzw. label-ing v mit etikettieren, kennzeichnen oder markieren übersetzt werden.
Der Begriff approach (engl.) n geht auf das Mittelenglische approachen zurück. Abgeleitet wurde er vom Alt-Französischen approchier (jetzt approcher) und dort wiederum vom Lateinischen appropiare übernommen. Wörtlich übersetzt bedeutet er soviel wie Annäherung bzw. sich annähern an, an etwas herantreten.

2. Der Begriff L.A. umschreibt eine in den 50er-Jahren im angloamerikanischen Raum aufgekommene und Ende der 60er-Jahre in Deutschland rezepierte kriminalsoziologische Strömung, deren Vertreter in Abgrenzung zu früheren Erklärungsversuchen abweichendes Verhalten nicht als Merkmal individueller Anlagen oder Qualität einer bestimmten Handlung, sondern als das Produkt gesellschaftlicher Definitions- und Zuschreibungsprozesse qualifizieren.
In den Labeling-Ansätzen wird also nicht mehr nach täter- oder situationsspezifischen Ursachen für abweichendes bzw. kriminelles Verhalten gefragt, sondern danach, durch wen und auf welche Weise das Merkmal „kriminell“ an bestimmte Personen(-gruppen) herangetragen wird, kurz: wie diese kriminalisiert werden (vgl. >Kriminalisierung). Sehr unterschiedlich wird dabei auf makrosoziologischer Ebene mit der Definitions- und Selektionsmacht der Kontrollinstanzen und /oder mikrosoziologisch mit den Erfahrungen von Etikettierung und Stigmatisierung als Ursache für die Verfestigung devianter (vgl. >Devianz) Verhaltensmuster argumentiert. Eine Gemeinsamkeit besteht insofern nur darin, dass es die Reaktionen des sozialen Umfeldes auf bestimmte Verhaltensweisen sind, die zur Erklärung für das abweichende Verhalten Einzelner bzw. der Konstitution von Kriminalität in der Gesellschaft insgesamt herangezogen werden und es somit die Bedeutung bzw. der Einfluss der sozialen Kontrolle (vgl. >soziale Kontrolle) in allen ihren Erscheinungsformen und Ausprägungen ist, die zum Gegenstand der Überprüfung gemacht wird.
Die Ansicht, dass „Abweichung“ und „Kriminalität“ nicht länger als deskriptive Kategorien gelten können, deren Erscheinung sich an objektiven Kriterien festmachen lässt, sondern vielmehr die bei der Beurteilung eines Verhaltens als "abweichend" bzw. "kriminell" maßgebenden Definitions- Interpretations- und Aushandlungsprozesse aufzudecken und zu analysieren sind, markiert einen klaren Bruch zum Selbstverständnis der traditionellen Kriminologie mit ihrer Anbindung an v.a. juristische Fakultäten, da es ja gerade die Objektivität von Normen bzw. die des Rechts allgemein ist, welche hier in Frage gestellt und es damit das Handeln insbesondere der formellen Kontrollinstanzen ist, das hier in den Mittelpunkt gerückt wird. Daher hat sich für diese Perspektive auch die Bezeichnung „neu“ bzw. in der späteren Entwicklung auch „kritisch“ (vgl. kritische Kriminologie) und „radikal“ durchgesetzt.
Die Vielzahl an Variationen bzw. unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in den Labeling-Ansätzen macht es nahezu unmöglich, eine Argumentationslinie aufzuzeigen, die alle der im Rahmen dieser Perspektive aufgezeigten Aspekte berücksichtigen würde. Insofern hier nur in den wesentlichsten Grundzügen dargestellt, wird zum einen die Auffassung vertreten, dass „Abweichung“ in einer Gesellschaft erst dadurch entsteht, als dass bestimmte Verhaltensweisen von den formellen wie auch den informellen Kontrollinstanzen zunächst als „abweichend“ definiert werden (Fokussierung der Normsetzungsebene) und diese Definition dann personen- bzw. gruppenspezifisch unterschiedlich angewendet, dieses Merkmal insofern nur bestimmten Personen(-kreisen) zugeschrieben wird (Fokussierung der Normanwendungsebene). Relevant werden in diesem Zusammenhang schichtspezifische Unterschiede und Aspekte politischer bzw. allgemein gesellschaftlicher Macht, die es bestimmten Personen(-gruppen) überhaupt erst ermöglicht, andere „erfolgreich“ als abweichend definieren bzw. behandeln zu können.
An diese durch bestimmte Instanzen bzw. Personen vorgenommene Etikettierung anderer als "kriminell" knüpfen wiederum weitere Vertreter an, die in ihren Ansätzen die Wirkung eben dieser Zuschreibung auf individueller Ebene problematisieren. Hervorgehoben werden hier die Schwierigkeiten und Probleme, die sich für die Betroffenen daraus ergeben, öffentlich als abweichend oder kriminell abgestempelt worden zu sein ; argumentiert wird hier also mit der stigmatisierenden Wirkung von Sanktionen, durch welche ihre Adressaten zu Außenseitern der Gesellschaft gemacht und damit potentiell immer weiter in kriminelle Rollen hineingedrängt werden.
Je nachdem, wo die Schwerpunkte der Argumentationen liegen, wird der L.A. entweder als Definitions-, Etikettierungs- oder Reaktionsansatz und aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit dem früher vorherrschenden ätiologischen (vgl. >Ätiologie) Bezugsrahmen in der Kriminologie z.T. auch als Kontrollparadigma bezeichnet (zum Paradigmenstreit vgl. u.a. Keckeisen 1976, 23ff. ; Lamnek 1997, 25ff.).

3. Die Entwicklung des L.A. - sofern man überhaupt von einer solchen sprechen kann, da es sich hierbei eher die Gesamtheit der über einen bestimmten Zeitraum parallel formulierten und dabei in ihren Schwerpunktsetzungen z.T. sehr stark voneinander abweichenden Ansätzen als um die Weiterentwicklung einer konkreten Grundposition handelt - kann hier nur in Kürze anhand einiger Publikationen bzw. Ausführungen dargestellt werden, die den L.A. in seinen Grundzügen maßgeblich geprägt haben und deren Verfasser daher auch ganz überwiegend als Hauptvertreter dieser Perspektive angeführt werden: Auch wenn sich schon in früheren Formulierungen Hinweise auf die Dimensionen des Kontrollparadigmas finden lassen, dort also schon die Motive des L.A. vorweggenommen worden sind (so Keckeisen, der hier beispielhaft die bereits 1916 gemachte Aussage des Sozialisten Bonger, dass "Macht eine notwendige Bedingung für diejenigen ist, die ein Verhalten als Verbrechen klassifizieren wollen" anführt, vgl. 1976, 35) wird sein Ursprung zumeist in dem ersten, durch Frank Tannenbaum formulierten Etikettierungsansatz gesehen (1938). Denn dieser war der erste, der durch das Beschreiben des Prozesses der "Schaffung eines Kriminellen" auf die Bedeutung sozialer Reaktionen für abweichendes Verhalten hingewiesen hat (vgl. 1951,17).
An Bedeutung für die Forschung gewonnen haben diese Ausführungen jedoch erst wesentlich später durch deren Wiederaufgreifen durch Edwin M. Lemert und Howard S. Becker (1951). Welcher von beiden insofern als eigentlicher Wiederentdecker des L.A. gilt, ob Lemert mit der erstmaligen Formulierung der für den (gemäßigten) L.A. zentralen Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz oder Becker mit seiner berühmten Formulierung “the deviant is one to whom that label has been successfully applied: deviant behavior is behavior that people so label“ (vgl. 1963, 9), ist strittig. Jedenfalls haben beide etwa zeitgleich ihre Arbeiten publiziert.
Unter Zugrundelegung der Annahmen der durch George H. Mead geprägten Theorie des symbolischen Interaktionismus beschreibt Lemert, wie Reaktionen des sozialen Umfeldes auf das ursprünglich abweichende Verhalten einer Person -welches er primäre Devianz nennt- in dem Adressaten das Bewusstsein hervorgerufen können, „abweichend“ zu sein, dieser sodann in Bemühung um die Konsistenz seiner Identität beginnt, sich der ihm zugeschriebenen Rolle anzupassen und weitere Ausgrenzungen und stärkere Stigmatisierungen schließlich dazu führen können, dass der Betroffene sein Selbstbild soweit ändert, dass er seine neue soziale Rolle akzeptiert und infolgedessen weitere Abweichungen zeigt. Diese weitergehenden Abweichungen sind es dann, die er als sekundäre Devianz bezeichnet (1975,434f.).
Der primären Devianz schreibt er dabei insgesamt eine nur untergeordnete Rolle zu ; die für ihn maßgebliche (sekundäre) Devianz manifestiert sich erst in Handlungen, die der Betroffene vornimmt, weil er aufgrund des ihm verliehenen Etiketts „kriminell“ (zunehmend) zu der Überzeugung gelangt, dass entsprechende Verhaltensmuster ohnehin von ihm erwartet werden. Die Verfestigung krimineller Verhaltensmuster vollzieht sich dabei in einem Aufschaukelungsprozess zwischen immer stärker werdenden Stigmatisierungen seitens der Gesellschaft auf der einen und der Anpassung des Betroffenen an die Rolle des Abweichlers auf der anderen Seite und kann in der stärksten Ausprägung zu einer völligen „Reorganisation des Selbst“ und damit der Übernahme einer kriminellen Identität führen.
Auch Becker argumentiert in seinem Modell der „abweichenden Laufbahn“ damit, dass die Sanktionierung der als abweichend definierten Verhaltensweisen aufgrund ihrer Stigmatisierungswirkung zu einer Reduzierung der Möglichkeiten des Betroffenen führt, sich normkonform zu verhalten (vgl. 1975,23ff.) erweitert dieses jedoch um einen weiteren Gedanken, indem er über den Aspekt der Zuschreibung des Merkmals „Abweichung“ und den sich daraus ergebenen Problemen für die Betroffenen hinaus auch den der Normsetzung in seine Theorie mit einbezieht: Seiner Meinung nach enthält keine Verhaltensweise per se die Qualität „Abweichung“, sondern wird erst von den Normsetzern einer Gesellschaft als eine solche definiert ; insofern plädiert er auch dafür, in Fällen von Normverstößen zunächst von Regelverletzungen zu sprechen (vgl. 1975, 21f). Wirksam wird diese Definition aber erst mit ihrer Anwendung, wobei insofern selektiv vorgegangen wird, als dass gleichartige Verhaltensweisen situations- und personenspezifisch unterschiedlich – als entweder abweichend oder nicht-abweichend – definiert werden.
Mit dem Hinweis darauf, dass nur bestimmte Mitglieder einer Gesellschaft die Möglichkeit zur Formulierung und Durchsetzung von Normen haben, nämlich die, deren Stellung ihnen die dazu erforderlichen „Waffen“ und Macht gibt (vgl. 1975,22) erweitert Becker die Labeling-Perspektive um eine gesellschaftspolitische Dimension.
Weitergeführt wurde dieser Gedanke wenig später von John I. Kitsuse und Kai T. Erikson, die in ihren Ansätzen (1963) jedoch eine weitere wichtige Differenzierung hinsichtlich mikro- und makrosoziologischer Aspekte vornehmen. Beide zeigen, wie eine zunächst auf der Mikroebene erfolgte Etikettierung später auch von der Makroebene übernommen werden kann.
Die Ende der 60er- Anfang der 70er - Jahre beginnende Rezeption des L.A. in Deutschland ist der Verdienst von Fritz Sack mit der Formulierung seines radikalen Ansatzes (1968). Als „radikal“ deswegen bezeichnet, weil er im Gegensatz zu anderen Vertretern jede Ursachenforschung ablehnt und ausschließlich auf Definitions- und Zuschreibungsprozesse der Gesellschaft als Grund für das Auftreten von Kriminalität in der Gesellschaft abstellt. Seinen Annahmen, die er 1968 als „Neue Perspektiven in der Kriminologie“ vorgestellte, liegen die v.a. durch Harold Garfinkel, Aaron V. Cicourel und Harvey Sacks geprägten Grundzüge der Ethnomethodologie zugrunde, welche ihrerseits die der Phänomenologie von Alfred Schütz mit denen des symbolischen Interaktionismus verbindet. Vorangestellt wird die Behauptung, dass abweichendes Verhalten ubiquitär, d.h. gleichmäßig über alle Bevölkerungsschichten verteilt, also eine normale Erscheinung ist und erst durch die Instanzen der sozialen Kontrolle die Entscheidung getroffen wird, wem das Attribut „abweichend“ tatsächlich zugeschrieben wird.
Strafrechtlichen Normen erkennt er insofern ein eigenständiges Definitionspotential ab, als dass die Qualifizierung eines Verhaltens als „abweichend“ seiner Meinung nach entscheidend von der Interpretation des darunter subsumierten Sachverhaltes durch die Parteien eines Rechtsstreites (mit-) beeinflusst wird (vgl. 1968,465). Es ist für ihn somit nicht das Geschehen als solches, sondern die Interpretation und Rekonstruktion desselben, wodurch Kriminalität in der Gesellschaft erzeugt wird.
Da die Definitions- und Selektionsmacht der – vor allem, aber nicht ausschließlich – formellen Kontrollinstanzen geeignet ist, die soziale Struktur ständig neu zu produzieren, plädiert Sack dafür, Kriminalität nicht als ein Verhalten, sondern als ein „negatives Gut“ analog zu den positiven Gütern wie Vermögen oder Einkommen zu verstehen, dessen Verteilung ebenso ein Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzung ist wie solche, die die Verteilung positiver Güter in einer Gesellschaft regeln (1968,469f.). Die Zuweisung in kriminelle Rollen hinein hängt dabei seiner Meinung nach maßgeblich von der sozialen Schicht und der Familiensituation des Betroffenen ab, da Personen aus schlechten sozialen Verhältnissen eher von anderen als abweichend bzw. als kriminell definiert werden, als Personen höherer Schichten.(vgl.1968,472f.). Diese Selektionsmechanismen konstruieren Sacks Meinung nach so die „soziale Realität“ dessen, was in einer Gesellschaft auf der einen Seite als normgerechtes und auf der anderen als abweichendes Verhalten gilt (1968,475).
Wie oben schon angedeutet, sind eine Vielzahl weiterer Ansätze mit ganz unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen formuliert worden, die in diesem Artikel nicht berücksichtigt werden können. Als weitere Vertreter aus dem angloamerikanischen Raum sind hier insofern nur noch Edwin M. Schur und Thomas Scheff anzuführen.
Für den deutschsprachigen Raum ist v.a. noch Stephan Quensel zu nennen, der in seinem „Teufelskreis-Modell“ den Labeling-Gedanken mit psychoanalytischen und sozialisationstheoretischen Überlegungen verbindet (1970, 377ff.). In seinem 8-stufigen Modell beschreibt er, wie verschiedene Phasen fehlgeschlagener Interaktionen zwischen Jugendlichen und den Instanzen sozialer Kontrolle die Verfestigung abweichenden Verhaltens zur Folge haben können.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, dass delinquentes wie kriminelles Verhalten von Jugendlichen immer der Versuch ist, ein bestehendes Problem zu lösen (1970,377.). Bleibt dieses (ursprüngliche) Problem ungelöst und kommt es infolge weiterer Abweichungen zu stärkeren Stigmatisierungen, verfestigt sich die kriminelle Karriere. Der Prozess der Kriminalisierung wird dabei je eher und wahrscheinlicher eintreten bzw. voranschreiten, desto stärker die Sozialisationsbelastungen und -bedingungen des Jugendlichen sind, desto früher dessen kriminelle Karriere begonnen hat und desto später dabei das (ursprüngliche) Problem erkannt wurde sowie je fehlgeschlagener die Reaktion auf die Abweichung ausgefallen ist.

4. Kritik haben die Vertreter des L.A. vor allem aus zwei Richtungen erfahren: Aus ätiologischer Sicht bzgl. der Vernachlässigung objektiver Kriminalitätsursachen und dabei insbesondere des Verhaltensaspektes bzw. deren Ausblendung in der radikalen Position von Fritz Sack sowie aus ethnomethodologischer Sicht bzgl. der Unschärfe des Ansatzes. Vielfach angemerkt wurde, dass sich abweichendes Verhalten nicht allein mit Zuschreibungen erklären lasse und insofern auch die Überbetonung sekundärer Devianzphänomene nicht nachvollziehbar sei.
Zu Bedenken gegeben wurde in diesem Zusammenhang auch, dass der L.A. – jedenfalls in seiner radikalen Ausprägung – den Weg zu Präventivmaßnahmen gänzlich verstellt, hier „mit zunehmender Verabsolutierung des Ansatzes die Möglichkeiten, beim Kriminellen selbst mit Erfolg zu intervenieren oder auch antizipierend auf die Vermeidung delinquenten Handelns vorzubereiten“ immer geringer eingeschätzt und somit therapeutische Forschungen und praktische Anstrengungen vernachlässigt bzw. gänzlich aufgehoben werden (so v. Engelhardt 1975,125) oder weiter noch: der L.A. sozialpädagogisches Handeln „schlechthin delegitimiert, weil seine Umkehrung im Kern das Nichts-Tun, die Non-Intervention fordert“ (vgl. Peters 1996,112).
> wird ausgeführt

5. Die seit der Rezeption in einer Vielzahl durchgeführten empirischen Untersuchungen zum L.A. lassen sich nicht annähernd dokumentieren. An dieser Stelle bleibt nur zu sagen, dass sich diese sog. Instanzenforschung auf das Handeln nahezu aller Institutionen sozialer Kontrolle erstreckt hat, wobei es insbesondere die Polizei war, die hier ein „geradezu exponential wachsendes“ Forschungsinteresse auf sich gezogen hat (so Sack 1993, 504). Nach anfänglichen Untersuchungen zur Selektivität bei Verdachtsgewinnung und Kriminalisierung, wie u.a. die von Feest/Lautmann (1971) oder Feest/Blankenburg (1972), wurde der Blick später auch auf Faktoren gerichtet, die einen generellen Einfluss auf die Ausfüllung polizeilicher Handlungsspielräume haben können (vgl. Lehne 1993, 393, der hier u.a. die Rekrutierung und Ausbildung sowie die Organisationsstruktur der Polizei nennt).
Wie für die Polizei (>vgl. Polizei, Polizeiforschung) haben sich im Gefolge des L.A. auch um die Justiz bzw. das Handeln aller der am Strafverfahren beteiligten Vertreter (vgl. >Justiz, Justizforschung) und später auch um das Anzeigeverhalten eigenständige Forschungsfelder etabliert.
Weiter zu nennen und nur beispielhaft aufgeführt sind zudem Studien in den Bereichen der Sozialarbeit wie von Manfred Brusten (1973) und Helge Peters / Helga Cremer-Schäfer (1975), zu Stigmatisierungsprozessen in Schulen wie von Manfred Brusten / Klaus Hurrelmann (1973) sowie zur Stigmatisierung durch Heimerziehung (vgl. Bürger, 1990).
Allerdings lässt sich trotz der Fülle der durchgeführten Untersuchungen keine klare Aussage über die Gültigkeit des L.A. treffen. Grund für die z. T. sehr unterschiedlichen Ergebnisse (den Einfluss des L.A. z.T. bestätigend Feest/Blankenburg 1972 ; verneinend hingegen Boy 1984, Bürger 1990) sind wohl die Vielseitig- und Vielschichtigkeit der den Studien zugrundegelegten Fragestellungen und die bereits oben genannten gestaltungstheoretischen und methodischen Probleme.
Anzumerken bleibt jedoch, dass spätere Untersuchungen z. T. hochsignifikante Ergebnisse bzgl. kausaler Beziehungen zwischen Stigmatisierung und krimineller Karriere hervorgebracht haben (vgl. u.a. Kaplan 1980) und in diesem Zusammenhang wohl auch unbestritten ist, dass solche Ergebnisse wesentlich zu der Verbreitung des Diversionsgedankens (vgl. >Diversion) beigetragen haben.

6. Versucht man die Bedeutung bzw. den Einfluss dieses ja doch verhältnismäßig jungen Ansatzes zu bilanzieren, muss bemerkt werden, dass er für sich gesehen längst nicht mehr so populär ist wie noch in den 70-er Jahren.
So stellt Peters seiner Bilanz für den deutschsprachigen Raum die Feststellung voran, dass während zu jener Zeit „noch jede Randgruppe unter die etikettierungstheoretische Perspektive gerückt wurde (...), derartige Arbeiten in den 80-er Jahren schon zu suchen waren“ und ätiologisches Denken die Disskussion wieder beherrscht (vgl. 1996, 107). Ähnlich formulieren Raymond Paternoster und Lee Ann Iovanni für den angloamerikanischen Raum, dass die Gültigkeit des L.A. vor dem Hintergrund der Kritiken immer mehr in Frage gestellt und er 1985 schließlich für tot erklärt worden sei (vgl. 1984, 359).
Nach Peters lässt sich die „feststellbare Abneigung von Kriminologen, sich am labeling zu orientieren“ (so 1996, 107) nicht auf die vermeintlichen Mängel des Ansatzes, sondern darauf zurückführen, dass „die Kriminalitätsentwicklung den Kriminologen immer weniger Chancen bietet, ihre Gesellschaftskritik über den L.A. zu artikulieren“ (vgl. a.a.O.), womit er eine faktische Parteilichkeit eingesteht. Insbesondere die seit den 80-Jahren aufgekommene Gewalt von rechts sei es gewesen, welche die Etikettierungstheoretiker entmutige, denn „wer sähe Skinheads gern als Adressaten der Stigmatisierung von Instanzen sozialer Kontrolle, als deren Konstrukt?“ (vgl. 1996, 113.).
> wird ausgeführt


7. Die Zusammenhänge des L.A. mit anderen kriminologischen Begriffen sind vielfältig.
Allgemein kann seine Rezeption als der wohl "konsequenteste Ausdruck einer Neuorientierung der Kriminologie in Richtung der Einbeziehung der sozialen Kontrolle (vgl. >soziale Kontrolle) in die Analyse der Kriminalität" betrachtet werden (so Sack 1993, 332.), wie sie sich in Abgrenzung zur traditionellen die kritische Kriminologie (vgl. >Kriminologie) zur Aufgabe gemacht hat. Seinen Grundannahmen nach verweist er u.a. auf die Begriffe der Zuschreibung und Etikettierung sowie auf die Konzepte der Selektion, der Stigmatisierung und hier der Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz ( vgl. >Devianz) sowie auf den der kriminellen Karriere. In gestaltungstheoretischer Hinsicht gewinnen seine Annahmen heute v.a. in Verbindung mit der marxistischen und der konfliktorientierten Kriminologie an Bedeutung.
In kriminalpolitischer Hinsicht lässt sich neben der Forderung nach Entkriminalisierung eine Linie zum Abolitionismus insofern ziehen, als dass dessen Zielsetzung -die Abschaffung bestimmter staatlicher Kontrollstrategien- wohl die stringenteste Umsetzung der rechts- bzw. kriminalpolitischen Forderung des L.A. nach Begrenzung staatlicher Machtausübung darstellt (vgl. zu den Zusammenhängen der beiden Strömungen Schumann 1985, 19ff.).
In forschungsmethodischer Hinsicht waren es v.a. die qualitativen Verfahren (vgl. qualitative Methoden), die seit der Rezeption des L.A. stark an Bedeutung gewonnen und insofern stark von ihm profitiert haben, da Fragen danach, wie die Wirklichkeit von Abweichung und Kriminalität durch Interaktionen mit den Instanzen sozialer Kontrolle hervorgebracht wird oder wie abweichende Laufbahnen durch Etikettierungsprozesse erst in Gang gesetzt oder auch verfestigt werden, qualitative Forschungsdesigns zumindest nahe legen, wenn nicht sogar zwingend erforderlich machen (vgl. Meuser / Löschper 2002, Abs 4 und 5).

8. Die kriminologische Relevanz des L.A. lässt sich nicht messen. Trotz aller Kritiken bleibt festzuhalten, dass die Kriminologie mit seiner Rezeption um eine Perspektive erweitert worden ist, deren Grundzüge in keiner Analyse mehr unberücksichtigt bleiben können. Um es mit Fritz Sack auf den Punkt zu bringen, besteht sein Verdienst darin „mit dem Insistieren auf die Bedeutung der sozialen Reaktion für die Kriminologie die soziologische und politische Dimension der Kriminalität auch in ihren Alltagserscheinungen und Mikrostrukturen“ zur Geltung gebracht zu haben (so 1993, 504).
Die kriminalpolitische Relevanz des L.A. mit seiner Forderung nach Nicht-Intervention bzw. einem „Weniger“ zeigt sich in der Bedeutung der alternativen Reaktionen zum Strafrecht und Diversionsprogrammen.


Literatur:

  • Becker, H. S.: Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance, New York 1963 (Teilpublikationen zunächst in: American Journal of Sociology, LVII = Sept.1951 und LIX = Nov.1953)
  • ders.: Regelverletzung und Abweichung, in: Stallberg, F.W.(Hrsg.): Abweichung und Kriminalität, 1975, S. 18-32.
  • Boy, P.: Etikettierungstheoretische Analyse des Strafverfahrens - Empirisch fundierte Theorie oder plausible Fiktion? in: Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, Bd.2, S.1380-1413, Köln 1983.
  • Brusten, M.: Prozesse der Kriminalisierung. Ergebnisse einer Analyse von Jugendamtsakten, in: Otto, H. U./Schneider, S.: Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, Bd. 2., Berlin 1973, S. 85-126.
  • Brusten, M./ Hurrelmann, K.: Abweichendes Verhalten in der Schule. Eine Untersuchung zu Prozessen der Stigmatisierung, München 1973.
  • Bürger, U.: Heimerziehung und soziale Teilnahmechancen, München 1990.
  • Christ, H., in : Kritische Justiz 1971, S. 492-494.
  • Eisenberg, U.: Kriminologie, 3. Aufl., Köln: Heymann 1990.
  • Engelhardt, D. von: Der „Labeling approach“ in kriminologischer Sicht, in: Kriminologisches Journal 4/1972, S. 56-60.
  • Erikson, K. T.: Notes on the Sociology of Deviance in : Social Problems 1962, Vol. 9 Nr.4, S. 307-314.
  • Feest, J./Blankenburg, E.: Die Definitionsmacht der Polizei. Strategien der Strafverfolgung und soziale Selektion, Düsseldorf 1972.
  • Göppinger, H.: Kriminologie, 4. Aufl., München: Beck 1980.
  • Hess, H./ Sebastian Scheerer: Was ist Kriminalität? Skizze einer konstruktivistischen Kriminalitätstheorie, in: KrimJ 1997, S. 83-109.
  • Kaplan, H. B.: Deviant Behavior in Defence of Self, N.Y. 1980.
  • Keckeisen, W.: Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens - Perspektiven und Grenzen des Labeling approach, 2. Aufl., München 1976.
  • Kituse, J. I.: Societal Reaction to Deviant Behavior. Problems of Theory and Method, in: Social Problems 1962, Vol. 9 Nr.3, S. 247-256.
  • Lamnek, S.: Neue Theorien abweichenden Verhaltens, 2. durchges. Aufl., München 1997.
  • Lehne, W.: Polizeiforschung, in: Kaiser, G./Kerner, H. J./Sack, F./Schellhoss, H. (Hrsg): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg: C. F. Müller 1993.
  • Lemert, E. M.: Social Pathology, New York 1951.
  • ders.: Der Begriff der sekundären Devianz, in: Lüderssen, K./ Fritz Sack (Hrsg.), Seminar abweichendes Verhalten I, 1975, S. 433-472.
  • Luhmann, N.,: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1985.
  • Paternoster, R./Iovanni, L.: The Labeling Perspective and Delinquency : An Elaboration of the Theory and an Assessment of the evidence, in: Justice Quarterly 1989, S. 359-394.
  • Meuser, M. / Löschper, G.: Einleitung : Qualitative Forschung in der Kriminologie (26 Absätze), in: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (On-line Journal) 3 (1)/2002, verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs/fqs.htm (Zugriff am 19. 01. 2006).
  • Opp, K. D.: Die "alte" und die "neue" Kriminalsoziologie: Eine kritische Analyse einiger Thesen des labeling approach, in: KrimJ 1972, S.32-52.
  • Peters, H.: Als Partisanenwissenschaft ausgedient, als Theorie aber nicht sterblich : der labeling approach, in: KrimJ 1996, S.107-115.
  • Rüther, W.: Abweichendes Verhalten und Labeling approach, Köln/Berlin/Bonn/München 1975.
  • Sack, F.: Neue Perspektiven der Kriminologie, in: Sack, F./König, R.: Kriminalsoziologie, Wiesbaden 1968.
  • ders., : Kritische Kriminologie, in: Kaiser, G./Kerner, H. J./Sack, F./Schellhoss, H. (Hrsg): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg: C. F. Müller 1993.
  • Schneider, H.: Schöpfung aus dem Nichts. Missverständnisse in der deutschen Rezeption des Labeling Approach, in: MschKrim 1999, S. 202-213.
  • Tannenbaum, F.: Crime and the Community, New York/London 1938 (Nachdruck 1951).