Kriminologie im deutschen Kaiserreich (1871-1918): Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 2. Januar 2009, 23:17 Uhr

Die Kriminologie im deutschen Kaiserreich 1871 - 1918

Artikel wird bearbeitet von T. Rüdiger

Ausgangssituation der deutschsprachigen Kriminologie bei Gründung des Kaiserreiches

Die Kriminologie als Wissenschaft hat sich in allen Ländern erst im Laufe der Jahrhunderte als eine eigenständige Wissenschaft herausbilden und abgrenzen können. Dies war auch in Deutschland nicht anders. So setzte sich unter dem Eindruck von Cesare Beccaria schon Paul Johann Anshelm von Feuerbach (1775 – 1833 [1]) u.a. für die Abschaffung der Todesstrafe und der Folter bei Straftätern in Bayern ein. Von Feuerbach kann als einer der ersten Vertreter der sog. klassischen Schule der Kriminologie in Deutschland bezeichnet werden (In der Folgezeit bis zur Gründung des deutschen Kaiserreiches beschäftigten sich Personen aus allen Wissenschaftsbereichen in deutschsprachigen Gebieten mit dem Phänomen des sozial abweichenden Verhaltens - sprich der „Kriminalität“. So beschäftigten sich beispielsweise die deutschsprachigen Moralstatistiker Georg von Mayr [2] und Alexander von Oettingen [3] unter dem Einfluss von Adolphe Quetelet und André-Michel Guerry [4] mit der statistischen Verteilung der Kriminalität in Bayern, bzw. in den deutschen Staaten (Wetzel, Seite 22). Wenn man die Kriminologie als eine empirische Wissenschaft definiert, kann man von Mayr und von Oettingen - obwohl sich ihre Statistiken nicht speziell nur auf die Kriminalitätsraten bezogen - als erste empirisch vorgehende deutsche Kriminologen bezeichnen.

Auch die Gründung des deutschen Kaiserreiches konnte zu Beginn keine Zusammenführung der einzelnen Wissenschaften und Wissenschaftler unter der neuen Disziplin „Kriminologie“ bewirken. Insbesondere Mediziner und Juristen beteiligten sich jedoch in der Folgezeit an der wissenschaftlichen Diskussion über Kriminalität im Kaiserreich. Ein entscheidender Meilenstein auf der Etablierung einer entstehenden eigenständigen deutschen Kriminologie war 1876 die Veröffentlichung des Werkes des italienischen Anthropologen Cesare Lombroso über den geborenen Verbrecher "L`uomo Delinquente".


Der entscheidende Schritt zur Herausbildung der „Kriminologie“ im deutschen Kaiserreich - Die Kritik an Lombroso

Die Diskussion über die Thesen von Lombroso, kann als der entscheidende Schritt zur Bildung einer eigenständigen Wissenschaft „Kriminologie“ im Kaiserreich bezeichnet werden. Lombroso vertrat, aufgrund der von ihm in Haftanstalten vorgenommenen empirischen Untersuchungen, die Auffassung, dass der „Verbrecher“ als Person eine Art Rückentwicklung des Menschen in der evolutionären Entwicklung darstelle (sog. Atavismustheorie). Seine Ansichten veröffentlichte Lombroso 1876 erstmalig in seinem Werk „L´uomo Delinquente“. Diese Untersuchungen hatten weitreichende Bedeutung, sie bildeten für die in Deutschland an den Kriminalitätsursachen interessierten Wissenschaftler – vor allem Mediziner und Juristen - die Grundlage für eine gemeinsame Auseinandersetzung über kriminelles Verhalten. Ab dem Jahr 1878 begann dann auch die kritische Auseinandersetzung mit den Ansichten Lombrosos in Deutschland mit einem Aufsatz des Mediziners Moritz O. Fraenkel über "Verbrecherschädel" in der "Allgemeine Zeitung für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 34/1878" ein (Galassi, Seite 143). Dabei kristallisierten sich durch die jeweilige Position innerhalb dieses Diskurses die drei vorherrschenden kriminologischen Theorien des Kaiserreiches heraus – Atavismus, Degenerationslehre und Vereinigungstheorie-.


Kriminologische Theorien im Kaiserreich

Atavismus

Die anthropologischen Studien Lombrosos fanden in Deutschland relativ wenig Anhänger, einzig der deutschen Psychiater Hans Georg Kurella [5] verteidigte die Lehre Lombrosos u.a. in seinem Werk „Naturgeschichte des Verbrechers“. Damit bildete Kurella den Kern der Vertreter der sog. Atavismusthorie in Deutschland. Atavismus wurde dabei, als das Auftreten von überholten anatomischen Merkmalen bei Lebewesen, oder der Rückfall in überholte Verhaltensweisen bezeichnet, welche eigentlich für ihre Urahnen typisch waren. Gemäß den Anhängern der Atavismustheorie gehörten Verbrecher einem speziellen menschlichen Typus an - den homo delinquens (Galassi, Seite 141). Die Verbrecher sind also Rückschritte in der Entwicklung des Menschen und stellen einen eigenen - zum homo sapiens unterschiedlichen - Menschentypus dar. Beim homo delinquens waren die Unterschiede nach der Atavismuslehre sowohl körperlicher als auch psychischer Art. Diese Ansicht grenzte den Verbrecher von den normalen Menschen nicht nur aufgrund seiner Verhaltensweise ab, sondern stellte ihn auf eine gänzlich andere Stufe der menschlichen Entwicklung. Das aus diesen Annahmen abgeleitete Verbrecherbild prägte in der Folge die Entwicklung der Kriminalpolitik in den deutschen Staaten und führte mit zu den menschenverachtenden Vorgehensweisen im dritten Reich. Von der Annahme der Existenz eines homo delinquens grenzten sich hingegen die Vertreter der sog. Degenerationslehre ab.


Degenerationslehre

Im Unterschied zu Lombroso und Kurella gingen die Vertreter der Degenerationslehre davon aus, dass „Lombroso zwar bezüglich der physischen Eigenschaften des geborenen Verbrechers falsch lag, bezüglich dessen Existenz aber Recht behielt“ - Emil Kraepelin [6] (Baumann, Seite 41). Die Degenerationslehre ging also davon aus, dass es zwar den geborenen Verbrecher gebe, dieser jedoch nicht aufgrund einer Rückentwicklung innerhalb der Menschheit ein Verbrecher wird, sondern aufgrund einer Degeneration in der Entwicklung – ggf. auch über mehrere Generationen hinweg. Man glaubt dabei weniger, dass diese Degeneration morphologischer – also körperlicher Art wären- sondern eher psychischer Art - man benutzte z.T. die Bezeichnung „moral insanity“ (eine Form des moralischen Irrsinns welche auf den englischen Arzt James Cowles Prichard zurückgeht). Die Degenerationslehre betonte jedoch stets, dass es keinen anthropologischen Typus des Verbrechers gibt, angeboren wäre nur die moralische Andersartigkeit, das Fehlen von Gefühlen und moralischen Vorstellungen (Galassi, Seite 181 ff..). Die bekanntesten Vertreter der Degenerationslehre im Kaiserreich waren die Psychiater Emil Kraepelin und Robert Sommer. So schreibt Sommer „ Es gibt unstreitig Menschen, welche in einem so jugendlichen Alter ausgeprägte Neigungen zu verbrecherischen Handlungen zeigen, dass man von angeborenen moralischen Abnormitäten reden kann“(Robert Sommer Kriminalpsychologie Seite 311, Galassi Seite 176 ff.). Sommer hielt die Lehren Lombrosos „in anatomischer Beziehung für unhaltbar“, jedoch sei die Frage „ob es geborene Verbrecher gibt,[…] rein auf Grund von Beobachtung psychischer Funktion unbedingt zu bejahen“ (Müller, Seite 69). Die Juristerei des Kaiserreiches folgte den Argumenten der moral insanity jedoch nicht, schon im Jahre 1886 stellte das Reichsgericht in Strafsachen mit einer Grundsatzentscheidung fest, dass die moral insanity keinen Schuldausschließungs- oder Verminderungsgrund darstelle (Müller, Seite 67). Die Degenerationstheorie verlor, vermutlich auch wegen dieser Gerichtsentscheidung, in der Mitte der 80iger Jahr zunehmend an Bedeutung.


Vereinigungstheorie – Anlage-Umwelt (Marburger Schule)

Der bekannteste und für die Entwicklung der deutschen Kriminologie sicherlich auch der am prägensten Ansatz zur Erklärung von Kriminalität, war die so genante Anlage – Umwelt bzw. Vereinigungstheorie (diese wird auch in Abgrenzung zur französischen und italienischen Schule der Kriminologie, als Marburger Schule bezeichnet, siehe auch Franz von Liszt und Marburger Programm) . Diese nahm eine vermittelnde Rolle zwischen der französischen Kriminalsoziologie und der italienischen Kriminalanthropologie ein, indem sie versuchte eine Synthese zwischen den biologischen (Anlage) und den sozialen (Umwelt)Faktoren zu bilden. Maßgeblich verbunden mit dieser Theorie ist der berühmte Strafrechtlicher Franz von Liszt der u.a. feststellte, dass „Das Verbrechen ist das Produkt aus der Eigenart des Täters im Augenblick der Tat und aus den in diesem Augenblick ihn umgebenden äußeren Verhältnissen“(von Liszt 1905). Von Liszt nahm dabei jedoch stets an, dass die sozialen Einflüsse eine weit höhere Bedeutung auf die kriminelle Handlung hätten, als die Anlage des Täters. Somit formulierte von Liszt auch seine bekannt gewordene kriminalpolitische Aussage „eine gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik“(Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2. 1905a, 246). Neben von Liszt traten auch andere deutsche Wissenschaftler für einen Kompromiss zwischen biologischen und sozialen Ursachen ein. So vertrat Gustav Aschaffenburg in seinem 1903 erschienen Werk „Das Verbrechen und seine Bekämpfung“ – welches auch als erstes deutschsprachiges Lehrbuch der Kriminologie gilt – die beiden Thesen, dass erstens der Verbrecher ein degeneriertes Individuum ist und zweitens das Verbrechen jedoch das Produkt der äußeren Umstände darstelle (Galassi, Seite 192). Auch der Berliner Obergefängnisarzt von Plötzensee Abraham Adolf Baer hatte eine nicht zu unterschätzende Position innerhalb der Vereinigungstheorie ,dieser hatte 1893 eine der wichtigsten deutschen Untersuchungen an Häftlingen durchgeführt um die Annahmen Lombrosos zu widerlegen. Seine Untersuchungen ergaben zwar ein überproportionales Vorhandensein an Degenerationsmerkmalen bei den Häftlingen, doch stellte er fest dass es "keine einzige dieser Anomalien, welche nicht auch bei vollkommenen unbescholtenen, ehrlichen Menschen angetroffen wird" gebe(Müller, Seite 75). Baer entwickelte sich daraufhin zu einem Vertreter der eher sozialen Richtung innerhalb der Anlage - Umwelttheorie. Er stellte sich auf den Standpunkt, dass „Staat und Gesellschaft verpflichtet und im Stand sind, durch die Beseitigung socialer Schäden die Zahl der Verbrechen und der Verbrecher zu vermindern“(Galassi S. 168). Bei der Verbreitung der Vereinigungstheorie war auch die von Lizst zusammen mit Adolphe Prins (1845 – 1919) und Geradeus Antonius van Hamel (1842 – 1917) 1888 gegründete Internationale Kriminalistische Vereinigung maßgeblich beteiligt. Diese setzte sich dafür ein den Streit zwischen den Vertretern der italienischen und der französischen Schule mit diesen vermittelnden Erklärungsansatz zu beenden, auch um den Praktikern der "Kriminalpolitik" etwas Pragmatischeres zu präsentieren (Kunz, Seite 42).

Die Bedeutung der Vereinigungstheorie für die gesamte Entwicklung der Kriminologie - nicht nur der deutschen - darf nicht unterschätzt werden. Sie war z.B. mit ursächlich für die Herausbildung der multifaktorellen Ansätze innerhalb der Kriminologie. Auch heute noch spiegelt sich in den Disziplinübergreifenden Theorien innerhalb der Kriminologie das Erbe der Anlage-Umweltformel wieder.

Kriminologie als eigenständige Wissenschaft im Kaiserreich

Bedeutende Publikationen / kriminologische Plattformen im deutschen Kaiserreich

Quellenagabe / Literatur

Immanuel Baumann, „Dem Verbrechen auf der Spur“ - 2006

Silviana Galassi „Kriminologie im deutschen Kaiserreich“ – Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung - 2004

Christian Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871 – 1933

Richard Wetzell, „Inventing the criminal“ a history of German Criminology 1880 – 1945

Hans Göppinger, “Kriminologie” 6. Auflage 2008

Hans-Dieter Schwind, "Kriminologie" 18. Auflage 2008

Bernd-Dieter Meier „Kriminologie“ 3. Auflage

Désirée Schauz / Sabine Freitag, „Verbrecher im Visier der Experten“ – Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. Jhd. und frühen 20. Jhd.

Karl-Ludwig Kunz, „Kriminologie“ 5. Auflage

Peter Becker, "Verderbnis und Entartung : eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis" 2001


Literatur im Internet

"Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Socialethik" von Alexander von Oettingen als PDF Dokument [7]

"Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung (1893)" von Abraham Adolf Baer [8]

"Statistik der gerichtlichen Polizei im Königreiche Bayern und in einigen anderen Ländern" [IDDOC=98863] --> Hinweis Zugang nur für Mitglieder der DigiZeitung.

Werke von Lombroso [9]