Internationale Kriminalistische Vereinigung (IKV)

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Die am 17. September 1888 von Franz von Liszt, Adolphe Prins (Bruessel) und Gerardus Antonius van Hamel (Amsterdam) in Brüssel gegründete und war auch unter den Bezeichnungen International Union of Penal Law (I.U.P.L.) und Union Internationale de Droit Pénal (U.I.D.P.) bekannte Internationale Kriminalistische Vereinigung (IKV) nahm am 1.1.1889 ihre Arbeit auf. Die IKV war die erste internationale Organisation auf dem Feld der Strafrechtsreform und wandte sich an alle - und in der Praxis vornehmlich an Juristen - die die bestehenden Einrichtungen zur Bekämpfung des Verbrechertums für verbesserungsbedürftig und –fähig hielten und diese auf wissenschaftlicher Basis zielbewusster und effektiver gestalten wollten.

Die IKV rang von 1889 bis 1914 mit viel Engagement um ihre Reformziele. Der Erste Weltkrieg erschütterte den transnationalen Zusammenhalt. Die deutsche Landesgruppe der IKV arbeitete weiter für die Reform des deutschen Strafrechts, scheiterte dann aber am Aufstieg des Nationalsozialismus. Am 14. März 1924 wurden in Paris die englisch- und französischsprachigen Nachfolgeorganisationen (International Association of Penal Law, bzw. Association Internationale de Droit Pénal; I.A.P.L./A.I.D.P.) gegründet.

Das Ende der IKV wird mal auf 1932 (das Jahr des letzten Kongresses der deutschen Sektion), mal auf 1937 (förmliche Auflösung) datiert.

Die Bewertungen der Rolle der IKV sind geteilt. Während manche (z.B. Hans-Heinrich Jescheck) in der IKV eine Vorreiterin der kriminalpolitischen Liberalisierung im späten 20. Jahrhundert sehen, betonen andere (z.B. Leon Radzinowicz) die direkten und indirekten Verbindungslinien, die von der IKV zu den autoritären Strafrechts- und Unterdrückungssystemen des frühen 20. Jahrhunderts führen (faschistisches Italien, Drittes Reich, Stalinismus).


Programm

Artikel 1 der geänderten Satzung von 1897 forderte die wissenschaftliche Erforschung des Verbrechens, seiner Ursachen und der Mittel seiner Bekämpfung und erklärte, "dass sowohl das Verbrechen als auch die Mittel zu seiner Bekämpfung nicht nur vom juristischen, sondern ebenso auch vom anthropologischen und soziologischen Standpunkt aus betrachtet werden müssen".

Im Mittelpunkt des Programms stand die Reform des Strafensystems und des Strafvollzugs, insbesondere die Bekämpfung der als verderblich angesehenen kurzzeitigen Freiheitsstrafen. Als Ersatz für die kurze Freiheitsstrafe war "Arbeitsstrafe ohne Einsperrung" - heute würde man von gemeinnütziger Arbeit sprechen - vorgesehen. Auch setzte sich die IKV für die Einführung der "bedingten Verurteilung" (= Strafaussetzung auf Bewährung) ein.

Noch im 19. Jahrhundert formulierte die IKV die folgenden zentralen Anliegen:

  • Heranziehung anderer Mittel als nur der Strafe zur Bekämpfung der Verbrechen
  • Benutzung der soziologischen und anthropologischen Forschungen
  • Unterscheidung von Gelegenheits- und Gewohnheitsverbrechern (sowie Unschädlichmachung der letztgenannten, sofern sie unverbesserlich sind)
  • Beseitigung der Trennung des Strafvollzugs von der Strafrechtspflege
  • Verbesserung der Gefängnisse
  • Ersatz der kurzzeitigen Freiheitsstrafen
  • Bemessung der Strafdauer bei langzeitigen Freiheitsstrafen auch nach den Ergebnissen des Strafvollzugs.

Die ersten Kongresse der IKV, die jeweils durch Gutachten und Berichte vorbereitet waren, wurden in Brüssel (1889), Bern (1890), Kristiania (1891) und in Paris (1893) abgehalten. Die Vereinigung, die auch sowohl ein französisches als auch ein deutsches Jahrbuch herausgab, zählte zur Zeit des Pariser Kongresses über 600 Mitglieder aus fast allen Staaten Europas, aus Nord- und Südamerika, Ägypten und Japan.

Entwicklung

In den „Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung“ (MittIKV) wurden insbesondere die Tagungsprotokolle der europaweiten Kongresse, sowie Aufsätze zu kriminologischen und kriminalpolitischen Themen veröffentlicht. Teilweise wurden die Ausgaben durch Beiträge aus anderen deutschen, italienischen oder französischen Fachzeitschriften ergänzt. Die Mitteilungen wurden zunächst der „Zeitschrift für die gesamte Strafwissenschaft“ beigelegt (1889 – 1904). Ab 1904 wurden die Mitteilungen dann eigenständig herausgegeben.

Das Jubiläumsjahr 1914, in dem das 25jährige Bestehen der Vereinigung gefeiert wurde, sollte zeitgleich das Ende der IKV einläuten. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges war an eine wissenschaftliche Zusammenarbeit der verfeindeten Staaten nicht mehr zu denken. Von nun an gab es nur noch die während der Existenz der gesamten IKV gegründeten Landesgruppen. Die deutsche Landesgruppe existierte beispielsweise bis ins Jahr 1937 und arbeitete bis dahin vor allem an der deutschen Strafrechtsreform. Nach Kriegsende wurde versucht, die Gesamtvereinigung wieder aufleben zu lassen. Trotz mehrfacher Versuche gelang eine Wiederbelebung der IKV jedoch nicht mehr. Stattdessen wurde am 14.03.1924 die „Nachfolgeorganisation“ Association Internationale de Droit Pénal (A.I.D.P.) bzw. International Association of Penal Law (I.A.P.L.) in Paris gegründet. Die A.I.D.P. ist bis zum heutigen Tag aktiv und verfolgt die Ziele der strafrechtsdogmatischen und kriminologischen Forschung - ganz im Sinne der IKV - ohne für eine bestimmte Strafrechtstheorie Partei zu ergreifen.


Mitglieder

Die IKV begann ihre Arbeit im Jahr der Gründung mit 75 Mitgliedern. Seitdem konnte sie einen stetigen Anstieg verzeichnen. Im Verzeichnis aus dem Jahre 1904 zählte die Vereinigung 1.122 Mitglieder.

Die Mitglieder waren hauptsächlich Juristen (Richter, Rechtsanwälte, in der Verwaltung tätige Juristen), Strafanstaltsbeamten und Medizinern (v.a. Psychiater). Praktiker waren in der Mehrzahl. Im Gegensatz dazu waren die Professoren aber sowohl im Vorstand als auch als Redner auf den Kongressen deutlich überproportional vertreten. An den Versammlungen und Kongressen der IKV konnten auch Nicht-Mitglieder gegen ein Entgelt teilnehmen (v.a. Geistliche, Lehrer und Mitglieder von Fürsorgevereinen). Die meisten Mitglieder kamen aus Deutschland, Russland, Dänemark, Norwegen, Schweden, Frankreich, Portugal, Spanien, Österreich, Ungarn, Kroatien und den Niederlanden sowie Belgien. Nennenswert waren aber auch noch die Mitgliedschaften aus der Schweiz, Italien, Großbritannien, den USA, ganz zu schweigen von Herkunftslaendern wie Aegypten, Brasilien, Argentinien, Venezuela, Australien und Japan.

Die Jahresversammlung der IKV wurde an wechselnden Orten in verschiedenen Ländern abgehalten. Das ahtte in dem jeweiligen Gastgeberland anschließend sowohl das Anwachsen der Mitgliederzahl als auch die Bildung eigener Landesgruppen zur Folge (Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Kroatien, Norwegen, Portugal, Russland, Ungarn und der Schweiz).


Standpunkt

Die Gründung der IKV fand zu einem Zeitpunkt neuer starker Strömungen auf dem Gebiet der Strafrechtspflege und der Strafrechtswissenschaft statt. In diese Zeit fallen sowohl die Ansätze der kriminalanthropologischen Schule als auch die Anfänge der kriminalsoziologischen Forschung. Die IKV wollte sich aber nicht auf bestimmte Grundsätze festlegen und vor allem dem Schulenstreit neutral gegenüberstehen. Ihr Anliegen war es, dass sich grundsätzlich alle, denen es um die wissenschaftliche Erforschung der Kriminalität und der Mittel zu ihrer Bekämpfung geht, in der Vereinigung zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden können, egal welcher wissenschaftlichen Überzeugung sie sind.

Zu Beginn der IKV war jedoch Gegenteiliges in der Satzung festgeschrieben. Durch sie wurden die Mitglieder verpflichtet, sich mit ihrem Eintritt in die Vereinigung auf bestimmte kriminalpolitische Grundanschauungen festzulegen. So zum Beispiel, dass der Zweck der Strafe nicht vorrangig die Vergeltung der Tat ist. Vielmehr sei die Aufgabe der Strafe die Bekämpfung des Verbrechens als soziale Erscheinung. Auch sollte die Strafe zwar als wirksames Mittel zur Bekämpfung des Verbrechens gesehen werden, nicht aber als das Einzige. Man müsse sie im Zusammenhang mit anderen Mitteln zur Bekämpfung des Verbrechens, v.a. mit denen zur Verhütung, sehen. Die IKV schloss damit zwar keine Andersdenkenden aus, stellte sich aber deutlich auf den Standpunkt der modernen Schule.

Nachdem die Satzung durch die Vorgabe dieser verbindlichen Glaubensaussagen sowohl aus den eigenen Reihen als auch in Fachzeitschriften scharf kritisiert wurde, wurde sie 1897 dahingehend verändert, dass auf die Aufstellung kriminalpolitischer Dogmen und die Normierung eines bestimmten Strafzwecks verzichtet wurde. Nach ihrer rechtlichen Wertung verhielt sich die IKV folglich dem Prinzipienstreit gegenüber auch satzungsmäßig neutral. Die Satzung konnte nun von Anhängern aller Schulen ohne Weiteres akzeptiert werden. Auch im Kampf zwischen Indeterminismus und Determinismus bezog die IKV einen ähnlichen Standpunkt. Zwar gab es im Inneren der Vereinigung immer wieder bestimmte vorherrschende Tendenzen und gelegentliche Äußerungen, doch nach Außen war die Vereinigung neutral. Durch dieses Auftreten konnte die Vereinigung die Basis ihrer Organisation weiter ausbauen und verhindern, dass potentielle Interessenten von vornherein abgeschreckt wurden.

Diese „Mischung“ des Mitgliederstabes mit Anhängern unterschiedlicher Schulen innerhalb der IKV verlieh der Vereinigung ihren besonderen Wert. Theoretiker und Praktiker mit den verschiedensten Ansichten konnten sich zur Arbeit vereinen, deren gemeinsames Ziel, über den Schulenstreit hinweg, ein besonders segensreiches Wirken der Vereinigung war. Vor allem in den Gutachten und Beratungen der IKV bewährten sich die umfassenden Kenntnisse der verschiedenen Mitglieder.

Die unterschiedlichen Überzeugungen innerhalb der IKV brachten die gemeinsame Arbeit jedoch auch immer wieder zum Stocken. So musste zum Beispiel die Arbeit an der Untersuchung des Einflusses der neuen Schule auf die Grundbegriffe des Strafrechts ohne Ergebnisse oder Forderungen aufgegeben werden, da die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Vereinigung nicht überwunden werden konnten. Das Ziel, den wirklichen oder vermeintlichen Gegensatz zwischen der klassisch- juristischen und kriminalsoziologischen oder kriminalanthropologischen Schule zu präzisieren und die Stellung der Vereinigung im Schulenstreit zu bestimmten, konnte nicht erreicht werden. Die gleichfalls mit dem Schulgegensatz zusammenhängende Frage der rechtlichen Verantwortlichkeit versuchte die Vereinigung ebenfalls vergeblich zu klären.

Im Gegensatz dazu schien jedoch in praktischen Fragen der Gesetzgebung eine bemerkenswerte Übereinstimmung der Mitglieder bestanden zu haben und so wurde trotz aller Verschiedenheit in den Grundfragen in der Vereinigung wirkungsvoll zusammengearbeitet.


Arbeit

Die IKV wollte mit ihrer Arbeit eine allmähliche Umgestaltung des geltenden Rechts erreichen - unabhängig von jeder Theorie und Glaubensfrage. Ihr erklärtes Ziel war es, auf der Ebene des wissenschaftlichen Ideenaustausches wirksam zu sein, ihren Erkenntnissen aber auch Eingang in die Kriminalpolitik zu verschaffen.

Um dieses Ziel zu erreichen, bot die Vereinigung eine Plattform, die dazu dienen sollte, Theoretiker und Praktiker aller Kulturländer zu gemeinsamer Arbeit zu vereinen und neuen Gedanken im Strafrecht, Strafprozess und Strafvollzug den Weg zu bahnen. Hierzu veranstaltete die IKV internationale Kongresse, die in ein- bis vierjährigen Abstand vornehmlich in europäischen Hauptstädten stattfanden. Dort wurde die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Ideen-, Meinungs- und Erfahrungsaustausches und der Bearbeitung verschiedener Themen gegeben. Konferiert wurden meist mehrere Thesen, welche durch Gutachter und Berichte vorbereitet wurden und über deren Inhalt anschließend diskutiert und teilweise abgestimmt wurde. Am Ende der Kongresse stand meist die gemeinsame Besichtigung größerer Gefängnisse oder verwandter Einrichtung auf der Tagesordnung. So gab es beispielweise beim Hamburger Kongress die Möglichkeit die Irrenkolonie Langenhorn und die Gefängnis- und Korrektionsanstalt Fuhlsbüttel zu besichtigen. Ergebnisse der internationalen Kongresse waren vorwiegend allgemeine Direktiven oder Grundsätze sowie für viele Teilnehmer neu gewonnene Erkenntnisse in den bearbeiteten Bereichen. Den Landesgruppen der IKV kam die Aufgabe zu, in Landesversammlungen die Ergebnisse und Reformfragen der internationalen Kongresse mit besonderer Berücksichtigung der einheimischen Verhältnisse zu prüfen, und dann die Umsetzung unter den jeweiligen Bedingungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft vorzunehmen. Die auf internationaler Ebene gefassten Beschlüsse konnten die Landesgruppen zudem zur Legitimation eigener Forderungen in ihrem Heimatland nutzen. Bei der Bearbeitung landesspezifischer Themen stand größtenteils die jeweilige Kriminalpolitik und Gesetzgebung im Vordergrund.

Als Aufgabe stellte sich die IKV die wissenschaftliche Erforschung des Verbrechens und deren Ursachen sowie der Mittel ihrer Bekämpfung. Diese Dreiteilung der Aufgaben war eher eine äußerliche. Die Arbeitsgebiete gingen mehrfach ineinander über und die zu bearbeitenden Themen wurden nicht unbedingt nach einer bestimmten Systematik, sondern eher nach dem Grad ihrer jeweiligen Aktualität ausgewählt.


Erforschung des Verbrechens

Unter diesem Aufgabengebiet subsumierten sich alle Forschungen, die sich nicht mit den Ursachen und Gegenmitteln beschäftigen, aber kriminalwissenschaftlicher Natur sind. Bearbeitetet wurden hier Themen wie die Übertretungen (sog. Polizeidelikte), der Lustmord, die Psychologie der Zeugenaussage, die Ausbildung der Kriminalisten sowie die Ausbildung in den Hilfswissenschaften des Strafrechts.

Der internationale Charakter der Vereinigung hat sich im Bereich der Erforschung des Verbrechens besonders auf dem Gebiet der vergleichenden Strafrechtswissenschaft bewährt. Die Vereinigung schaffte es, eine einheitliche Darstellung des Strafrechts fast aller Kulturländer der Erde zu geben. Sie veröffentlichte hierzu zwei Bände zum Thema „Die Strafgesetzgebung der Gegenwart in rechtsvergleichender Darstellung“. Der erste Band bezog sich dabei auf das Strafrecht der Staaten Europas, der zweite Band auf das der außereuropäischen Staaten. Obwohl es genügend Material gab, erschien kein weiterer Band dieses Werkes. Nachträge über die Entwicklung der Gesetzgebung im In- und Ausland sowie kriminalpolitische Maßnahmen der einzelnen Staaten erfolgten dann durch Berichte in den Mitteilungen der IKV.

Die Untersuchung des Einflusses der neuen Schule auf die Grundbegriffe des Strafrechts fällt ebenfalls in diesen Bereich. Aufgrund der zu unterschiedlichen Überzeugungen der Mitglieder der Vereinigung konnte sich lediglich auf einige Thesen geeinigt werden. Gemeinsame Forderungen im Namen der IKV, die auf eine grundsätzliche Änderung des gegenwärtigen Strafrechtsystems abzielten, konnten wegen des Schulengegensatzes und der unterschiedlichen Auffassungsweise der notwendigen Begrifflichkeiten nicht gestellt werden.


Erforschung der Ursachen des Verbrechens

In diesem Arbeitsgebiet kam es zur geringsten Betätigung der IKV. Im Interesse der Vereinigung standen hier die Themen Rückfall- und Kriminalstatistik sowie der Einfluss des Greisenalters auf die Kriminalität.

Das Thema einer einheitlichen und wissenschaftlich fundierten Rückfallstatistik wurde von der IKV am intensivsten und erfolgreichsten bearbeitet. Die Vereinigung deckte nicht nur die Grundfehler der üblichen statistischen Methode auf, sondern entwickelte auch eine neue Methode, für die sie im Anschluss energisch Werbung machte. Durch die große Gründlichkeit bei der Bearbeitung dieser Frage leistete die Vereinigung Bedeutsames und hatte beispielsweise auf die deutsche Rückfallstatistik verändernden Einfluss. Den Wunsch nach einer international vergleichbaren Kriminalstatistik konnte sich die IKV aber nicht erfüllen. Das Vorhaben scheiterte u.a. an der mangelnden Vergleichbarkeit der Länder. Zu unterschiedlich waren die Modalitäten bezüglich strafbaren Handelns. Das nächste Vorhaben, zumindest eine einheitliche nationale Kriminalstatistik zu erreichen, scheiterte ebenso.


Erforschung der zur Bekämpfung des Verbrechens geeigneten Mittel

Auf diese Aufgabe verwandte die Vereinigung die meiste Zeit und den größten Eifer. Sie beschränkte sich bei der Bearbeitung dieser Aufgabe nicht auf die Aufstellung eigener Reformforderungen, sondern untersuchte auch bereits durchgeführte Reformen auf deren Wirkungen und ihren Einfluss auf die Kriminalität.

Gemeinsam konferierte Themen in diesem Bereich waren beispielsweise die Transportation, die Bettelei und Landstreicherei, das Internationale Verbrechen, die internationale Regelung über ein Auslieferungsverfahren, die Fürsorge für entlassene Häftlinge sowie die Rehabilitation und die verminderte Zurechnungsfähigkeit.

Zum Thema Rückfall trug die IKV mit einer neuen, präzisierten Klassifikation der Rückfälligen, einer Klärung der Begriffe Gemeingefährlichkeit und Rückfälligkeit sowie deren Abgrenzung zueinander bei. Das Problem des Rückfalls entwickelte sich im Laufe der Bearbeitung durch die IKV in Richtung der Frage des Schutzes der Gesellschaft. Hier waren u.a. Forderungen nach präventiven Sicherungsmaßnahmen ohne Gebundenheit an objektive Kriterien im Gespräch. In ähnliche Richtung wies auch eine These der Vereinigung, die später noch schlimme Ausmaße annehmen sollte: Bei dem Thema der Behandlung der Gemeingefährlichen wurde empfohlen, dass das Gesetz besondere Maßnahmen zum Schutze der sozialen Sicherheit gegen Delinquenten erlassen muss, die aus Gründen der Rückfälligkeit, des Erbguts oder der Lebensgewohnheiten gefährlich sind. Diesem Gedankengut bediente sich später die nationalsozialistische Propaganda und nutzte die Idee für ihre menschenverachtende Kriminalpolitik.

Im Arbeitsbereich der Erforschung der zur Bekämpfung des Verbrechens geeigneten Mittel beschäftigte sich die Vereinigung zudem mit der Notwendigkeit beziehungsweise der Umgestaltung kurzzeitiger Freiheitsstrafen im Sinne einer Verschärfung sowie ihre Ersetzung durch andere Strafen, wie z.B. Geldstrafen oder Zwangsarbeit ohne Einsperrung. Weitere Themen waren die Reform der Geldstrafe, das unbestimmte Strafurteil, Strafprozessuale Aufgaben, Mädchenhandel und Jugendkriminalität.

In vielen der genannten Gebiete hatte die IKV messbare Erfolge. Sie erarbeitete zahlreiche Entwürfe und Gegenvorschläge für die Reform der Gesetzgebung, veröffentlichte Fachliteratur, trug zu einer nationalen und internationalen Verständigung bei und nahm Einfluss auf die Kriminalpolitik. Bei manchen Themen konnte die IKV allerdings keine Einigung und dadurch keine Festlegung auf Forderungen erreichen. Dies lag zumeist an den zu unterschiedlichen Standpunkten der Mitglieder und den gegensätzlichen Grundhaltungen. Aber auch eine teilweise zu große Unterschiedlichkeit der Gutachten und eine zuweilen unorganisierte Arbeitsweise der Vereinigung führten zur Ergebnislosigkeit bei der Bearbeitung mancher Themen. In einer Gesamtbetrachtung hat die IKV aber als erste internationale Organisation auf dem Feld der Strafrechtspflege ihre selbstgesetzte Aufgabe der wissenschaftlichen Erforschung des Verbrechens, seiner Ursachen und der Mittel seiner Bekämpfung durchaus erfolgreich erfüllt. Sie hat als Forum für strafrechtswissenschaftliche Experten zur Kritik und Begutachtung der vorhandenen Kriminalpolitik und Strafgesetzgebung ebenso gedient, als sie ihre Rolle als „sachverständiger Berater“ des Staates erfüllte.

Noch kurz vor Ausbruch des Krieges, der die Arbeit der IKV enden ließ, feierte die Vereinigung ihr 25jähriges Bestehen und kündigte an, sich in Zukunft um Themen wie die Ausbildung der Juristen und Reformfragen des Prozessrechtes sowie des materiellen Rechtes zu bemühen. Zu der ebenso angekündigten stärkeren Berücksichtigung des soziologischen Standpunktes bei der gemeinsamen Bearbeitung der Themen sollte es aber aufgrund der gegebenen politischen Ereignisse nicht mehr kommen.


Literatur

  • Bellmann, Elisabeth: Die Internationale Kriminalistische Vereinigung (1889-1933). Verlag Peter Lang GmbH. Frankfurt am Main, 1994.
  • Galassi, Silviana: Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung. Franz Steiner Verlag. Stuttgart, 2004.
  • Jescheck, Hans Heinrich (1980) Der Einfluß der IKV und der AIDP auf die internationale Entwicklung der modernen Kriminalpolitik, ZStW 92, S. 997 ff.
  • Kesper-Biermann, Sylvia (2007) Wissenschaftlicher Ideenaustausch und "kriminalpolitische Propaganda". Die Internationale Kriminalistische Vereinigung (1889-1937) und der Strafvollzug, in: Sabine Freitag/Désirée Schauz (Hrsg.): Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner, S. 79-97.
  • Kitzinger, Friedrich: Die Internationale Kriminalistische Vereinigung. Betrachtungen über ihr Wesen und ihre bisherige Wirksamkeit. C.H. Beck´sche Verlagsbuchhandlung. München, 1905.
  • Radzinowicz, Sir Leon (1991) The Roots of the International Association of Criminal Law and their Significance. A Tribute and a Re-assessment on the Centenary of the IKV, Freiburg (Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Bd. 45).
  • Vogler, Richard (2005) A World View of Criminal Justice. London: Ashgate (S. 61 ff.).
  • Würtenberger, Thomas: Organisationen und Institute. In: Sieverts, Rudolf/ Schneider, Hans Joachim (Hrsg.): Handwörterbuch der Kriminologie. Bd.2. Kriminalpolitik - Rauschmittelmißbrauch. Walter de Gruyter. Berlin, 1977.

Weblinks