Freiheitsstrafe (Deutschland): Unterschied zwischen den Versionen

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Seit den siebziger Jahren ist eine Zunahme der Gefängnisinsassen zu beobachten; in den letzten 10 Jahren ist die Zahl der Inhaftierten jedoch kaum noch nennenswert gestiegen.
Seit den siebziger Jahren ist eine Zunahme der Gefängnisinsassen zu beobachten; in den letzten 10 Jahren ist die Zahl der Inhaftierten jedoch kaum noch nennenswert gestiegen.


: ''Exkurs Sicherungsverwahrung: Eine Ausnahme bildet die Zahl der Sicherungsverwahrten, die von 257 Verwahrten im Jahre 2001 bis auf 536 im Jahre 2010 anschwoll.  
: ''Exkurs Sicherungsverwahrung: Eine Ausnahme bildet die Zahl der Sicherungsverwahrten, die von 257 Verwahrten im Jahre 2001 bis auf 536 im Jahre 2010 anstieg. Das Hauptproblem und somit der 


Die Zahlen belegen zwar keinen Aufstieg neoliberalen Sicherheitsdenkens beiderseits des Atlantiks wie ihn Wacquand beschreibt, Beachtung verdienen allerdings die Thesen, wonach heutige Gesellschaften über mindestens drei zentrale Strategien verfügen, um mit unerwünschten Verhältnissen und unerwünschten Verhaltensweisen, also abweichendem Verhalten zu begegnen (Wacquand 2009: 20).
Die Zahlen belegen zwar keinen Aufstieg neoliberalen Sicherheitsdenkens beiderseits des Atlantiks wie ihn Wacquand beschreibt, Beachtung verdienen allerdings die Thesen, wonach heutige Gesellschaften über mindestens drei zentrale Strategien verfügen, um mit unerwünschten Verhältnissen und unerwünschten Verhaltensweisen, also abweichendem Verhalten zu begegnen (Wacquand 2009: 20).

Version vom 9. März 2011, 10:48 Uhr

wird bearbeitet von Nedu


Die Freiheitsstrafe ist eine Reaktion auf dem Gebiet des Strafrechtes, die die Grundrechte der Bürger am nachhaltigsten bedroht. Die Freiheitsstrafe ist die freiheitsentziehende Maßnahme mit denen das von Strafnormen abweichende Verhalten einzelner (Devianz) durch die Strafverfolgungs-, Vollstreckungsbehörden (Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften) und die Strafgerichtsbarkeit sanktioniert wird. Das Sanktionensystem des Strafrechts verfolgt das Ziel durch Repression und Prävention abweichendes Verhalten zu verhindern. Entscheidungen über dauerhafte freiheitsentziehende Maßnahmen können nur durch ein Gericht angeordnet werden.

Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. (§ 46 StGB) Das Gericht kann die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen. (§ 56 StGB)

Daneben existieren weitere freiheitsentziehende polizei- und verwaltungsrechtliche Maßnahmen wie beispielsweise die Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen der Bundesländer.

Die Freiheitsstrafe wird als zeitweise oder vollständige Entziehung der persönlichen Freiheit in den Justizvollzugsanstalten (JVA) vollstreckt. "Die Freiheitsstrafe ist zeitig, wenn das Gesetz nicht lebenslange Freiheitsstrafe androht. Das Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe ist fünfzehn Jahre, ihr Mindestmaß ein Monat." (§38 StGB)

Die Jugendstrafe unterscheidet sich aufgrund des Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht grundlegend von der Freiheitsstrafe: sie darf nur verhängt werden, wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist. (§ 17 JGG)


Ein kurzer Blick in die Geschichte

Die Freiheitsstrafe wird seit der Großen Strafrechtsreform vom 25.06.1969 (in Kraft seit 1. September 1969 bzw. 1. April 1970) nur noch als einheitliche Freiheitsstrafe verhängt. Die bis dahin gebräuchliche Unterscheidung freiheitsentziehender Maßnahmen in Zuchthaus, Gefängnis, Einschließung, Strafarrest und Haft abgeschafft.

Exkurs Sicherungsverwahrung: Seit Dezember 2009 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die nachträgliche Sicherungsverwahrung für menschenrechtswidrig erachtet, weil nach der bislang bestehenden Praxis die Sicherungsverwahrung nicht von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zu unterscheiden war und sie in den gleichen Justizvollzugsantalten vollstreckt wurde. Diese Praxis in Deutschland war eine unzulässige und mithin menschenrechtswidrige Doppelbestrafung. (EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009 zu 19359/04). Obwohl diese Entscheidung kein Einzelfall geblieben ist und die Bundesrepublik Deutschland erneut verurteilt wurde (EGMR, Urteile vom 13.01.2011 zu 17792/07, 20008/07 und 27360/04 und 42225/07), ist die Rechtsprechung der deutschen Obergerichte des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und Bundesgerichtshofs (BGH) dieser klaren Linie bislang nicht gefolgt und noch uneinheitlich.
Da auch noch nicht absehbar ist, ob das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung vom 22.12.2010 einer obergerichtlichen Überprüfung bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte standhalten wird, ist die Sicherungsverwahrung als ein Sonderfall der Freiheitsstrafe zu betrachten.

Das Sanktionensystem wurde mit dem Gesetz („das Gewohnheitsverbrechergesetz") vom 24. November 1933 gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Besserung und Sicherung in das Strafgesetzbuch eingeführt worden und geht entscheidend auf die durch Franz von Liszt zu Ende des 19. Jahrhunderts angestoßene Diskussion mit seiner Veröffentlichung des Marburger Programms (Der Zweckgedanke des Strafrechts) zurück.

Vorausgegangen war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein regelrechter Bauboom von Gefängnissen und Zuchthäusern, der noch heute das Bild der Gefängnisse in der Öffentlichkeit prägt und man sich fragt, ob sich seitdem überhaupt irgendetwas geändert hat. 1716 wurde die Justizvollzugsanstalt Waldheim in Sachsen als »Allgemeines Zucht,- Armen- und Waisenhaus« durch den Kurfürsten Friedrich August I. eingeweiht und ist das älteste Zuchthaus Deutschlands das noch als JVA genutzt wird. In Bremen wurde das erste Zuchthaus in Deutschland (1804/06) errichtet.

Kriminologische Relevanz

Die Freiheitsstrafe ist die Reaktion dieses Staates, die die Grundrechte seiner Bürger am nachhaltigsten bedroht, aber auch die wirksamste?

"Eine Voraussetzung von strafrechtlichen Sanktionen in rechtsstaatlich verfassten Gesellschaftenist natürlich ein Verstoß gegen eine strafrechtliche Norm. Genauer - wie wir in Kenntnis des labeling approach sagen müssen - : das Urteil von Richtern, nach dem ein solcher Verstoß vorgelegen hat." (Peters 2009: 156)

Peters führt aus, dass wenn man als Erfolg sozialer Kontrolle, die Verhinderung abweichenden Verhaltens in dem soziale Kontrolle wirkt, Sanktionsdrohungen und Strafen als Kontrollversager gelten (Peters 2009: 170). Lamnek resümiert im Hinblick auf die Generalprävention, dass soweit man die Effizienz über den Rückgang der Kriminalität bemisst, diese soziale Kontrolle nur selten erfolgreich ist (Lamnek 2008: 286).

Das offenbaren insbesondere die vom Statitistischen Bundesamt geführten Datenerhebungen über die Entwicklung der in Justizvollzugsanstalten einsitzenden Strafgefangenen und Sicherheitsverwahrten (siehe unten).

Ein besonderes Augenmerk hat dabei den Katgegorien "Strafgefangene bis 9 Monaten einschließlich" und "Strafgefangene von 9 bis 24 Monaten einschließlich" zu gelten. Diese beiden Kategorien bezogen auf die aktuellen Zahlen 2010 (Stand: 31. März 2010) machen knapp 63% der erwachsenen Inhaftierten aus (13.948 + 19.959 = 33.907 von 53.973 (gesamt) ohne Berücksichtigung der Jugendstrafen und Sicherungsverwahrten). 68,8% der Inhaftierten sind keine Ersttäter. (Statistisches Bundesamt 2010: 20) Bei Gegenüberstellung dieser Zahlen wird das doppelte Versagen des Sanktionensystems deutlich: es lassen sich weder die Ersttäter noch die bereits Verurteilten nachhaltig beeindrucken noch von der Begehung von (weiteren) Straftaten abbringen.

Seit den siebziger Jahren ist eine Zunahme der Gefängnisinsassen zu beobachten; in den letzten 10 Jahren ist die Zahl der Inhaftierten jedoch kaum noch nennenswert gestiegen.

Exkurs Sicherungsverwahrung: Eine Ausnahme bildet die Zahl der Sicherungsverwahrten, die von 257 Verwahrten im Jahre 2001 bis auf 536 im Jahre 2010 anstieg. Das Hauptproblem und somit der

Die Zahlen belegen zwar keinen Aufstieg neoliberalen Sicherheitsdenkens beiderseits des Atlantiks wie ihn Wacquand beschreibt, Beachtung verdienen allerdings die Thesen, wonach heutige Gesellschaften über mindestens drei zentrale Strategien verfügen, um mit unerwünschten Verhältnissen und unerwünschten Verhaltensweisen, also abweichendem Verhalten zu begegnen (Wacquand 2009: 20).

Mit anderen Worten: es konkurrieren drei verschiedene Systeme die die Zahl derjenigen, die der Zielgruppe zugerechnet werden, beeinflussen. Es ist erstens das Sozialsystem, das den Betroffenen das Existenzminimum (Regelsätze (Hilfe zum Lebensunterhalt (Arbeitslosengeld II)) und Wohnraum sicherstellt. Zweitens sind es die Leistungen des Gesundheitssystem; eine These, die Annahme voraussetzt, dass Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, behandlungsbedürftig im Sinne medizinischer Beeinträchtigung sind wie Drogen-, Medikamenten-, Alkoholabhängigkeit oder anderer individueller psychischer Erkrankungen. Und drittens streitet die Kriminlisierung um die gleiche Zielgruppe: der Ruf nach dem Strafrecht um soziale Missstände unsichtbar zu machen (vgl. Wacquand 2009: 20)

Entwicklung der in Justizvollzugsanstalten einsitzenden Strafgefangenen und Sicherheitsverwahrten (2001-2010)

Datenmaterial: Statitistisches Bundesamt "Strafvollzug - Demograph.u. kriminolog. Merkmale der Strafgefangenen - Fachserie 10 Reihe 4.1 - 2010 (größere Ansicht Media:Tabelle.png)

Tabelle33.png




Quellen

  • Brockhaus (1997), Die Enzyklopädie in 24 Bänden, Leipzig, Mannheim
  • Statistisches Bundesamt Fachserie 10 Reihe 4.1 (2010), Strafgefangene und Sicherungsverwahrte am 31.3.2010 nach demographischen und kriminologischen Merkmalen sowie Zeitreihendarstellung für 1965 bis 2010; Untergebrachte im Maßregelvollzug am 31.3.2010, Wiesbaden

Literatur

  • Foucault, Michel (1975) Surveiller et punir, deutsch (1994), Überwachen und Strafen, Frankfurt
  • Grambow, Otto (1910), Das Gefängniswesen Bremens, Dissertation Göttingen, zitiert in: Kruse, Hans Joachim (2003), Zur Geschichte des Bremer Gefängniswesens, Norderstedt
  • Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Hrsg.) (1993), Kleines Kriminologogisches Wörterbuch, Heidelberg
  • Lamnek, Siegfried (2008), Theorien abweichenden Verhaltens II, Paderborn
  • von List, Franz (1882/83), Der Zweckgedanke im Strafrecht, Berlin
  • Peters, Helge (2009), Devianz und soziale Kontrolle, Weinheim und München
  • Wacquant, Loïc (2009), Bestrafen der Armen: Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, Leverkusen

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