Flucht

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Flucht bezeichnet eine Handlung des räumlichen oder gedanklichen Ausweichens vor als unangenehm, inakzeptabel, unerträglich oder bedrohlich wahrgenommenen Lebensumständen.

Begriffsklärung

Eine Fluchthandlung kann sich neben den oftmals mit dem Fluchtbegriff assoziierten Handlungen des räumlichen Ausweichens wie im Falle der Fluchtmigration, des Gefängnisausbruchs, der Flucht vor der Festnahme nach einer begangenen Straftat oder der Flucht vor der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, auch in der Ausprägung eines gedanklichen Ausweichens, wie im Falle der "Realitätsflucht" (Eskapismus) oder der „Flucht in die Krankheit“, vollziehen.

Darüber hinaus ist zwischen reflexartiger und geplanter Flucht zu unterscheiden. Die Flucht vor einer unerwarteten, plötzlich auftretenden Bedrohung (z.B. vor einer Naturgewalt) erfolgt reflexartig aus Angst vor Schädigungen der Gesundheit oder vor dem Tod. Eine Fluchthandlung zwecks Vermeidung unangenehmer Konsequenzen auf vorheriges individuelles oder kollektives Handeln vollzieht sich hingegen - je nach verfügbarer Zeit - mehr oder weniger sorgfältig geplant (z.B. bei der Flucht vor strafrechtlichen Konsequenzen nach einer begangenen Straftat).

Der Zeitpunkt und die Ausprägung einer Fluchthandlung werden oftmals von komplex zusammenwirkenden objektiven und subjektiven Faktoren beeinflusst.

Zur gesellschaftlichen Tragweite der unterschiedlichen Fluchtformen

Je nach Ausprägung einer Fluchthandlung kann diese eine sehr unterschiedliche Tragweite für Individuen, Gruppen und Gesellschaftssysteme haben.

Die Auswirkungen der Flucht in Form des gedanklichen Ausweichens fokussieren sich überwiegend auf die gesundheitliche, soziale, rechtliche und wirtschaftliche Situation der unmittelbar betroffenen Personen und deren sozialem Umfeld.

In vergleichbarer Relation sind die Fluchtvarianten des räumlichen Ausweichens bei Unfallflucht, Gefängnisausbrüchen oder der Flucht vor einer Festnahme bzw. Haftstrafe nach einer vorherigen strafrechtlich relevanten Handlung in der Regel auf die Mikroebene beschränkt.

Auf der Makroebene ist die Fluchtmigration im Vergleich zu anderen Fluchtformen von deutlich größerer Bedeutung innerhalb und zwischen verschiedenen Gesellschaftssystemen. In den Herkunfts- und Zielgebieten der räumlich ausweichenden Individuen oder Gruppen können die Fluchtbewegungen eine bedeutende Rolle bei der demographischen, sozialpolitischen, wirtschaftlichen und (straf-)rechtlichen Entwicklung spielen.

2013 befanden sich gemäß den Angaben der Uno-Flüchtlingshilfe erstmals seit dem 2. Weltkrieg weltweit über 50 Millionen (51,2 Millionen) Menschen auf der Flucht. Für einen Großteil der Flüchtlinge (33,3 Millionen) vollzog sich die Fluchtbewegung innerhalb des jeweiligen Landes. Ein vergleichsweise geringer Anteil von 1,1 Millionen Flüchtlingen stellte außerhalb des Herkunftslandes - überwiegend in den Industrieländern - einen Antrag auf Asyl.

Fluchtmigration – Die weltweit häufigste Form räumlichen Ausweichens

Fluchtmigration stellt eine Form der Zwangsmigration dar, da durch diese Abwanderung von Menschen einem „aufgetretenen oder drohenden Zwang ausgewichen wird“ (Höfling-Semnar 1995: 27).

Diese Zwangsmigration vollzieht sich meist unter schwierigen und oftmals gefährlichen Umständen als räumliche Bewegung, die entweder in eine andere Region innerhalb eines Staates zielt (Binnenflucht) oder grenzüberschreitend bzw. interkontinental orientiert ist und sich dann in Form von Einzel-, Gruppen-, Ketten-, oder Massenwanderungen vollzieht. Während die Begriffe der Einzel-, Gruppen- und Massenwanderung unmittelbar verständlich sind, bedarf die Kettenwanderung einer expliziten Definition: Im Allgemeinen wird unter einer Kettenwanderung die Bewegung von Einzelwandernden verstanden, die allerdings Bestandteil „einer Gruppe von Verwandten oder Bekannten sind, die nach und nach die Herkunftsregion verlassen und sich in der Zielregion den früher Gewanderten wieder anschließen bzw. anschließen wollen“ (Treibel 1999: 20).

Zum Verhältnis zwischen objektiven und subjektiven Fluchtgründen

Da nicht alle Menschen, welche von den gleichen objektiven Faktoren (z.B. Krieg, Umweltzerstörung, Armut, Hunger, politische Repression) bedroht sind, in sicherere Regionen oder Länder fliehen, spielen auch subjektive Aspekte eine wichtige Rolle bezüglich der (erzwungenen) „Entscheidung“ zu einer Fluchthandlung.

Gesellschaftlicher Status, individuelles Handeln (z.B. nicht tolerierte politische Aktivität), subjektive Wahrnehmung einer objektiven Bedrohungslage, sowie subjektive Bedürfnisse bzw. Erwartungen beeinflussen die Entscheidungszwänge zur Flucht und die Bestimmung des potentiellen Fluchtziels.

Die objektiven Fluchtgründe sind in variierender Konstellation miteinander verflochten und beeinflussen sich gegenseitig. Ökonomische Interessen können beispielsweise politische Repressionen oder Kriegshandlungen provozieren, somit zu Menschenrechtsverletzungen und zur Zerstörung menschlichen Lebensraumes führen.

Es sind vor allem „die durch diese wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Strukturen gesetzten Rahmenbedingungen, die das Ausmaß, die Form und die Folgewirkungen“ (Pries 2001: 22) der Fluchtbewegungen bestimmen.

Bei der Entstehung subjektiver Fluchtgründe ist wiederum zwischen denjenigen Flüchtlingen zu unterscheiden, die entweder panikartig oder relativ unvorhersehbar das Land verlassen müssen und solchen, die ihre Flucht im Voraus planen können. Während Erstere überwiegend innerhalb eines Landes in benachbarte Regionen oder in grenznahe Staaten fliehen und auf eine möglichst baldige Rückkehr in ihr Herkunftsgebiet hoffen, orientieren sich vorausplanende Flüchtlinge meist an den sozioökonomischen bzw. gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen des potentiellen Zielgebiets und an den bestehenden Kontakten zu bereits geflohenen Verwandten oder Bekannten.

Push-Pull-Modell

Die Entscheidung zur Flucht wird bei vorausplanenden Flüchtlingen neben der Verfügbarkeit über die notwendigen finanziellen Mittel zur Realisierung eines Fluchtvorhabens in erheblichem Maße von Schub- und Sogkräften beeinflusst: Als Schubkräfte bzw. Push-Faktoren werden die in den Herkunftsregionen als bedrohlich, inakzeptabel, belastend und somit „drückend“ empfundenen Lebensumstände bezeichnet. Lebensumstände in den potentiellen Zielgebieten, welche als erstrebenswert und dadurch als „anziehend“ wahrgenommen werden, wirken als sog. Sogkräfte bzw. Pull-Faktoren.

Diese Push- und Pull-Faktoren treten bei jedem vorausplanenden Flüchtling in unterschiedlichem Mischverhältnis auf, da sie stets abhängig von den jeweils herrschenden objektiven Verhältnissen und den subjektiven Wahrnehmungen der Lebensbedingungen in den Herkunfts- und Zielregionen, sowie den mehr oder weniger stark ausgeprägten Informations- und Beziehungsnetzwerken sind.

Zur kriminologischen Relevanz ...

... des räumliches Ausweichens vor einer Festnahme oder Freiheitsstrafe

Flucht in Form eines räumlichen Ausweichens nach einem Gefängnisausbruch oder einer begangenen Straftat hat je nach Einschätzung der von den fliehenden Personen ausgehenden Gefahr konkrete Auswirkungen auf die Intensität der Fahndung, den eventuell durch mediale Berichterstattung forcierten Fahndungsdruck und die Auswahl der Verfolgungs- bzw. Zugriffsmethoden. Der Gefängnisausbruch ohne eine handlungsbegleitende Straftat durch die flüchtige Person (wie z.B. Bestechung § 334 StGB, Sachbeschädigung §303 StGB, Körperverletzung § 223 StGB, Bedrohung §239 StGB, Nötigung § 240 StGB oder Geiselnahme § 239b StGB) ist grundsätzlich nicht strafbar. Geleistete Fluchthilfe durch Dritte erfüllt hingegen den Straftatbestand der Gefangenenbefreiung § 120 StGB oder der Strafvereitelung § 258 StGB.

Wenn sich eine Person bereits nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe noch vor dem eigentlichen Haftantritt zur Flucht entscheidet, führt dies in den meisten Fällen weder zu einem besonders hohen Fahndungsdruck, noch besteht ein gesteigertes öffentliches Interesse an der Sachlage. Die vor dem als unangenehm empfundenen Ereignis der Inhaftierung fliehenden Menschen werden überwiegend im Rahmen von Personenkontrollen festgenommen und dann der vorgesehenen Vollzugsanstalt zugeführt. Konkrete Auswirkungen für die nach der unfreiwillig beendeten Flucht zugeführten Personen können z.B. die auf potentieller Fluchtgefahr basierende Verweigerung von Haftlockerungen oder die deutlich reduzierte Chance auf die Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung sein.

... der Flucht durch gedankliches Ausweichen

Fluchtvarianten des gedanklichen Ausweichens wie im Falle des „Eskapismus“ und der „Flucht in die Krankheit“ sind von besonderem Interesse für Ärzte, Therapeuten und Sozialarbeiter, welche überwiegend mit der Arbeit mit Straftätern oder deren Opfern befasst sind. Je nach Kontext kann diese Art von Flucht sehr unterschiedliche Effekte verursachen und der Erforschung individueller Verhaltens- bzw. Erklärungsmuster dienen.

Eskapismus als sog. Realitätsflucht kann sich beispielsweise neben der oftmals damit assoziierten Flucht in übermäßigen Medienkonsum auch in strafrechtlich relevantem Konsum von Betäubungsmitteln kanalisieren und Ausdruck einer Verweigerungshaltung gegenüber gesellschaftlicher Normen und Erwartungen sein. Auch das Leben in psychopathologischen Scheinwelten kann eine Form des Eskapismus darstellen und vergleichbar mit der Flucht in die Krankheit ein Medium zur Abgabe bzw. Reduktion von Verantwortung für eine begangene Handlung (Reaktion der Täter) oder zur Vermeidung der aktiven Auseinandersetzung mit dem als bedrohlich Erlebten (Reaktion der Opfer) sein.

... der Fluchtmigration

Da Fluchtmigration die weltweit häufigste Form des räumlichen Ausweichens darstellt, ist ihre kriminologische Relevanz im Vergleich zu den anderen Erscheinungsformen von Flucht als besonders hoch zu bewerten.

Flüchtlinge, welche trotz zunehmender technischer und formeller Einreisebarrieren in die anvisierten Industriestaaten gelangen, werden in diesen nicht selten als Projektionsfläche für unterschiedliche (macht-)politische und sozioökonomische Interessen instrumentalisiert. Wenn Asylsuchende als potentielle Bedrohung für die Sicherheit wahrgenommen bzw. dargestellt werden, kann deren Existenz beispielsweise auch der Etablierung neuer Kontroll- und Sicherheitstechnik dienlich sein, sowie zum verstärkten Einsatz von staatlichen Kontrollorganen und privaten Sicherheitsdiensten führen.

Auch restriktive asyl- und strafrechtliche Reformen werden in diesem Zusammenhang häufig in den Zielländern umgesetzt und auch von den Herkunftsländern gefordert. „Unter der Vorreiterrolle und dem Druck Deutschlands drängt die EU immer mehr afrikanische Staaten, einen Tatbestand der „illegalen Ausreise“ in ihre Strafgesetzbücher aufzunehmen" (Wiedemann 2009, in Trotha 2010: 31).

Von besonderer strafrechtlicher und kriminologischer Relevanz sind auch die diversen Erscheinungsformen von fremdenfeindlich motivierten Straftaten gegen Flüchtlinge, die Gewalttaten zwischen ethnisch und religiös differenten Asylsuchenden in den Flüchtlingsunterkünften, die Probleme der Flüchtlinge im Umgang mit asyl- und ausländerrechtlichen Vorschriften, sowie die Praxis freiheitseinschränkender Maßnahmen bis hin zur Möglichkeit zur Festnahme und Inhaftierung (ohne zugrunde liegende Straftat) von „Ausreisepflichtigen“ zwecks daran anschließender Abschiebung.

Literatur

Arnold, Wilhelm, Eysenck, Hans Jürgen, Meile, Richard (Hg.): Lexikon der Psychologie - Erster Band, Bechtermünz Verlag, Augsburg 1997

Feldhoff, Jürgen, Kleineberg, Michael, Knopf, Bernd: Flucht ins Asyl – Untersuchungen zur Fluchtmotivation, Sozialstruktur und Lebenssituation ausländischer Flüchtlinge in Bielefeld, AJZ Druck und Verlag GmbH, Bielefeld 1991

Gontovos, Konstantinos: Psychologie der Migration – Über die Bewältigung der Migration in der Nationalgesellschaft, Argument Verlag, Hamburg 2000

Höfling-Semnar, Bettina: Flucht und deutsche Asylpolitik – Von der Krise des Asylrechts zur Perfektionierung der Zugangsverhinderung, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1995

Nuscheler, Franz: Internationale Migration. Flucht und Asyl, Leske + Budrich, Opladen 1995

Pries, Ludger: Internationale Migration, transcript Verlag, Bielefeld 2001

Treibel, Anette: Migration in modernen Gesellschaften – Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht, 2. völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage, Juventa Verlag, Weinheim und München 1999

Trotha, Trutz von: Die präventive Sicherheitsordnung - Weitere Skizzen über die Konturen einer ‚Ordnungsform der Gewalt‘, in: Kriminologisches Journal 42, Beltz Juventa 2010, S. 24-40

Zimbardo, Philip G.: Psychologie. 5., neu übersetzte und bearbeitete Auflage, Springer Verlag, Berlin Heidelberg 1992

Weblinks

http://www.amnesty.de/amnesty-international-report-20142015?destination=startseite

http://www.duden.de/rechtschreibung/Flucht_Ausbruch (2015)

http://www.lastexitflucht.org/againstallodds/factualweb/de/3.2/articles/3_2_3_Kriminalitaet.html

http://www.proasyl.de/de/themen/eu-recht/dublin-ii-verordnung

http://www.strafrecht-bundesweit.de/strafrecht-blog/ist-ein-gefaengnisausbruch-strafbar/

http://www.strafgesetzbuch-stgb.de/stgb/1.html

http://www.suchtmittel.de/seite/tags.php/eskapismus.html

http://www.unhcr.de/mandat/genfer-fluechtlingskonvention.html

http://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html