Geiselnahme

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Bei einer Geiselnahme (engl.: hostage taking) bemächtigt sich mindestens eine Person (= Geiselnehmer) mindestens einer weiteren Person (= Geisel), um unter Androhung von Gewalt gegenüber der Geisel mindestens eine weitere Person (= den Adressaten der Forderung) zu einem Tun oder einem Unterlassen zu bewegen. In Deutschland ist die Geiselnahme eine Straftat gemäß § 239b StGB [[1]].

Etymologie und Geschichte

Der Begriff Geisel bzw. geisala oder geisalazwar stand bereits im Germanischen für Bürge oder Unterpfand und geht auf das indogermanische Wort gheidhlo für Bürgschaft oder Pfand zurück. Eine weitere Bedeutung von gheidhlo dürfte unfreiwillig zurückgeblieben (nämlich als Kriegsgefangener, der dem Willen eines anderen rechtlos unterworfen war) gewesen sein (vgl. Köbler 1995).

Schon in der Antike waren Geiselnahmen bekannt. Oft dienten sie der Gewährleistung der Erfüllung bestimmter Forderungen. Gelegentlich wurden auch die Söhne vornehmer Vertreter tributpflichtiger politischer Einheiten in Geiselhaft gehalten und dabei ehrenvoll behandelt und gut erzogen (Theoderich der Große, Attila).

Im deutschen Strafgesetzbuch wurde der Tatbestand der Geiselnahme erstmals 1871 in § 234 StGB (Menschenraub), beschrieben. Dennoch waren in Deutschland Geiselnahmen eher Randerscheinungen, bis es am 4. August 1971 zur ersten Geiselnahme mit großem Medieninteresse kam. Die Täter hatten von Beginn an geplant, in einer Deutschen Bank Filiale in München Geiseln zur Erpressung von Lösegeld zu nehmen. Die Geiselnahme zog sich über einen ganzen Tag hin, bis bei einem Schusswechsel eine Geisel und einer der Täter getötet wurden.

Zu den bis dahin üblichen "persönlichen" Tatmotiven (z.B. Bereicherung oder Flucht), gesellten sich nun zusehends politische Tatmotive. Die Geiselnahme von elf Athleten der israelischen Olympiamannschaft durch das palästinensische Terrorkommando Schwarzer September während der Olympischen Sommerspiele 1972 in München, stellte die deutschen Sicherheitsbehörden vor eine Geisellage nicht gekannten Ausmaßes. Ziel der Geiselnehmer war es, die Freilassung von palästinensischen Gefangenen aus israelischer Haft, sowie die die Freilassung der in Deutschland inhaftierten Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof zu erzwingen. Bei einem folgenschweren Befreiungsversuch kamen alle Geiseln, ein deutscher Polizist sowie fünf Terroristen ums Leben.

Auf dieses Ereignis reagierten Bund und Länder mit der Aufstellung von polizeilichen Spezialeinheiten, sowie dem Erlass der Paragraphen 239a StGB (Erpresserischer Menschenraub) und 239b StGB (Geiselnahme) am 19. Dezember 1971. Anmerkung: Der § 239a StGB hat bereits vor dem 19. Dezember 1971 bestanden, erfasste bis dahin aber lediglich Fälle der Kindesentführung.

Juristische Definition

Die Geiselnahme im juristischen Sinne wurde in Deutschland durch den Gesetzgeber in § 239b StGB (Geiselnahme) definiert. Daneben besteht der § 239a StGB (Erpresserischer Menschenraub), der ebenfalls am 19. Dezember 1971 in Kraft getreten und eng mit dem §239b StGB (Geiselnahme) verbunden ist.

§ 239b Geiselnahme
(1) Wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen bemächtigt, um ihn oder einen Dritten durch die Drohung :mit dem Tod oder einer schweren Körperverletzung (§ 226) des Opfers oder mit dessen Freiheitsentziehung von über einer :Woche Dauer zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen, oder wer die von ihm durch eine solche Handlung geschaffene :Lage eines Menschen zu einer solchen Nötigung ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.
(2) § 239a Abs. 2 bis 4 gilt entsprechend.

Schutzgut des § 239b StGB (Geiselnahme) ist sowohl die persönliche Freiheit und körperliche sowie seelische Integrität des Opfers, als auch die Freiheit des besorgten Dritten. Die Vorschrift ähnelt in ihrem Aufbau und ihren Tatbestandsmerkmalen weitgehend dem Erpresserischen Menschenraub gemäß § 239a StGB. Ein wesentlicher Unterschied liegt jedoch in den Anforderungen an den zweiten Teilakt: Anstelle der Ausnutzung(sabsicht) der Bemächtigungslage zu einer Erpressung, tritt bei der Geiselnahme gemäß § 239b StGB, die Nötigung(sabsicht) mittels einer qualifizierten Drohung (Beck´scher Online-Kommentar, Stand 01.12.2010)

Während also der Täter bei der Verwirklichung eines Erpresserischen Menschenraubs gemäß § 239a StGB einen Vermögensvorteil anstrebt, liegt der Zweck der Geiselnahme gemäß § 239b StGB außerhalb des Vermögensbereichs. Der Täter beabsichtigt das Opfer oder Dritte zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen (z.B. Freilassung von Häftlingen, Gewährung freien Geleits oder Übertragung des Kindersorgerechts).

Das Strafmaß der Geiselnahme ist Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren (Verbrechen). Gemäß § 239 b Abs. 2 i.V.m. § 239a Abs. 2 bis 4 gilt:

  • In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr.
  • Verursacht der Täter durch die Tat wenigstens leichtfertig den Tod des Opfers, so ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren.
  • Das Gericht kann die Strafe mildern, wenn der Täter das Opfer in dessen Lebenskreis zurückgelangen lässt.
  • Gemäß § 239c StGB kann das Gericht in den Fällen der §§ 239a und 239b StGB Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1 StGB), wenn die Gefahr besteht, dass der Täter weitere Straftaten begehen wird.

Sprachgebräuchliche Definition

Sprachgebräuchlich wird unter einer Geiselnahme eine Situation verstanden, in der sich eine oder mehrere, mit einem Drohmittel ausgestattete Personen, an einem der Polizei bekannten Ort anderen Personen bemächtigt haben ( ist der Aufenthaltsort von Täter und Opfer nicht bekannt, wird von einer Entführung gesprochen). Der/die Täter bedrohen das/die Opfer mit dem Leben um Forderungen (innerhalb oder außerhalb des Vermögensbereichs) gegenüber Dritten (z.B. Politik, Polizei, sonstigen Behörden, Kreditinstituten, Privatpersonen) durchzusetzen.

In der Regel wird bereits von einer Geiselnahme gesprochen, wenn lediglich die beschriebene Bemächtigung für Dritte erkennbar ist, aber noch keine Forderungen vorliegen.

Kriminologische Bezüge

Allgemeine und kriminalstatistische Bezüge

Die Wahrnehmung von Geiselnahmen in der Öffentlichkeit, ist mit kaum einem anderen Deliktbereich vergleichbar. Die Berichterstattung erfolgt oft international und ein lokales Drama erzeugt mitunter weltweite Anteilnahme, obwohl i.d.R. nur wenige Opfer bedroht sind und Geiselnahmen oft einen unblutigen Ausgang nehmen.

Auch ist das Phänomen Geiselnahme oft überproportional in den Auswirkungen auf Politik und Verwaltung. So werden nach missglückten Geiselnahmen regelmäßig Forderungen nach Rücktritten oder Gesetzesänderungen laut. Und nicht selten wird dem aufgrund von starkem Mediendruck nachgegeben. Obwohl es in Deutschland vergleichsweise selten zu Geiselnahmen kommt (PKS 2009: 55 Geiselnahmen, davon lediglich drei i.V.m. Banküberfällen) sind die beschriebenen Auswirkungen meist größer als z.B. bei den in viel größerer Zahl vorkommenden Tötungsdelikten (PKS 2009: 3269 Straftaten gegen das Leben, davon 703 Morde).

Gründe hierfür könnten sein, dass die Geiselnahme durch die Öffentlichkeit nicht als bereits abgeschlossene Handlung wahrgenommen wird, wie dies bei einem Tötungsdelikt der Fall ist, sondern als Drama mit offenem Ausgang, das live verfolgt werden kann.

Auf der anderen Seite scheint die Angst, selbst Opfer einer Geiselnahme zu werden, geringer zu sein als die Angst Opfer eines Tötungsdelikts zu werden und entspricht damit den tatsächlichen Wahrscheinlichkeitsverhältnissen (PKS 2009 Häufigkeitszahlen: Geiselnahmen und Erpresserischer Menschenraub zusammen: weniger als 0,1 Fälle pro 100.000 Einwohner; Straftaten gegen das Leben: 4,0 Fälle pro 100.000 Einwohner).

Ätiologische Bezüge

Ein Großteil der Geiselnahmen sind ungeplant und ergeben sich aus unerwarteten Lageentwicklungen (z.B. Geiselnahme zur Erzwingung von freiem Geleit nach einer missglückten Straftat oder Flucht). Geplante Geiselnahmen sind eher in Situationen zu beobachten, in denen sie die (vermeintlich) einzige Möglichkeit darstellen, ein Ziel zu erreichen (z.B. Durchsetzung politischer Forderungen oder Flucht aus dem Strafvollzug.)

Viktimologische Bezüge

In ihren Auswirkungen auf das Opfer stellt die Geiselnahme, insbesondere durch die über einen längeren Zeitraum erlebte Todesangst und die oft vollständige Einschränkung der persönlichen Freiheit, eine Straftat mit einer sehr hohen Traumatisierungswahrscheinlichkeit dar. Gelegentlich wird von Opfern berichtet, die während der Geiselnahme zu den Tätern eine positive Beziehung aufbauen und mit diesen sympathisieren und teilweise sogar kooperieren. Dieses Phänomen wir als Stockholm-Syndrom bezeichnet.

Literatur

  • Köbler, Gerhard (1995) Deutsches Etymologisches Wörterbuch. [[2]]
  • Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch: Kommentar, Beck Juristischer Verlag, 2010
  • Rheinländer, Markus, Erpresserischer Menschenraub und Geiselnahme (§§ 239a, 239b StGB): Eine Strukturanalyse, 2000 Münster
  • Wolf, Christian, Folgen einer Geiselnahme: Das Stockholmsyndrom, Grin Verlag, 2010
  • Schwind, Hans-Dieter, Kriminologie, Kriminalistik, Verlagsgruppe Hüthing Jehle Rehm GmbH, 2010 Heidelberg
  • Immel, Markus, Die Gefährdung von Leben und Leib durch Geiselnahme (§§ 239a, 239b StGB), Berlin 2001
  • Brambach, Marko, Probleme des Tatbestandes des erpresserischen Menschenraubs und der Geiselnahme, Berlin 2000
  • Nikolaus, Sonja Christine, Zu den Tatbeständen des erpresserischen Menschenraubs und der Geiselnahme, Berlin 2003
  • Spear, Robert K., Moak, Michael: Überleben als Geisel? , 1992

Weblinks