Entkriminalisierung

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Entkriminalisierung bezeichnet den Vorgang der Rücknahme einer Kriminalisierung. Entkriminalisierung hebt die Strafbarkeit und damit die staatlich verstärkte sozialethische Ächtung einer Verhaltensweise auf. Der „Report on Decriminalisation“ des Europarats (Council of Europe 1980: 13) definiert Entkriminalisierung als die Gesamtheit der Prozesse, mittels derer bestimmte Verhaltensweisen dem Zuständigkeitsbereich des Strafrechts entzogen werden, bzw. „by which the 'competence' of the penal system to apply sanctions as a reaction to a certain form of conduct is withdrawn“. - Entkriminalisierung kann formell durch einen Akt der Gesetzgebung erfolgen (de jure) oder eher informell durch die faktische Nichtverfolgung und Nicht-Sanktionierung eines formell weiterhin mit Strafe bedrohten Verhaltens (de facto). Einer de jure Entkriminalisierung geht nicht selten ein Prozess nachlassender Anzeige-, Verfolgungs- und Sanktionierungsintensität im Stile einer de facto Entkriminalisierung voraus.

Erscheinungsformen

Entkriminalisierung ist nicht gleichbedeutend mit Legalisierung. Nur dann, wenn mit der Strafbarkeit auch das Verboten-Sein des Verhaltens entfällt, beinhaltet die Entkriminalisierung auch dessen Legalisierung. Beispiel für eine legalisierende Entkriminalisierung ist die Aufhebung der Alkoholprohibition in den USA im Jahre 1933: was strafbar war, wird nun erlaubt. Neben dieser legalisierenden Entkriminalisierung gibt es die transformierende, bei der zwar die Strafbarkeit wegfällt, nicht aber das Verboten-Sein und die Sanktionsdrohung gegenüber denjenigen, die das fragliche Verhalten an den Tag legen.

Für Wolfgang Naucke (1984: 169) sind alle transformierenden Entkriminalisierungen nur Augenwischerei. Er nennt sie "scheinbare Entkriminalisierungen" und führt als Beispiele den Ersatz der Kriminalstrafe durch Maßregeln der Besserung und Sicherung, durch Unterbringung oder durch Bußen nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht an. In all diesen Fällen ziehe man "die staatliche Strafe ab, wohl wissend, daß damit die Abweichung bleibt, und gibt die Lösung des Problems an die Gesellschaft zurück“. Alles, was hier passiert, ist: "Das Mittel der Unterdrückung wird umetikettiert." (Zur Entkriminalisierung im Sinne einer formal die Strafdrohung abschaffende Rechtsänderung, die aber aufgrund ihrer undurchschaubaren Regelungen in der Praxis gar nicht ankommt und insofern das Adjektiv 'scheinbar' verdient, vgl. Schäfer 2006).

Kohl und Scheerer (1989: 89) unterscheiden anders:

  • Wenn das Verhalten weiterhin einen Straftatbestand darstellt, die Sanktion aber nicht Strafe, sondern Maßregel heißt, liegt gar keine Entkriminalisierung vor. Denkbar wäre allenfalls, auch nicht unproblematisch, von einer Entpönalisierung zu sprechen, da die poena, die peinliche Kriminalstrafe, ja entfällt, wenn auch die Sanktionsdrohung erhalten bleibt.
  • Wo hingegen das Verhalten vom Straftatbestand zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft wird, liegt eine echte - wenn auch nicht ersatzlose - Entkriminalisierung vor. Kohl und Scheerer schlugen vor, in solchen Fällen von einer transformierenden Entkriminalisierung zu sprechen: das Verhalten bleibt zwar verboten und das Verbot bleibt auch weiterhin sanktionsbewehrt, aber was Kriminalunrecht war, wird nun in Verwaltungsunrecht transformiert. Zuständigkeiten und Verfahrensweisen ändern sich und werden zumindest in einer Hinsicht milder: es entfällt bis auf Weiteres die Drohung mit der Kriminalstrafe und der Freiheitsstrafe und damit entfällt auch das Odium des Kriminellen, d.h. die besondere Intensität sozialer Ächtung für Tat und Täter. Der Vorwurf der bloßen Umetikettierung trifft diese Fälle nicht, weil sich mit der Rücknahme der Kriminalstrafe tatsächlich etwas ändert.

Beispiel ist die Umwandlung der strafbaren Straßenverkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten durch das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24.5.1968. Tatbestände werden formal aus dem Strafrecht ausgegliedert, um anschließend in einer anderen Rechtsmaterie, z. B. in einem Katalog für Ordnungswidrigkeiten, wieder aufzutauchen. Das ist eine tatsächliche Entkriminalisierung, die nicht dadurch weniger wirklich wird, dass sie die Rechtsmaterie "nur" verlagert. Denn immerhin fallen der spezifische Zwangscharakter und die spezifische Ächtung weg. Das Verhalten gilt nicht mehr als "crimen" mit all den Konsequenzen, die das hat.

Die Bestimmungsgründe von Entkriminalisierungen variieren zwischen Zweck- und Wertrationalität. Der Europaratsbericht (Council of Europe 1980: 15) unterschied:

  1. Entkriminalisierung als Anerkennung eines bislang geächteten Verhaltens (Typ A: Wandel moralischer Bewertung)
  2. Entkriminalisierung als Beschränkung staatlicher Einmischung in weltanschauliche Fragen (Typ B: Wandel in der Auffassung von den Befugnissen des Strafgesetzgebers)
  3. Entkriminalisierung als Schritt zur Optimierung der Verhaltenskontrolle, bzw. Konfliktlösung (Typ C: Wandel in der Effektivitäts- bzw. Effizienzerwartung an das strafrechtliche Instrumentarium).

Kriterien

Ungeeignetheit

Das Strafrecht ist nicht zur Lösung aller Arten von Konflikten geeignet. Und noch weniger zur Lösung gesundheits- oder sozialpolitischer Problemlagen. Ein Beispiel dafür ist das Bestreben des Staates, die Probleme, die mit dem Umgang mit einigen bewußtseinsverändernden Substanzen - den sogenannten illegalen Drogen - zusammenhängen, mittels Strafverfolgung und Zwangstherapie zu lösen.

Unnötigkeit

Die Philosophie der Aufklärung, der politische Liberalismus und der philosophische Utilitarismus wollen die Freiheit des Individuums gegen unnötige und unnötig schwere Eigriffe schützen, indem sie darauf dringen, das Strafrecht auf das absolut notwendige Maß zu beschränken:

  • Cesare Beccaria (1764/1966: 52) "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, sagt der große Montesquieu, ist tyrannisch; ein Satz, der wie folgt sich verallgemeinern läßt: jeder Akt der Herrschaft eines Menschen über einen Menschen, der nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch."
  • Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires.“
  • Mittermaier (1819) sah es als „Grundfehler“ an, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“
  • Franz v. Liszt forderte in seiner Strafzweckslehre Merkmale wie „Notwendigkeit“ als unabdingbare Voraussetzungen der Strafdrohung. „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.).
  • Gustav Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert (Roos 1981: 8 ff.).

Das Ultima-Ratio-Prinzip besagt: Strafrecht darf als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen. Im Jahre 2017 nannte Arthur Kreuzer einige Beispiele, in denen weniger gravierende Mittel gleiche oder bessere Resultate erbringen könnten:

  • Vereins- und Gewerberecht statt Strafrecht: Seit 2015 ist die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" strafbar. "Für den Strafrechtler Henning Rosenau in Halle war der Gesetzesbeschluss "der schwarze Freitag für die Selbstbestimmung am Lebensende in Deutschland". Man glaubte die Zeiten moralisierenden Strafrechts überwunden. Überdies ist die Regelung höchst unbestimmt. Mit Strafverfolgung muss bereits rechnen, wer in Palliativstationen oder Hospizen einen Sterberaum und Sterbebegleitung jemandem zusagt, der sich in einer unerträglichen Krankheitssituation bewusst etwa für das Sterbefasten entscheidet. Sterbebegleiter sehen sich dem Dilemma ausgesetzt: zwischen einer Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe und unterlassener Hilfeleistung. Das politische Ziel, die Palliativmedizin zu stärken, wird in sein Gegenteil verkehrt: In Palliativ- und Hospizarbeit Tätige werden verunsichert. Denunziationen enttäuschter Angehöriger von Verstorbenen sind absehbar, ebenso peinliche und erniedrigende polizeiliche Ermittlungen in den sensiblen intimsten Bereichen des Lebens und Sterbens. Dabei ist vorauszusehen, dass wegen zu erwartender Nachweisprobleme solche Verfahren später eingestellt werden. Die Existenz problematischer Sterbehilfeorganisationen hätte man besser im Vereins- und Gewerberecht unterbinden können" (Kreuzer 2017).
  • Seit 2015 gibt es auch die Strafbarkeit des Eigendopings von Wettbewerbssportlern. Das ist nach Kreuzer (2017) ein Beispiel für Doppelmoral: "Denn der Staat finanziert mit Blick auf nationales Prestige ausgewählte Sporteinrichtungen. Bleiben Erfolge aus, dann auch die Fördermittel. Zugleich will der Staat Doping strafrechtlich bekämpfen. Als ob nicht seit Menschengedenken eine anthropologische Konstante sportlichen Wettkämpfen anhaftete: Doping, Fouls, künstliche Leistungssteigerung. Als ob sich nicht alle Lebenswelten künstlicher Mittel zur Leistungssteigerung bedienten. Illusionär geht es dem Gesetz um eine "Ethik des fairen, sauberen und gesunden Sports" mit "Vorbildfunktion für junge Menschen". Obwohl Sportler selbst klagen: Diese vermeintlich heile Welt des Spitzensports mache "kaputt und krank". - Der Gesetzgeber hat ignoriert, dass sportmoralische Normen ebenso wie die in den Wissenschaften zuvörderst von Fachverbänden erarbeitet und kontrolliert werden können und müssen. Er hat Doping unter Strafe gestellt, obwohl die Strafbarkeit nutzlos ist. Die Regierung hat selbst in einer Anfrage bei allen Nachbarländern, die seit Längerem solche Verbote kennen, erfahren: Nirgendwo ist auch nur ein einziger Sportler wegen Dopings strafrechtlich verurteilt worden. - Sportverbände selbst sind es, die über einzig wirksame Mittel verfügen: Anlasslose Dopingkontrollen – der Polizei wären sie versagt. Die Verbände können Sportler bei Positiv-Befunden sofort ausschließen. Sie können rigide Verbandsstrafen verhängen, Titel aberkennen, Geldsanktionen erlassen, Sportler lebenslang sperren."

Unverhältnismäßigkeit

  • Polizeiliches Ausreiseverbot statt künstlicher Konstruktion von Tatgeschehen durch den Strafgesetzgeber: "Aus dem für Aktionismus besonders anfälligen Strafrecht gegen Terrorismus ist die seit 2015 strafbare "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat" zu nennen. Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden lassen kann, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Sogar der Bundesgerichtshof hat das jüngst als einen "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" bezeichnet. Die Richter konstatierten, es gehe "faktisch um den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung". - Zum Problem wurde, dass Tatgeschehen künstlich konstruiert wird, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen, aber ohne wirkliche Straftat. Damit wird in strafrechtlichem Gewand Gefährderbekämpfung betrieben. Das Recht, so etwas zu tun, hat primär die Polizei, zu deren Aufgaben die Gefahrenabwehr zählt. Ausreiseverbote hätten Vorrang. Deren Verletzung könnte als Straftat geahndet werden. Die bisherigen Regeln münden in ein Gesinnungsstrafrecht, Strafbarkeit verlagert sich weit in das Vorfeld etwaiger Rechtsgüterverletzungen. Hier wie oftmals sonst fehlt die Verhältnismäßigkeit" (Kreuzer 2017).

Deutschland

Geschichte

  • Jugendgerichtsgesetz von 1923: Anhebung der Strafmündigkeitsgrenze von 12 auf 14 Jahre
  • Emminger-Verordnung von 1924: Verbot der Verfolgung geringfügiger Übertretungen, sofern nicht von öffentlichem Interesse
  • Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30. Januar 1946: Aufhebung einzelner Bestimmungen des deutschen Strafrechts wie z.B. §§ 2, 2b, 134b, 226b RStGB
  • Abschaffung der Übertretungen und deren Herabstufung zu Ordnungswidrigkeiten 1975 (teils aber auch Aufwertung zu Vergehen; vgl. Baumann JZ 72, 2ff., Dencker JZ 73, 144 ff.)
  • Streichung oder Einschränkung der §§ 172 a.F.(Ehebruch), 175b a.F. (Unzucht zwischen Männern), 175b a.F. (Widernatürliche Unzucht), 180 a.F. (Kuppelei), 180a I, 181a II (Prostitution)

Initiativen

  • 1989: Konzept zur transformierenden Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte (Beate Kohl & Sebastian Scheerer im Auftrag der Bundesfraktion „Die Grünen“)
  • 1992: Hessische Kommission Kriminalpolitik: Entkriminalisierungsvorschläge zum Straßenverkehrsrecht, zum Betäubungsmittelstrafrecht, zum Eigentums- und Vermögensstrafrecht sowie zum Strafverfahrensrecht
  • 1992: Niedersächsische Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts: Empfehlungen für Maßnahmen der Entkriminalisierung bei Bagatellverstößen gegen Eigentum und Vermögen, bei der Straßenverkehrsordnungsdelinquenz und im Betäubungsmittel-Strafrecht.
  • Ein Vorlageschluss des Landgerichts Lübeck vom 19.12.1991 (NJW 1992, 1571) führte am 9. März 1994 zum sog. Cannabis-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge bei geringfügigen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz durch den Erwerb, Besitz usw. von geringen Mengen von Cannabis zum Eigenverbrauch nach Ermessen der Strafverfolgungsbehörden von einem Strafverfahren abgesehen werden kann. - Die Kritik an diesem Beschluss geht nicht nur auf die Frage ein, ob Cannabiskonsum eher durch eine Freigabe als durch eine generalpräventive Wirkung des Strafrechts vermindert werden kann, sondern auch darauf, ob es überhaupt Aufgabe des Strafrechts sein kann, den Konsum zurückzudrängen oder ob der Staat nicht auf andere Einflussmöglichkeiten beschränkt sei (Problem der Strafwürdigkeit des Verhaltens). Am 21.10. 2010 begann der Deutsche Hanf-Verband DHV die Unterschriftensammlung für eine Petition zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten. Eine Anhörung fand am 25. 01.2012 in Berlin statt.
"Juristen, Suchtexperten und Mediziner sagen übereinstimmend, dass der Eigengebrauch von Cannabis nicht bestraft werden sollte. Bei einer Tagung in Frankfurt hatten Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten eine Entkriminalisierung des Konsums gefordert. So setzte sich die Initiative „Schildower Kreis“ für eine neue Drogenpolitik ein, da der Schwarzmarkt große Risiken berge. Auf der Internetseite des Netzwerkes läuft die „Prohibitionsuhr“, die unter anderem die Kosten der Drogenrepression zählt. Laut Heino Stöver von der FH Frankfurt konsumierten zwölf Prozent der Deutschen im vergangenen Jahr Cannabis aber nur drei Prozent davon seien Gewohnheitskiffer. Auch der Dauergebrauch sei auf niedrigem Niveau stabil und werde durch rechtliche Eingriffe kaum verändert. Ein Vertreter des Bundes Deutscher Kriminalbeamte berichtete, dass 145.000 der 250.000 Drogendelikte auf Cannabis entfielen aber die meisten dieser Verfahren aufgrund geringer Mengen aber eingestellt würden. Es entstünden unnötige Kosten, da Beamte für den Papierkorb arbeiteten. Unterdessen kündigte die Frankfurter Drogendezernentin Rosemarie Heilig ein Modellversuch in der Drogenpolitik an, nach welchem Prävention, Beratung und Therapie vor Repression gestellt werden soll.

"
  • Arthur Kreuzers Aufruf (2017): "Reformiert endlich das Strafrecht""

In einem Kommentar in ZEIT online benannte Kreuzer das symbolische Strafrecht als ein wichtiges Problemfeld, in dem Entkriminalisierungen erforderlich und möglich seien:

  • "Offensichtlichstes Beispiel socher Schaufenstergesetzgebung ist die Strafbarkeit von Pornografie:
Seit 2015 sind sogar versuchter Besitz oder Erwerb von höchst unbestimmt definiertem Posingmaterial strafbar. Es reicht, Pornolinks anzuklicken. Den Aufruf einer solchen Website rückgängig zu machen, befreit nicht von der Strafbarkeit. Hier wird zudem ein massenhaftes Verhalten kriminalisiert. Gerade junge Menschen kann das angesichts weit verbreiteten Sextings – des Verschickens aufreizender Fotos über Messenger – zur Denunziation unliebsamer Bekannter verleiten. Deswegen werden unzählige "Unschuldige ins Visier der Justiz geraten" (FAZ). Das Ganze war eine hektische, untaugliche Reaktion auf die Causa des SPD-Politikers Sebastian Edathy. Die Berliner Strafrechtlerin Tatjana Hörnle rügt einen Rückfall "in Strafrechtsmoralismus und Prüderie". Ähnliches gilt für die 2016 der Vergewaltigung in der Strafbarkeit gleichgestellte Tat sexuellen Handelns "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person". Ein Massendelikt, das voraussehbar zwar manche Betroffene, leider auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Folgenlose Verfahrenseinstellungen sind zu erwarten. Verurteilungsquoten bei Sexualdelikten werden weiter sinken. - Frauenverbände werden erst recht rügen, die Justiz nehme solches Verhalten nicht ernst. Indes lässt die bekannte Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nichts anderes zu. Die Kieler Strafrechtlerin Monika Frommel bringt es auf die Formel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." Das Gewaltschutzgesetz bietet sinnvolle Ansätze."
  • Ähnlich verhalte es sich mit dem Phänomen populistischer Strafrechtsausweitung etwa im Fall der Verschärfung des Straftatbestands eines Einbruchs in Privatwohnungen:
"Seit Mitte 2017 ist es ein Verbrechen mit Mindeststrafe von einem Jahr. "Minder schwere Fälle" mit herabgesetzter Strafe sind gestrichen. - Entgegen kriminologischen Erkenntnissen wurde suggeriert, es handele sich vornehmlich um organisierte Taten. Tatsächlich spielt sich vieles im Nahraum ab, wenn etwa ehemalige Partner, Angestellte oder Nachbarn in die Wohnung einsteigen, um sich vermeintlich Ihnen Zustehendes zurückzuholen. - Jetzt aber drohen Übermaßstrafen, die das Verfassungsgericht auf den Plan rufen werden, oder Umgehungsstrategien in der Justiz provozieren. Obendrein widerspricht die Regelung der Gesetzessystematik: Jeder Verbrechenstatbestand sieht "minder schwere Fälle" vor, weil es solche erfahrungsgemäß immer geben kann. Sie widerspricht sogar eklatant dem noch schwereren Tatbestand bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls. Dafür gibt es weiterhin "minder schwere Fälle" mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten.

Seine Forderungen:

  1. Reform der Tötungsdelikte. Zumindest müsste das im Mordtatbestand verfassungswidrig als zwingend vorgesehene Lebenslang gelockert werden.
  2. Entkriminalisierung ist angebracht bei Massenbagatelldelikten wie dem Hinterziehen von Fahrgeld. Das Schwarzfahren ist zur Ordnungswidrigkeit abzustufen.
  3. Der Strafvollzug ist zu entlasten von denen, die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen, weil sie ihre Geldstrafen nicht zahlen können. Hier und für andere kurze Freiheitsstrafen bietet sich gemeinnützige Arbeit als Hauptstrafe an.
  4. Die therapieorientierten, entkriminalisierenden Modelle im Betäubungsmittelstrafrecht sind nach ausländischen Vorbildern auszubauen. So müssen gesetzliche Hindernisse für das drug checking beseitigt werden. Dadurch würde allen Betroffenen anonym die Prüfung vorgefundenen oder erworbenen Stoffs ermöglicht. Desgleichen sind Substitutionsprogramme in und außerhalb der Haft sowie in Unterbringungseinrichtungen aufzubauen oder auszuweiten.

Als flankierende Maßnahmen schlägt Kreuzer zudem vor:

  • Einrichtung von Landesopfer- und Landespflegebeauftragten mit bundesgesetzlich verankertem Zeugnisverweigerungsrecht
  • Einrichtung einer Expertenkommission zur Reform des Strafrechts und
  • Wiederbelebung der Einrichtung des Periodischen Sicherheitsberichts zur Fundierung gesetzgeberischer Entscheidungen.

Entkriminalisierung und Entrümpelung: eine To-Do-Liste

In Zeiten wie diesen fällt es schwer zu glauben, dass es einmal einen Justizminister namens Gustav Radbruch gab (genaugenommen sogar zweimal), der sich nicht auf die Fahnen geschrieben hatte, auf jeden spektakulären Fall und auf jede medial verstärkte öffentliche Empörung mit kriminalisierenden Scheinlösungen zu reagieren und damit das Strafrecht inflationär auszuweiten - einen Justizminister, der offensiv für das eintrat, was er negative Kriminalpolitik nannte und womit er ausdrücklich gesetzgeberische Abmilderungen und Verkleinerungen des Strafrechts meinte - kurzum: einen wahrhaftigen "Abbau des Strafrechts".

Wie könnte ein Abbau des Strafrechts heute aussehen? Dazu folgende Thesen aus der Sicht eines liberalen, aber auch nach sozialer Gerechtigkeit strebenden Strafrechts:

  1. Zunächst ist in Angriff zu nehmen, was schon lange diskutiert, aber bislang liegen gelassen wurde. Dazu hat Arthur Kreuzer (2017) in seinem in der ZEIT veröffentlichten Aufruf unter dem Titel "Reformiert endlich das Strafrecht" alles Nötige gesagt - und alles, was er da fordert, ist überfällig: erstens die Reform der Tötungsdelikte, wo zumindest das verfassungswidrig zwingende Lebenslang zu lockern wäre (in Wirklichkeit gibt es da noch viel mehr zu tun: siehe AE Leben und Monika Frommels Kritik des § 219a - Verbot des 'Anbietens' von Diensten für den Schwangerschaftsabbruch), zweitens die Entkriminalisierung von Massenbagatelldelikten, inbesondere die Herabstufung des Schwarzfahrens zur Ordnungswidrigkeit; damit im Zusammenhang steht drittens die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen nach dem Vorbild von Dänemark, Frankreich und Schweden - zumindest wäre in einem ersten Schritt Modellprojekt, wie es jüngst von Johannes Feest wieder vorgeschlagen wurde, durchzuführen. Viertens sind kleinste Verbesserungen im Drogenrecht dringend notwendig - wie die Legalisierung des drug checking, damit Konsumenten wissen, was sie konsumieren, aber auch der Aufbau und die Ausweitung von Substitutions- und/oder Erhaltungsprogrammen innerhalb und außerhalb der Haft. - Doch all das genügt natürlich nicht, auch wenn man hinzunimmt, was Kreuzer begleitend fordert, wie die Einsetzung einer Expertenkommission zur Überarbeitung des Strafrechts, die Wiederbelebung des sog. Periodischen Sicherheitsberichts und die Einführung von Landes-Opfer- und Landes-Pflege-Beauftragten mit Zeugnisverweigerungsrecht.
  2. Sodann sind die jüngeren legislativen Verstöße gegen das Ultima-Ratio-Prinzip, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Bestimmtheitsgebot schleunigst rückgängig zu machen. Auch dazu hat sich Arthur Kreuzer (2017) geäußert. Wo das Vereins- und Gewerberecht besser geeignet sind als das Strafrecht, hat das Strafrecht zurückzutreten. Deswegen ist nicht nur die seit 2015 bestehende Strafbarkeit der "geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" zurückzunehmen und die Selbstbestimmung am Lebensende erneut zum Thema zu machen (man glaubte doch die Zeiten moralisierenden Strafrechts überwunden! Unerträglich ist zudem die Unbestimmtheit der Regelung: eventuell macht sich ja schon strafbar, wer in Palliativstationen oder Hospizen einen Sterberaum und Sterbebegleitung jemandem zusagt, der sich in einer unerträglichen Krankheitssituation bewusst etwa für das Sterbefasten entscheidet. Sterbebegleiter sehen sich dem Dilemma ausgesetzt: zwischen einer Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe und unterlassener Hilfeleistung. Das politische Ziel, die Palliativmedizin zu stärken, wird in sein Gegenteil verkehrt: In Palliativ- und Hospizarbeit Tätige werden verunsichert. Denunziationen enttäuschter Angehöriger von Verstorbenen sind absehbar, ebenso peinliche und erniedrigende polizeiliche Ermittlungen in den sensiblen intimsten Bereichen des Lebens und Sterbens. Dabei ist vorauszusehen, dass wegen zu erwartender Nachweisprobleme solche Verfahren später eingestellt werden." - Wo Fachverbände die geeigneten und erforderlichen Mittel haben, um gegen Eigendoping vorzugehen, da braucht es auch die seit 2015 existierende Strafbarkeit des Eigendopings von Wettbewerbssportlern nicht. - Schließlich ist es rechtsstaatlich geboten, die künstliche Konstruktion von Tatgeschehen zurückzunehmen, wie sie mit dem Tatbestand der seit 2015 kriminalisierten "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat" erfolgte. Statt der Kriminalisierung des Versuchs der Vorbereitung zur Vorbereitung einer (vorgeblich) staatsgefährdenden Handlung hätte man es bei einem polizeilichen Ausreiseverbot belassen können. Strafverfolgung und Freiheitsentzug ohne Straftat - das passt nicht in einen demokratischen Rechtsstaat. - Besondere Beachtung verdient hier das jüngste Zensurgesetz des Bundesjustizministers Maas, auch Netzwerkdurchsetzungsgesetz genannt. Im vergangenen Sommer mit symbolischer Bedeutung im Kampf gegen rechts aufgeladen und ohne nennenswerte Kritik durch die Legislative geschleust, bedroht es nicht nur Twitter, Facebook und andere mit saftigen Strafen, wenn sie "offensichtlich rechtswidrige Inhalte" nicht binnen 24 Stunden löschen, es bedroht vor allem die Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, wie der erwartbare Skandal am ersten Tag nach seinem Inkrafttreten (um eine gelöschte Titanic-Satire) offenbarte. Historisch bewanderte Beobachter kann es das Fürchten lehren, wenn sie sehen, wie hemmungslos hier offenbar von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, anonym mit einem Mausklick Meinungsäußerungen zu denunzieren und damit kaum noch kontrollierbare zensurartige Lösch-Wellen auslösen, die unter Rechtsstaaten ihresgleichen suchen. Dass dabei ganze Bereiche kritischer Politik-Kommentierung im Netz in den Geruch der Illegitimität geraten, ist schlimm und sollte von niemadem, dem der Rechtsstaat etwas wert ist, auch nur billigend in Kauf genommen werden. Man denke hier etwa an die pauschale Verdächtigung von Kritikern der israelischen Besatzungspolitik als verkappte Antisemiten und die skandalösen Kündigungen von Bankkonten jüdischer Bürger, die sich für einen gerechten Frieden in Nahost einsetzen (Feest 2018).
  3. Entkriminalisierung bedeutet Rückkehr zum Rechtsgüterschutz und das wiederum bedeutet Verzicht auf strafrechtlichen Schutz vor sich selbst. Nichts anderes aber versucht das heutige Betäubungsmittelrecht im Namen des politischen Ziels (das fälschlich als Rechtsgut ausgegeben wird) der Volksgesundheit. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Jedenfalls geht es bei der Entkriminalisierung nicht um Zwangstherapie und auch nicht nur um die Zulassung medical marihuana, sondern um die Rückbesinnung auf das Selbstbestimmungsrecht erwachsener Bürger in Bezug auf ihr Entspannungs- und Freizeitverhalten, also um das Recht auf recreational use, bzw. adult use. - Die lanjährige Stagnation der Drogenpolitik in Deutschland hat den Vorteil, dass wir uns inzwischen nur umschauen müssen, um nachahmenswerte Modell der Entkriminallsierung zu finden. In einem ersten Schritt können wir uns mit Entkriminalisierung der Konsumsphäre bei weiterbestehender Prohibition befassen (soft prohibition). Also mit einer Art De-Radikalisierung der Prohibition à la Portugal oder Holland. - In Portugal hat man mit der Herabstufung der Konsumsphären-Tatbestände zu Ordnungswidrigkeiten gute Erfahrungen gemacht. Seit 2001 spricht das Drogenrecht in Portugal ausdrücklich vom Primat der Entkriminalisierung, obwohl Drogenschmuggel und -handel weiterhin streng bestraft werden. Die Bevölkerung ist aber mit der neuen Regelung zufrieden. Überdosis-Todesfälle und Geschlechtskrankheiten sind zurückgegangen, während der Drogengebrauch insgesamt stagnierte oder sogar rückläufig war. Glenn Greenwald bezeichnete die Reform als "resounding success" und wichtig für drogenpolitische Debatten auf der ganzen Welt. - Die faktische Entkriminalisierung von Cannabis in Holland, wo Erwachsene bis zu sechs Cannabispflanzen für den Eigengebrauch aufziehen dürfen und wo der Verkauf von Cannabis in sog. Coffeeshops toleriert wird, solange diese Läden von der jeweiligen Gemeinde erlaubt und mindestens 250 m von der nächsten Schule entfernt liegen und die fünf Bedingungen erfüllen (1) keine Werbung zu betreiben, (2) keine harten Drogen zu tolerieren, (3) nicht an Kunden unter 18 Jahren zu verkaufen, (4) Ruhe und Ordnung in der Nachbarschaft zu respektieren, (5) nicht mehr als 5 g pro Kunde zu verkaufen und nicht mehr als 500g auf Lager zu haben, respektiert das Recht erwachsener Bürger auf legalen Zugang zu ihrem Genussmittel und ist ein gutes Beispiel für eine pragmatische Lösung. Allerdings bedarf die Frage des Anbaus und der Lieferung an die Coffeeshops noch der Lösung. - Wie so eine Lösung aussehen könnte, zeigen Uruguay und Kalifornien. In beiden Staaten ist Cannabis nicht nur auf der Konsumentenseite, sondern auch in Bezug auf Anbau und Vertrieb legalisiert. Das bedeutet keine liberale Regulation (vergleichbar mit der Alkoholpolitik in Deutschland), aber auch die restriktive Regulation mit staatlichen Anbaulizenzen und peniblen Kontrollen ist eine echte Entkriminalisierung, die anzusehen und nachzuahmen sich lohnen würde. - Das Gesetz vom 10.12.2013 reguliert Cannabis in Uruguay und erlaubt (1) den Kauf von (pro Person und Monat) bis zu 40 Gramm Marihuana in Apotheken, (2) den nicht-kommerziellen Anbau von bis zu sechs Cannabis-Pflanzen pro Person (bzw. von bis zu 99 Pflanzen für Marihuana-Clubs mit 15 bis 45 Mitgliedern). Bis Mitte 2017 hatten sich ca. 7000 Personen in das entsprechende amtliche Register eintragen lassen (NYT 19.7.2017), (3) den kommerziellen Anbau nach Lizenzvergabe durch die Regierung (bis Mitte 2017 hatten zwei Unternehmen entsprechende Lizenzen erhalten; der Anbau erfolgt auf militärischem Gelände ohne Zugang für die Öffentlichkeit), (4) seit Mitte Juli 2017 den Apothekenverkauf an registrierte Konsumenten; nur 16 Apotheken sind beteiligt (Mitte 2017), keine größere Apothekenkette. Grund: ökonomisch, gelegentlich auch politisch. Nur 5000 registrierte Konsumenten für den Apothekenkauf (von 3,5 Mio. Einwohnern). Hohe Sicherheitsanforderungen kosten viel Geld. Die 5-Gramm-Päckchen (vier Sorten) kosten ca. $ 6,60 (€ 5). - Es unterwirft Cannabis aber auch gewissen Restriktionen: (1) Anbau und Handel werden von einer staatlichen Kommission kontrolliert, um die Einschleusung von illegal angebautem Marihuana in den legalen Markt zu verhindern, (2) Konsumenten müssen sich in ein Register eintragen, (3) Minderjährige und Ausländer erhalten durch das Gesetz keinen legalen Zugang zu Marihuana. - Ähnlich verhält es sich seit 2018 mit Cannabis in Kalifornien. Dort darf jeder Bürger des Bundesstaates ab 21 Jahren bis zu 28,3 Gramm Cannabis (pro Monat) kaufen und bis zu sechs Pflanzen selbst anbauen. Konsum in der Öffentlichkeit sowie innerhalb von 1000 feet (300 m) von einer Schule ist ebenso verboten wie Autofahren unter dem Einfluss von Cannabis. Handel ist nur mit Lizenz des Bundesstaates und der Kommune erlaubt. Kommunen können sich auch ganz verweigern. Die Steuern sind mit 35% recht hoch. Pro Jahr wird in Kalifornien mit einem Cannabis-Steuer-Aufkommen von rund 1 Milliarde Dollar gerechnet. Insgesamt ist der kalifornische Marihuana-Markt alleine für die Jahre 2018-2021 laut der Firma Arcview geschätzte 40 Milliarden Dollar wert. - Trotz weiterbestehenden Prohibitionsgesetzes auf Bundesebene verfolgen aufgrund von Volksabstimmungen acht Bundesstaaten ihre eigene Regulationspolitik. Legalisierende Entkriminalisierungen fanden statt in Colorado, Washington, Oregon, Alaska, Maine, Massachusetts, Nevada und Kalifornien. In diesen acht Staaten gibt es sowohl "medical marihuana" (auf Rezept) als auch "recreational" marihuana "for adult use" ohne Rezept in dafür lizensierten Verkaufsstellen. - Regulation ist der Prohibition aber auch bei anderen Drogen überlegen. Die Beschränkung auf eine Cannabis-Reform darf insofern nicht das letzte Wort sein. Und die Beschränkung auf die Konsumsphäre natürlich sowieso nicht. Letztlich wäre mit Douglas Husak und Henner Hess an eine Angleichung der Drogenpolitik an die Zigarettenpolitik zu denken: Aufklärung über die Risiken, restriktive Gesetzgebung, aber Beibehaltung legalen Zugangs für diejenigen, die es unbedingt wollen.
  4. Eigentums- und Vermögensdelikte: Erster Schritt wäre die Rücknahme der Strafverschärfung von 2017 beim Tatbestand des Einbruchs in Privatwohnungen. Aus dem Verbrechen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr ist wieder ein Vergehen zu machen; auch ist der eklatante Widerspruch zum bandenmäßigen Einbruchsdiebstahl (wo es weiterhin die minder schweren Fälle mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten gibt) durch Wiedereinführung des minder schweren Falles zu beseitigen. Zweiter Schritt wäre die Herabstufung der Massenbagatelldelinquenz in diesem Bereich zu Ordnungswidrigkeiten.
  5. Sexualdelikte. Bloß moralwidriges Handeln, das nicht auch sozialschädlich ist, ist nicht strafwürdig. Schon Gustav Radbruch hatte gefordert, bloße Moralverstöße aus dem Strafrecht zu eliminieren, also die Tatbestände des Ehebruchs, der Sodomie, der einfachen Homosexualität und der sogenannten Verlobtenkuppelei, und nach einem halben Jahrhundert hatte das dann auch funktioniert. Dann die Frage, ob das Gewicht der Handlung tatsächlich eine Reaktion mit einer Kriminalstrafe als unverzichtbar erscheinen lässt. Dass das heutige Sexualstrafrecht nach Radbruch'schen Kriterien kritisch durchzumustern ist insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs des Verwaltungsrechts, steht außer Frage. Erneut auf die Tagesordnung gehört auch die freiheitliche und die Freiheit aller Beteiligten schützende Regulierung der Prostitution - vor allem auf dem Wege des Gewerberechts. Monika Frommel meint: "zurück zum alten Recht des § 177, nur § 177 Abs. 1 Nr. 3 etwas weiter fassen, damit die dusselige Rechtsprechung zu den Überrumpelungsfällen entfällt und diese Konstellation gut erfasst wird. Die Missbrauchsfälle (etwa von Jugendlichen) im Neuen Recht 2016 sind akzeptabel. - Die sog. Freierbestrafung muss weg."
  6. Kritischer Durchsicht bedürfen auch die Tatbestände im Bereich der sog. organisierten Kriminalität, im Transplantationsgesetz und in anderen Bereichen des Nebenstrafrechts.
  7. Restorative Justice statt Strafprozess.

Weblinks und Literatur

  • Albrecht, Peter-Alexis/Beckmann, Heinrich/Frommel, Monika/Goy, Alexandra/Grünwald, Gerald/Hannover, Heinrich/ Holtfort, Werner/Ostedorf, Heribert (1992): Strafrecht – ultima ratio, Empfehlungen der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft
  • Albrecht, Peter-Alexis/Hassemer, Winfried/Voß, Michael (1992): Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung, Vorschläge der Hessischen Kommission „Kriminalpolitik“ zur Reform des Strafrechts. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft
  • Brusten, Manfred/Herriger, Norbert/Malinowski, Peter (Hrsg.) (1985): Entkriminalisierung, Sozialwissenschaftliche Analysen zu neuen Formen der Kriminalpolitik. Opladen: Westdeutscher Verlag
  • Council of Europe (1980): Report on Decriminalisation. Strasbourg
  • Entkriminalisierung in: de.wikipedia
  • Kohl, Beate/Scheerer, Sebastian (1989): Zur Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte. Aachen: Buch- und Zeitschriftenverlag Hubertus Wetzler
  • Kriminalisierung in: de.wikipedia
  • Naucke, Wolfgang (1984): Über deklatorische, scheinbare und wirkliche Entkriminalisierung. In: Naucke, Wolfgang (1999): Gesetzlichkeit und Kriminalität: Abhandlungen zum Strafrecht und zum Strafprozeßrecht. (Juristische Abhandlungen; Bd. 34) Frankfurt/M.: Klostermann, Abschnitt VII. (S. 154-176)
  • Neumann, Ulfrid (2004) Gustav Radbruchs Beitrag zur Strafrechtsreform, Kritische Justiz: 432 ff.
  • Petition
  • Reindl, Richard/Kawamura, Gabriele/Nickolai, Werner (Hrsg.) (1995): Prävention, Entkriminalisierung, Sozialarbeit. Alternativen zur Strafverschärfung.Freiburg i. Breisgau: Lambertus-Verlag
  • Roos, Gerhard (1981): Entkriminalisierungstendenzen im Besonderen Teil des Strafrechts. Frankfurt/M.: Verlag Peter Lang
  • Ruf nach schneller Entkriminalisierung (2014) Cannabis
  • Schäfer, Christian (2006) "Widernatürliche Unzucht" (§§ 175, 175a, 175b, 182 a.F. StGB) Reformdiskussion und Gesetzgebung. Berlin: BWV.
  • Steinert, Heinz (1993): Alternativen zum Strafrecht. In: In: Kaiser, Günther/Kerner, Hans-Jürgen/Sack, Fritz/Schellhoss, Hartmut (Hrsg.) (1993 3): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. Heidelberg: C. F. Müller Juristischer Verlag GmbH, (S. 9-14)
  • Thomas Vormbaum (2011(1983)), Beiträge zum Strafrecht und zur Strafrechtspolitik, Berlin; LIT Verlag Dr. W. Hopf

Siehe auch