Netzwerkdurchsetzungsgesetz

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Das deutsche Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz/NetzDG), dass auch als Netzwerkgesetz, als Gesetz zur Bekämpfung von Hasskommentaren in sozialen Netzwerken des Internets oder einfach als Facebook-Gesetz bezeichnet wird, findet sich als Artikel 1 in dem Mantelgesetz desselben amtlichen Namens, dessen Art. 2 auch eine Änderung des Telemediengesetzes (TMG) enthält, die nicht nur soziale Netzwerke betrifft. Seit dem 1.1.2018 verpflichtet es Facebook, Twitter, YouTube und andere soziale Netzwerke mit mindestens zwei Millionen in Deutschland registrierten Nutzern, rechtswidrige Beiträge innerhalb kurzer Fristen zu löschen oder Nutzer zu sperren. Nichtbefolgung kann mit Bußgeldern bis zu 50 Millionen Euro geahndet werden. Schon am 8.1.2018 lagen laut dem Deutschen Jorunalisten-Verband (DJV) so viele "verheerende Erfahrungen" mit exzessiven Löschungen - dem schon während des Gesetzgebungsverfahren befürchteten Overblocking - vor, dass der Verband den Bundestag aufforderte, das Gesetz zurückzuziehen. Unter anderem war der Twitter-Account der Satirezeitschrift "Titanic" blockiert worden, nachdem dort ein Eintrag veröffentlicht worden war, in dem das Wort 'Barbarenhorden' vorkam. Dabei hatte es sich um eine Reaktion auf den Tweet einer Politikerin gehandelt, der zur Sperrung auch schon von deren Account geführt hatte. Demgegenüber hatte die Bundesregierung immer wieder den hohen Wert der Meinungsfreiheit und ihre Absicht betont, mit dem Gesetzeswerk eine "freie, offene und demokratische Kommunikationskultur" gewährleisten zu wollen.

Inhalt

Geltungsbereich: Das Gesetz schafft nach der (von manchen Seiten bezweifelten) Darstellung des Bundesjustizministeriums keine neuen Löschpflichten. Es soll nur sicherstellen, dass bereits bestehendes Recht eingehalten und durchgesetzt wird. Unabhängig vom NetzDG bleibt es dabei, dass von Polizei und Staatsanwaltschaft strafrechtlich verfolgt wird, wer strafbare Inhalte im Netz verbreitet. - Das Gesetz gilt nicht für E-Mail- und Messenger-Dienste, berufliche Netzwerke, Fachportale, Online-Spiele und Verkaufsplattformen. Start-up-Unternehmen sollen durch das Gesetz nach Möglichkeit nicht in ihrer Entwicklung behindert werden. Zum Straftatenkatalog, anhand dessen Löschungen oder Sperrungen vorzunehmen sind, gehört u.a. der Tatbestand der „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen“ (§ 201a StGB). Zu löschen ist jedes Foto, das "geeignet ist, dem Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu schaden“.

Pflichten:

  1. Offensichtlich rechtswidrige Inhalte müssen von den Unternehmen innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde gelöscht (bzw. die entsprechenden Nutzer müssen gesperrt) werden
  2. Schwierige Fälle eröffnen in der Regel eine 7-Tages-Frist
  3. In besonders schwierigen Fällen kann die 7-Tages-Frist überschritten werden. Es sollen dann neben dem objektiven Straftatbestand auch mögliche Rechtfertigungsgründe und der Kontext einer Äußerung in die Überprüfung einbezogen werden („Wenn die Bewertung vom Kontext abhängt, soll der Nutzer Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten"). Die Wochenfrist kann also überschritten werden, wenn
neben dem objektiven Straftatbestand auch mögliche Rechtfertigungsgründe berücksichtigt werden sollen und/oder
eine Prüfung im Rahmen der sogenannten regulierten Selbstregulierung erfolgen soll.

Regulierte Selbstregulierung: Die Unternehmen können die Entscheidung über nicht offensichtlich rechtswidrige Inhalte an eine Art freiwillige Selbstkontrolle abgeben. Eine solche „anerkannte Einrichtung der regulierten Selbstregulierung“ muss staatlich zugelassen und vom Bundesamt für Justiz überwacht werden, wird aber von den Privatfirmen selbst gegründet, ausgestattet, finanziert und betrieben. (Vorbild: Jugendmedienschutz bzw. die "Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter FSM). Das soll nach Eva Högl (SPD) sowohl Overblocking als auch die Privatisierung der Rechtsdurchsetzung verhindern. - Geht ein Unternehmen den Weg der regulierten Selbstregulierung, obwohl die Rechtswidrigkeit „offensichtlich“ war, droht ihm ein Bußgeld. Das gilt natürlich nicht, wenn die angerufene "anerkannte Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung" dann doch die Rechtmäßigkeit des betreffenden Inhalts feststellt (die Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit also nach Ansicht der Einrichtung doch nicht gegeben war).

Zustellungsbevollmächtigte: Unternehmen müssen einen Ansprechpartner in Deutschland für Justiz, Strafverfolger und Bußgeldbehörden sowie Bürger benennen, an den sich die genannten Institutionen und Personen wenden können. Dieser Zustellungsbevollmächtigte muss binnen 48 Stunden auf Anfragen und Beschwerden reagieren. Unzufriedene Nutzer können sich an das Bundesamt für Justiz wenden, das seinerseits Bußgelder verhängen kann.

Rechte der von Postings Geschädigten: Opfer von Beleidigungen und Verleumdungen auf Twitter usw. können direkt gegen die Urheber dieser Aussagen vorgehen. Sie haben das Recht, bei schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzungen eine gerichtliche Anordnung auf Herausgabe der Identitätsdaten des vermeintlichen Täters zu erwirken. Die Veröffentlichungspflicht und die konkreten Fristen sollen vermeiden, dass die durch beleidigende Posts Geschädigten langwierige Verfahren in Kauf nehmen müssen, um überhaupt die Zustellung ihrer Klage zu erreichen.

Rechte der von Löschung/Sperrung Betroffenen: Wer gegen eine Löschung oder Sperrung seiner Inhalte oder seines Kontos vorgehen will, findet im NetzDG keine Möglichkeit. Es bleibt nur eine Klage gegen das jeweilige Unternehmen. Die ursprünglich vom Bundesrat geforderte Clearingstelle für Beschwerden über voreilig gelöschte legale Inhalte wurde nicht in den Gesetzestext aufgenommen.

Sanktionen: Systematische Missachtung des Gesetzes und/oder die Weigerung eines Unternehmens, ein effektives Beschwerdemanagement einzuführen, können zu Bußgeldern bis zu € 50 Millionen führen.

Gesetzgebungsverfahren

Justizminister Heiko Maas reagierte mit dem Gesetzentwurf auf Meldungen über die Rolle von "fake news" im US-amerikanischen Wahlkampf von 2016 und auf vorgebliche, von juristischen Laien beklagte Probleme bei der Löschung von (nach ihrer Bewertung: strafbaren) Inhalten in sozialen Netzwerken.

Bei der Beratung im Bundestag 2017 warnte Petra Sitte (Linkspartei) vor einem schweren Kollateralschaden für die Meinungsfreiheit. Konstantin von Notz (Die Grünen) warnte davor, die großen Netzwerkanbieter in eine Richterrolle zu drängen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hielt den Entwurf für europarechtswidrig.

Schon im März 2017 gab es harte Krtik am Gesetzentwurf:

  • Die Youtube-Chefin warnte, dass „legitime Stimmen unterdrückt werden könnten“.
  • Der Verband der Internetwirtschaft eco wunderte sich, dass der Straftatenkatalog des Gesetzes Tatbestände enthalten sollte, die nichts mit Hate Speech und Fake News zu haben und bei denen „bis jetzt keine Kritik an der Rechtsdurchsetzung bei eben diesen geäußert wurde, wie auch der aktuelle Löschbericht der Bundesregierung unterstreicht“.
  • Die Deutsche Gesellschaft für Recht und Informatik (DGRI) bemängelte einen Zeitplan, der für ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren in einem grundrechtssensiblen Bereich nicht ausreiche. Der Entwurf stoße auf schwerwiegende europarechtliche, verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Einwände. Die umfangreiche Pflichtenübertragung auf die Anbieter sozialer Netzwerke werfe als Privatisierung der Rechtsdurchsetzung erhebliche verfassungsrechtliche Probleme auf. Die Konstruktion stelle einen Fehlanreiz für die Unternehmen dar, Inhalte auf jede Meldung hin ohne Prüfung zu sperren: warum sollte sich ein privates Unternehmen dem Risiko eines Bußgeldes aussetzen? Für Personen, die andere Personen schädigen wollten, werde ein starker Anreiz zum Löschantrag gesetzt, da sie hier in kurzen Fristen und ohne rechtliches und finanzielles Risiko ihr Ziel ohne eine langwierige und schwierige Auseinandersetzung mit ungewissem Ausgang erreichen können. -- Das rechtliche Gehör des sich Äußernden bleibe dabei auf der Strecke. Vom zivilrechtlichen Auskunftsanspruch werde zudem ein Einschüchterungseffekt ausgehen. Nicht umsonst verpflichtet das Telemediengesetz die Diensteanbieter, die Nutzung von Telemedien anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen, soweit dies technisch möglich und zumutbar ist. Diese Norm ist eine Konkretisierung des Datenvermeidungsgebots und Ausfluss des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung der Nutzer. Die Verpflichtung, sich namentlich zu einer bestimmten Meinung zu bekennen, beinhalte zudem das Risiko, dass der Einzelne aus Furcht vor Repressalien oder sonstigen negativen Auswirkungen auf die Äußerung seiner Meinung verzichtet.

Die Digitale Gesellschaft kritisierte, dass

  • die Erweiterung des vom NetzDG erfassten rechtswidrigen Inhalte deutlich über die ursprüngliche Zielsetzung hinausgehe (nämlich den Schutz des öffentlichen Diskurses in sozialen Netzwerken)
  • durch die Änderung des Telemediengesetzes (TMG) Privatpersonen in die Lage versetzt werden, z.B. unter dem Vorwand einer Persönlichkeitsrechtsverletzung Zugriff auf die persönlichen Daten anderer Nutzer zu erhalten (Bestands- und Nutzungsdaten). Derlei berge enorme Missbrauchsrisiken und könne dazu eingesetzt werden, unliebsame Kritiker oder politische Gegner aufzudecken und einzuschüchtern. Nicht zuletzt könnten Online-Stalker über das Auskunftsrecht die Bestandsdaten ihrer Opfer bei den Telemediendienstanbietern abfragen
  • die juristische Prüfungsverantwortung auf die Unternehmen abgewälzt werde: Die Beurteilung eines Inhalts oder einer Äußerung als strafbar obliegt in einem demokratischen Rechtsstaat den Gerichten und Strafverfolgungsbehörden. Die Mitarbeiter bei sozialen Netzwerken und anderen Online-Diensten dürften mit derartigen Prüfungen in der Regel überfordert sein. Dies gilt umso mehr, als dass insbesondere die geplante Auskunftsbefugnis im TMG für sämtliche Diensteanbieter und nicht nur für soziale Netzwerke mit mindestens 2 Millionen Nutzern im Inland gelten soll. Eine derart breitflächige Privatisierung der Rechtsdurchsetzung unterminiert rechtsstaatliche Garantien und geht im Ergebnis zu Lasten der Grundrechte. In beiden nun vorliegenden Entwurfsfassungen würde das NetzDG öffentliche Diskursräume im Netz daher deutlich mehr schaden als nützen.

Als Mitglied der Task Force des Justizministeriums gegen Hate Speech kritisierte die Amadeu-Antonio-Stiftung:

  • die Löschfrist von 24 Stunden sei kein Beitrag zur qualitativen Verbesserung der Behandlung von Hate Speech seitens der Betreiber und führe zu einer Einschränkung der Meinungsfreiheit. Im Zweifelsfall werden Betreiber Inhalte eher löschen; dies hat damit eine faktische Einschränkung der Meinungsfreiheit zur Konsequenz. Derlei Einschränkungen sind auf Grund des hohen Wertes der Meinungsäußerungsfreiheit abzulehnen. Dies ist weder im Sinne einer zu fördernden Diskussionskultur noch ein hilfreicher Beitrag zur Lösung des Problems Hate Speech. - Das NetzDG würde die Betreiber verpflichten, ein erweitertes Exekutivorgan zu werden. Rechtsprechung und -durchsetzung müssen jedoch staatliche Aufgabe bleiben und bedürfen sorgfältiger Prüfung. -Der Gesetzentwurf sei einseitig. - Die Einführung einer Kontaktstelle bei den sozialen Netzwerken und eine wirksame Strafverfolgung hatte jüngst auch Ulf Buermeyer, Richter am Landgericht Berlin, in einem Beitrag in der Legal Tribune Online gefordert.- Diametral gegen Zielsetzung der E-Commerce-Richtlinie- Neben den zahlreichen verfassungsrechtlichen und grundrechtlichen Fragestellungen, scheint der Gesetzentwurf auch europarechtlich Probleme zu machen. Thomas Hoeren, Professor an der Universität Münster, stellt in einem Blogbeitrag fest, „dass eine substantielle Auseinandersetzung mit den europarechtlichen Vorgaben im Bereich der ‚Dienste der Informationsgesellschaft‘ nicht stattgefunden hat“. Zudem seien wesentliche Aussagen der E-Commerce-Richtlinie verkannt worden. So laufe der Entwurf in der derzeitigen Fassung der Zielsetzung der E-Commerce-Richtlinie, eine Fragmentierung des Binnenmarktes zu verhindern, diametral entgegen.

Facebook erklärte in einer Ende Mai an den Bundestag übermittelten Stellungnahme:

„Der Rechtsstaat darf die eigenen Versäumnisse und die Verantwortung nicht auf private Unternehmen abwälzen. Die Verhinderung und Bekämpfung von Hate Speech und Falschmeldungen ist eine öffentliche Aufgabe, der sich der Staat nicht entziehen darf.“ Facebook forderte in der Stellungnahme eine europäische Lösung und warnt vor einem „nationalen Alleingang“. In der Stellungnahme hieß es: „Die Höhe der Bußgelder steht außer Verhältnis zu dem sanktionierten Verhalten“. Der Branchenverband Bitkom hatte in einer Studie Kosten von rund 530 Millionen Euro pro Jahr errechnet, die Facebook und andere soziale Netzwerke tragen müssten.

David Kaye, Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen für den Schutz der Meinungsfreiheit, kritisierte im Juni 2017:

  • Die Regelungen seien mit internationalen Menschenrechtserklärungen wie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte nicht vereinbar. - Online-Anbieter müssten Informationen teils aufgrund „vager und mehrdeutiger“ Kriterien löschen. Viele Informationen seien nur aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen, den Plattformen nicht selbst bewerten könnten. Durch hohe Bußgelddrohungen und kurze Prüffristen würden Betreiber geradezu genötigt, auch potenziell rechtmäßige Inhalte zu löschen, was zu unangemessenen Eingriffen in Meinungsfreiheit und Privatsphäre führen würde, über die mindestens Gerichte oder unabhängige Institutionen entscheiden müssten
  • Artikel 19 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte garantiere das Recht auf freien Zugang zu Informationen und das Teilen von Informationen. Die Einschränkung dieser Rechte auf Basis vage definierter Begriffe wie „Beleidigung“ oder „Diffamierung“ sei damit nicht zu vereinbaren. - Die staatliche Überwachung Betroffener werde durch die zeitlich unbestimmten Speicher- und Dokumentationspflichten ebenso unzulässig erleichtert

Bei der Anhörung im Deutschen Bundestag brachten acht von zehn geladenen Experten erhebliche Bedenken zum Ausdruck. Die meisten sahen eine Gefahr für die Meinungsfreiheit.Der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen Christian Mihr warnte, die Methoden erinnerten an autokratische Staaten. Auch totalitäre Regierungen würden die Debatte in Deutschland mit Interesse verfolgen. Unterdessen hatte sich nach einem Bericht der Augsburger Allgemeinen bereits der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko bei der von ihm betriebenen Einschränkung der Meinungsfreiheit im Kampf gegen die Opposition auf Justizminister Heiko Maas berufen und eigene Maßnahmen mit Maas' Gesetzentwurf begründet.

  • IT-Experten bezeichneten die geplanten Regelungen als „Zensurinfrastruktur“:
  • Matthias Spielkamp von Reporter ohne Grenzen nannte den Entwurf „beschämend“.
  • Harald Martenstein vom Tagesspiegel bezeichnete ihn als „Erdoganismus in Reinkultur“ und erklärte, der Gesetzesentwurf lese sich so, als „stamme er aus dem Roman 1984“. Er sei ein „Angriff auf das Prinzip der Gewaltenteilung“.
  • Burkhard Müller-Ullrich schrieb: „Minister Maas geht es ganz offensichtlich nicht um Hass und Hetze allgemein, sondern um das Mundtotmachen seiner politischen Gegner.“
  • Experten erwarteten, dass die kurzen und starren Löschfristen sowie die hohe Bußgeldandrohung dazu führen würde, dass die Netzwerke Beiträge im Zweifelsfall lieber entfernen, auch wenn die grundrechtlich garantierte Meinungsfreiheit eine kontextbezogene Abwägung erfordern würde, etwa bei der Abgrenzung zwischen verbotener Beleidigung und erlaubter Satire.

Im April 2017 schloss sich ein Bündnis aus Wirtschaftsverbänden, Netzpolitikern, Bürgerrechtlern, Wissenschaftlern und Juristen zusammen, um gegen das Gesetz zu protestieren. In einem Manifest warnten sie vor „katastrophalen Folgen für die Meinungsfreiheit“.

Der Bundestag verabschiedete den Gesetzentwurf am 30. Juni 2017 mit einer Mehrheit aus Stimmen der Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der Linken und gegen die Stimme von Iris Eberl (CSU) bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Die Anzahl der anwesenden Abgeordneten lag bei um die 55 (obwohl die Sitzung direkt nach der Abstimmung über die Ehe für alle stattfand, bei der insgesamt 623 Stimmen abgegeben wurden). Für die ordnungsgemäße Beschlußfähigkeit des Bundestags ist zwar mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages (= 316) erforderlich. Offenbar hatte aber niemand den Antrag gestellt, die Beschlussfähigkeit zu prüfen. Ein Appell des Deutschen Journalisten-Verbands an den Bundespräsidenten, das Gesetz nicht zu unterzeichnen, blieb folgenlos.

Am 10.11.2017 berichtete netzpolitik dass die EU-Kommission die Herausgabe von Dokumenten mit einer kritischen Bewertung des NetzDG zurückhalte, obwohl sie aufgrund einer Regelung von 2001 dazu verpflichtet sei. Der Zeitung WirtschaftsWoche gegenüber hatte die Kommission sich nicht auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit berufen, sondern (rechtsgrundlos) erklärt, dass die Veröffentlichung der Dokumente "das Klima gegenseitigen Vertrauens zwischen dem Mitgliedsstaat und der Kommission beeinträchtigen" würde. Die Zeitung sah sich in dem Verdacht bestätigt, dass das Gesetz gegen EU-Recht verstößt, Brüssel aber Deutschland nicht brüskieren wolle.

Januar 2018: das Gesetz in Aktion

Löschverfahren und erste Fälle

"Dieser Tweet von @titanic wurde aufgrund der Gesetze vor Ort zurückgezogen in Deutschland". Dazu Andrea Diener in der FAZ vom 6.1.2018:16]: "Aber welches Recht wird da durchgesetzt, wenn als allererste Konsequenz die Redaktion eines Satiremagazins aus ihrem Twitteraccount gesperrt wird? Inzwischen ist die achtundvierzigstündige Sperre wieder aufgehoben, doch einige inkriminierte Tweets bleiben für deutsche Nutzer verborgen. Darunter auch das November-Tibelbild des Heftes mit der Aufschrift 'Baby-Hitler macht den Führerschein', das Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz vor Jörg Haiders Unfallwagen zeigt. Schön, dass dieser Titel zumindest in Österreich zu sehen ist, dort scheint die Bevölkerung härter im Nahmen zu sein. Ebenso wie übrigens die gesamte deutsche Presse- und Kioskszene, die sich schon seit Wochen nicht an diesem Bildchen stört. Das Verbieten eines gedruckten Heftes ist auch ziemlich aufwendig, wie das bei juristischen Verfahren meister der Fall ist. Online geht das dank des NetzDG nun ratzfatz: Damit gesperrt wird, muss der Tweet nur von einem Nutzer gemeldet werden, der sich an ihm stört. ... Dann entscheidert Twitter, ob der Tweet mit den Gesetzen vor Ort zu vereinbaren ist oder nicht, und muss 'offensichtlich strafbare Inhalte' innerhalb von 24 Stunden sperren. Soweit man weiß, schulen soziale Netzwerke ihre Sperrbeauftragten nicht in Sachen Humorkompetenz. ... In diesen Prozess vermeintlicher Rechtsdurchsetzung ist, soweit man das von außen beurteilen kann, keine einzige juristisch ausgewiesene Person eingebunden.

Noch in der ersten Januarhälfte 2018 begann Twitter damit, sogar die bloßen Mitteilungen über Löschungen zu entfernen (FAZ 13.1.2018: 22).

Der Fall Beatrix von Storch

Schilderung des Falles durch MMEDIA am 2.1.2018:

Ein in der Silvesternacht am Sonntag verbreiteter Tweet sorgte bei AfD-Vizechefin Beatrix von Storch für Ärger. Darin wünschte die Polizei Köln allen Feiernden im Rheinland einen guten Rutsch – auf Deutsch, Englisch, Französisch und Arabisch. Von Storch antwortete daraufhin bei Twitter mit einem höhnischen, bei ihrer Anhängerschaft Beifall heischenden Kommentar: „Was zur Hölle ist in diesem Land los? Wieso twittert eine offizielle Polizeiseite aus NRW auf arabisch?“ In Anlehnung an die Kölner Silvesternacht von 2015/16, als es zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen durch junge Männer mit nordafrikanischem und arabischem Hintergrund kam, fuhr sie fort: „Meinen Sie, die barbarischen, muslimischen, gruppenvergewaltigenden Männerhorden so zu besänftigen?“
Nutzer meldeten den Beitrag sowohl auf Twitter als auch bei Facebook, wo er im weltgrößten Sozialen Netzwerk im gleichen Wortlaut veröffentlicht wurde. Beide Plattformen löschten ihn kurz darauf. Facebook kommentierte diesen Schritt wie folgt: „Wir haben den Zugang zu diesem Inhalt aus folgendem Grund gesperrt: Volksverhetzung (Paragraf 130 des deutschen Strafgesetzbuchs).“ Twitter deaktivierte Beatrix von Storchs Account für eine kurze Zeit. Die Kölner Polizei stellte zudem Strafanzeige gegen die AfD-Politikerin, nachdem diese den ursprünglichen Tweet der Polizei weiter verbreitet hatte. Auf Anfrage erklärte die Pressestelle der Kölner Polizei, dass es ihrerseits keine Meldung bei Twitter oder Facebook gegeben habe. Sie habe lediglich nach dem Strafverfolgungszwang gehandelt, wonach die Polizei bei Verdacht einer Straftat Anzeige erstatten muss. Mittlerweile sind weitere Anzeigen gegen Beatrix von Storch eingegangen. Nun übernimmt die Kölner Staatsanwaltschaft den Fall.
Für Kritiker des „Facebook-Gesetzes“ indes scheint sich nun zu bewahrheiten, was sie seit Sommer 2017 befürchten: Das NetzDG beschneide die Meinungsfreiheit und schaffe Chancen für Zensur. Viele Hass-Postings mögen zwar inhaltlich inakzeptabel sein. Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass sie gesetzwidrig sind. Viel mehr bewegen sich populistische Postings wie im Fall von Beatrix von Storch möglicherweise in einer Grauzone und bedürfen einer juristischen Überprüfung durch Gerichte. Das Justizministerium schreibt dazu: „Soziale Netzwerke müssen offensichtlich strafbare Inhalte innerhalb von 24 Stunden nach Eingang der Beschwerde löschen oder sperren. Über andere gemeldete Inhalte müssen soziale Netzwerke unverzüglich, in der Regel innerhalb von 7 Tagen nach Eingang der Beschwerde, entscheiden.“ - Enthielt Beatrix von Storchs Posting nun „offensichtlich strafbare Inhalte“?
Die Mitarbeiter von Twitter und Facebook handhabten die Angelegenheit jedenfalls so. Ein Hamburger Medienrechtsanwalt beurteilt den Sachverhalt auf Anfrage von MEEDIA wesentlich differenzierter. Seiner Einschätzung nach handelt es sich um eine „zwar höchst grenzwertige, aber wohl von der Meinungsfreiheit gedeckte Aussage“. Denn: „Von Storch stellt ihren Inhalt in den Kontext der Ereignisse von 2015 und stellt somit keine pauschale Behauptung auf. Sie sagt ja nicht, dass alle Muslime gemeint sind.“ - Aussagen dieser Art müssten nach Einschätzung des Juristen hinsichtlich des Kontextes der Äußerung, der inhaltlichen Ebene und der Betonung genau überprüft werden. Selbst Inhalte mit scheinbar strafbaren Inhalten bedürften einer detaillierten Betrachtung. Ob das in 24 Stunden bewerkstelligt werden kann, bezweifeln Kritiker wie Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen. In der Süddeutschen Zeitung äußerte er Bedenken gegenüber der eintägigen Frist. Aus Angst vor hohen Bußgeldern bis zu 50 Millionen Euro könnten Soziale Netzwerke lieber zu viele Inhalte löschen statt angemessen zu prüfen, das sogenannte Overblocking. Nutzer könnten das Gesetz ebenfalls ausnutzen und aus politischen Gründen ausgewählte, legale Inhalte melden. -- Die Diskussion um den Tweet von Beatrix von Storch verdeutlicht, dass das NetzDG zu großen Problemen für die Meinungs- und Pressefreiheit führen kann."

Der Fall Titanic

MEEDIA beschreibt den Fall der Titanic-Sperrung folgendermaßen:

"Wer von der Account-Sperrung der AfD-Politikerin las und der Meinung war, es würde in diesem Fall nicht den Falschen treffen, musste im Laufe des Tages erfahren, dass derartige Maßnahmen auch gegen andere verhängt wurden. So machte die Redaktion des Satiremagazins Titanic, die den Fall von Storch zum Anlass genommen hatte, im Namen der gesperrten AfD-Vizechefin zu twittern, ebenfalls eine Löschaktion öffentlich. Einer der Tweets lautete: „Weshalb verwendet eigentlich die deutsche Polizei arabische Zahlen? Ich wehl doch nicht 110, wen die Barbarenhorden mich vergewaltigen wollen! (bvs).“ Auf Anfrage von MEEDIA bestätigte Chefredakteur Tim Wolff: „Dieser (Tweet) wurde von Twitter gelöscht. Gesperrt wurden wir – noch – nicht.“ Mit dem Verständnis von Ironie scheint es bei den Kontrolleuren im Dienste von Twitter offenbar noch zu hapern. - Bei der Titanic nimmt man die Löschung gelassen und kommentiert diese gewohnt satirisch. Chefredakteur Wolff: „Wir fühlen uns durch diese Zensur in unserer publizistischen Arbeit massiv eingeschränkt. Was zur Hölle ist in diesem Internet los, wenn wir Barbaren keine Twitterschutzzone mehr bieten können? So fing es damals auch an!“ - Klar scheint, dass die Praxis der eigenverantwortlichen Kontrolle von Beiträgen auf den Social Media-Plattformen noch häufiger für Kontroversen sorgen wird. Wichtigster Maßstab dabei wird die grundgesetzlich garantierte Meinungs- und Pressefreiheit sein. „Unabhängig ob man irgendeiner Partei oder Meinung zuneigt – oder sie ablehnt. Meinungen jeglicher Art dürfen nicht verboten werden, solange sie nicht klar gegen gängiges Recht verstoßen“, so der von MEEDIA befragte Medienrechtler. „Eine demokratische Gesellschaft muss sich mit kritischen Aussagen auseinandersetzen.“ -

MEEDIA dazu am 7.1.2018:

Generalsekretärin der FDP, Nicola Beer, und mehrere Grünen-Politiker haben sich nach der Sperrung des Twitter-Accounts des Satiremagazins „Titanic“ in der vergangenen Woche für die Abschaffung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) ausgesprochen.- „Die vergangenen Tage haben eindringlich gezeigt, dass private Anbieter nicht in der Lage sind, in allen Fällen mutmaßlich strafbarer Äußerungen im Netz die richtige Entscheidung darüber zu treffen, ob eine rechtswidrige, eine satirische oder aber eine geschmacklose, in einer Demokratie aber zu ertragende Meinungsäußerung vorliegt“, sagte Beer der WELT AM SONNTAG. - Konstantin von Notz, der netzpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, warnt ebenfalls vor den Folgen des NetzDG. Er sagte: „Die Sperrung des Twitter-Accounts der ,Titanic‘ zeigt natürlich deutlich die Gefahr des Overblockings durch viel zu kurze Löschfristen und unbestimmte Rechtsbegriffe, die wir im Gesetzgebungsverfahren deutlich kritisiert haben. Denn offensichtlich wurden hier Kontextinformationen, wie, dass es sich bei dem Account-Betreiber um ein Satiremagazin handelt, gerade nicht mit in die Entscheidung mit einbezogen. Diese ‚Kollataralschäden‘ entstehen mit Ansage, denn die große Koalition hat dieses Gesetz sehenden Auges so grob gestrickt, und so ist der von uns und vielen Experten angemahnte Reformbedarf überfällig.“ -„Wir brauchen die sachgerechte Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden zur Durchsetzung des Rechts auch im Netz, nicht die Privatisierung dieser Entscheidungen bei internationalen Plattbetreibern wie mit dem NetzDG.“ Schwer erträglich sei es, wie Justizminister Heiko Maas mit dem NetzDG rassistischen Populisten eine Plattform für Provokation bietet. Das Gesetz sei „vermurkst und gehört durch ein ordentliches ersetzt, wie es Freie Demokraten schon vor Weihnachten in den Bundestag eingebracht haben“, so Beer.
hnlich beurteilt Simone Peter das NetzDG. Die Bundesvorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen sagte dieser Zeitung: „Die Sperrung des Twitter-Accounts der ,Titanic‘ offenbart die Schwächen des mit viel zu heißer Nadel gestrickten Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Es ist nicht hinnehmbar, dass ein US-amerikanisches Unternehmen wie Twitter die Meinungs- und Pressefreiheit in Deutschland beeinflusst. Denn offensichtlich ignorierte Twitter, dass es sich bei der ,Titanic‘ um ein Satiremagazin handelt.“Das seit Jahresbeginn geltende Gesetz, das die große Koalition im vergangenen Jahr verabschiedet hatte, verlangt von Portalen wie Twitter, Facebook und Youtube, „offensichtlich strafbare“ Inhalte binnen 24 Stunden zu löschen. Twitter hatte am Dienstag den Account von „Titanic“ geblockt und einen Tweet gelöscht. Darin hatte das Magazin den Begriff „Barbarenhorden“ verwendet und damit eine Nachricht der AfD-Politikerin Beatrix von Storch parodiert.

Der Fall Heiko Maas

Spiegel-online am 08.01.2018 zur Frage, ob der Justizminister selbst Opfer seines eigenen Gesetzes wurde: Die allgemeine Empörung im Netz hat sich auf einen etwa sieben Jahre alten Tweet des Politikers ausgeweitet.: 2010 twitterte Maas verächtlich über den umstrittenen SPD-Politiker Thilo Sarrazin. Wegen dessen rechtspopulistischer Äußerungen bezeichnete Maas ihn in einem Tweet als "Idiot". Kaum jemand dürfte sich daran erinnern. Doch dann kam das NetzDG - und mit dem neuen Gesetz ist nun auch Maas' Tweet verschwunden. Warum, blieb zunächst unklar.-Seit dem Jahreswechsel sind Onlinenetzwerke wie Facebook und Twitter verpflichtet, Postings mit "offensichtlich rechtswidrigen Inhalten" binnen 24 Stunden zu löschen. Die AfD instrumentalisierte das Gesetz gegen Hassrede rasch für ihre Zwecke und schwadroniert seither von Zensur, wann immer eine ihrer Beleidigungen nicht im Netz stehen bleiben darf.- Im Falle des Maas-Tweets waren Beobachter jedenfalls schnell mit einer möglichen Deutung der Ereignisse vom Wochenende zur Stelle: "Wurde Maas Opfer seines eigenen Lösch-Gesetzes?", fragte "Bild.de". Maas selbst, so das Portal, habe den Tweet jedenfalls nicht gelöscht. Die - noch online einsehbaren - Antworten auf den alten Maas-Tweet legen folgende Theorie nahe: Von der Aufregung um das Maas'sche Gesetz angestachelt, durchforsteten einzelne Twitter-Nutzer dessen Account nach alten Verfehlungen - und begannen, Maas' Tweet von 2010 zu melden. - So wurde wahrscheinlich Twitter auf den Post aufmerksam. Ob es den Tweet aber wirklich auf Basis des NetzDG löschte, weiß nur Twitter selbst. Von außen einsehbar sind die Löschgründe nicht. - Unabhängig von dem Gesetz bestehen die zuvor gültigen Meldesysteme und -regeln weiter, nach denen Twitter schon immer - wenn auch erratisch und häufig mit schlechten Ergebnissen - gelöscht hat. Der Maas-Tweet könnte von Twitter schlicht auch als Verstoß gegen die Community-Standards gewertet worden sein.-Selbst die Verfasser gelöschter oder gesperrter Inhalte bekommen nur die Information "Gemäß den geltenden Gesetzen und unseren Richtlinien hat Twitter nun diese Inhalte in Deutschland zurückgezogen". Was im jeweiligen Fall den Ausschlag gegeben hat, das NetzDG oder Twitters eigene Richtlinien, geht daraus nicht hervor.- Dass Twitters derzeitiges Vorgehen nicht unbedingt in direktem Zusammenhang mit seinem Gesetz steht, versuchte auch Minister Maas am Montag in der "Bild"-Sendung "Die richtigen Fragen" zu vermitteln. Bei manchen Nutzern ist das offenbar nicht angekommen. Twitter, traditionell schlecht zu erreichen für Rückfragen aus Deutschland, tut nichts dafür, dieses Problem zu beheben."

Knackpunkte

  • Gerichtsförmigkeit vs. Informalität: Ein Titelbild einer Satirezeitschrift gerichtlich verbieten zu lassen, ist ein riskantes und u.U. langwieriges und kostspieliges Unternehmen. Dasselbe Bild auf Twitter oder Facebook verbieten zu lassen, geht ratzfatz und risikolos auch für anonyme DenunziantInnen.
  • Denunziation: Don Alfonso: "Wie gesagt, ich bin Historiker, und als solcher weiß ich, dass die Möglichkeit zur Denunziation genutzt wird, sobald man sie anbietet. Ich erlebe das auch eigentlich täglich, denn selten einmal schreibe ich einen Beitrag, für den mich dann nicht jemand bei meinem Arbeitgeber verpetzt. Das letzte Beispiel ist von gestern, die Dame ist Pressesprecherin der SPD im hessischen Kronberg und dort auch im Gemeinderat, und sie wendet sich hier mit Mention auch direkt an die FAZ" (folgt Beispiel))-.
  • Rechte der von Löschung oder Sperrung Betroffenen:
Die Betroffenen haben vor Gericht alle prozessualen Grundrechte. Bei Twitter et al. ist das nicht der Fall. Sie haben nicht einmal einen Anspruch auf Wiederherstellung ihrer zu unrecht gelöschten Tweets. SPD-Rechtspolitiker Johannes Fechner dazu in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung Stadtausgabe vom 10.1.2018: 4: "Was jetzt noch fehlt, ist der Anspruch, dass zu Unrecht gelöschte oder gesperrte Beiträge wiederhergestellt werden müssen. Das wollen wir noch durchsetzen."
  • Transparenz: Die Aktionen der sozialen Netzwerke kommen oft unangekündigt, unbegründet und intransparent bezüglich ihrer Entscheidungsgrundlagen und -reichweite. So stellte Twitter einen Tweet der AfD-Franktionsvorsitzenden Alice Weidel, in dem sie sich mit einem Tweet ihrer Stellvertreterin von Storch solidarisiert hatte, nach Einschaltung des Hamburger Medien-Anwalts Joachim Steinhöfel begründungslos wieder her. Der Anwalt hatte Twitter zwar gebeten, auch den Tweet der Vertreterin wiederherzustellen. Doch der tauchte nicht wieder auf. Im Gegenteil. In derselben Nachricht (FAZ 13.1.2018: 22) heißt es: "Twitter hat inzwischen sogar bloße Mitteilungen über Löschungen entfernt sowie einen Tweet, der sich kritisch mit einer Flüchtlingsdokumentation auseinandersetzt - also wohl rechtmäßige Inhalte."


Meinungen

Stefan Niggemeier:

"Kritisiert wird unter anderem, dass die Aufgabe, über die Grenzen der Meinungsfreiheit zu urteilen, von den Gerichten an private Unternehmen delegiert werde. Sie müssten nun ad hoc urteilen, ob ein Tweet rechtswidrig ist, und das, obwohl die Leute, die darüber entscheiden, gar nicht dafür ausgebildet sind und womöglich nicht einmal richtig deutsch sprechen, aber die Androhung einer Strafe von bis zu 50 Millionen Euro für den Fall einer Nichtlöschung im Rücken haben.
An dieser Argumentation ist fast alles falsch. Auch bisher schon mussten Netzwerke rechtswidrige Inhalte löschen – und das heißt auch: selbst entscheiden, welche Inhalte womöglich gegen geltendes Recht verstoßen. Grundlage dafür sind das Telemedien-Gesetz und der seit langem in der analogen Welt bestehende Grundsatz der Störerhaftung.
Das gilt auch für Online-Medien wie diese Seite hier. Wir von Übermedien haften für Kommentare, die andere Nutzer abgeben. Im Zweifel, wenn jemand etwa geltend macht, dass er darin unzulässig geschmäht wird, reicht es nicht, darauf zu verweisen, dass er erst einmal eine Gerichtsentscheidung vorweisen soll. Ab dem Moment, in dem der Betreiber einer Internetseite darauf hingewiesen wird, dass ein Kommentar rechtswidrig sei, ist er dafür verantwortlich, das zu überprüfen und den Kommentar gegebenenfalls zu löschen.
Auch das erfordert viele Ad-Hoc-Entscheidungen von Nicht-Juristen.
Natürlich haben diese Entscheidungen eine andere Brisanz, wenn sie nicht einzelne Homepages oder Online-Medien betreffen, sondern Plattformen, die Millionen Menschen nutzen, um mit und in der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Voreilige Löschungen können hier wie eine Einschränkung der Meinungsfreiheit wirken. Umgekehrt hat aber auch die Nicht-Durchsetzung der Rechtslage eine besonders weitreichende Wirkung. Genau das wurde insbesondere Twitter in der Vergangenheit immer wieder vorgeworfen. Bei einem Monitoring Anfang 2017 stellte das Portal jugendschutz.net fest, dass nur jede hundertste Beschwerde von Nutzern gegen Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte von Twitter gelöscht worden sei.
Der Vorwurf, dass nun irgendwelche schlecht ausgebildeten Leute im fernen Irland, die womöglich nicht einmal deutsch sprechen, diese Entscheidungen treffen, mag prinzipiell berechtigt sein. Aber gerade das soll das NetzDG verbessern: Es fordert von den Unternehmen unter anderem, ihre Mitarbeiter regelmäßig zu schulen und Berichte über die Löschungen vorzulegen. Bislang behandelten diese Unternehmen dieses ganze Thema weitgehend wie Betriebsgeheimnisse.
Und die viel zitierte, vermeintlich horrende Strafe von 50 Millionen Euro droht nicht, wenn ein einzelner gesetzeswidriger Beitrag nicht gelöscht wurde, sondern wenn ein Unternehmen kein funktionierendes System zum Melden und eventuellem Löschen solcher Beiträge etabliert.
Bemerkenswert ist, dass das Vorgehen vor allem von Twitter in den vergangenen Tagen, das anscheinend besonders übertrieben und erratisch gegen Beiträge vorgegangen ist, in fast allen Darstellungen zur Kritik am neuen Gesetz genutzt wird und nicht nur zur Kritik am Unternehmen. In einem Streitgespräch auf bild.de wies Justizminister Heiko Maas „Bild“-Chef-Chef Julian Reichelt heute früh darauf hin, dass das NetzDG schon deshalb nicht für die Sperrung des Accounts der Satire-Zeitschrift „Titanic“ verantwortlich sein kann, weil das Gesetz Account-Sperren gar nicht vorsieht. Reichelt beharrte dennoch darauf, dass die Falschauslegung des Gesetzes durch einen großen Internetkonzern nicht gegen den Konzern spricht, sondern gegen das Gesetz.
Die Diskussion fixiert sich auf das NetzDG als Schuldigen für alles – und es konzentriert sich dabei in einer Weise auf Maas als Buh-Mann, als hätte er allein das Gesetz verabschiedet. Oft unbeachtet bleibt dabei auch, dass sich Twitter selbst Ende vergangenen Jahres international neue Richtlinien und Abläufe gegeben hat, mit denen das Unternehmen verstärkt gegen Hass-Inhalte im Netz vorgehen will. Dabei ist die permanente Sperrung von Accounts ausdrücklich als Sanktion vorgesehen.
Doch in ihrem Anti-NetzDG-Furor erklären manche Journalisten sogar schon solche Haus-Regeln für unzulässig. „Welt am Sonntag“-Chefredakteur Peter Huth verweist in einem Kommentar darauf, dass die Staatsanwaltschaft ermittle, ob ein – von Twitter gelöschter – Tweet der AfD-Politikerin Beatrix von Storch den Straftatbestand der Volksverhetzung erfülle. Diese Frage dürfe „durch niemand anderen als die Justiz geklärt werden“, schreibt er. „Und solange sie nicht durch die Justiz geklärt ist, dürfen diese Grauzonen-Inhalte nicht aus dem Netz gelöscht werden. So schmerzlich und unerträglich das auch ist.“
Das ist eine erstaunlich radikale Forderung: Ein privates Unternehmen soll gezwungen werden, Inhalte auf seiner Plattform, die es für hetzerisch hält, nicht zu löschen. Twitter und Facebook müssten jede Beleidigung, jede rassistische Äußerung, alle Hassreden diesseits von „Juden ins Gas“-Äußerungen stehen lassen, bis jede einzelne von einem Gericht für strafbar erklärt wurde."


Don Alfonso (FAZ):

"Es gibt viele, die sich mit dem NetzDG arrangiert haben und es für ungeschickt, aber nötig erachten. Sie sagen das Wort “Leider” dazu, selbst wenn sie aus eigener Ansicht die Risiken kennen. Sie sind bereit, diese Risiken auch für andere in Kauf zu nehmen, weil sie denken, es diene ihrer größeren Sache und ihren Vorstellungen. In den letzten Jahren haben genau diese Leute immer darauf hingewiesen, wie schnell ein Land Richtung 1933 kippen könnte. Jetzt geht es wieder gegen den innersten Kern und den Geist des Grundgesetzes, und sie sagen, ihre Haltung sei vielleicht unpopulär, aber es sei nun mal angesichts der vielen Bedrohungen nötig. Leider. Es ist eine Argumentation, mit der man auch Selbstschussanlagen an der deutsch-deutschen Grenze aufstellen kann."

Evaluation

In den ersten 8 Tagen nach Inkrafttreten des Gesetzes gab es 52 Beschwerden darüber, dass soziale Netzwerke auf Meldungen über Hass und Hetze auf ihren Plattformen nicht reagiert hätten (Bundesamt für Justiz). Bußgelder wurden noch nicht verhängt.

Laut Bundesjustizministerium müssen die Unternehmen bis zum Sommer 2018 Berichte darüber vorlegen, auf welcher Grundlage Einträge gelöscht wurden. Es werde dann "sehr genau evaluiert werden, wie sich das Gesetz auswirkt und welche Erfahrungen mit ihm gemacht werden" (FAZ 09.01.2018: 4).

Eine sog. Jamaika-Koalition unter Einschluss der FDP, die das Gesetz ausdrücklich ganz zurückziehen wollte, hätte zumindest zu einer grundlegenden Überarbeitung geführt. Eine sog. Große Koalition dürfte dem Gesetz positiver gegenüberstehen und es eher in Randbereichen zu korrigieren versuchen.

Weblinks und Literatur


Siehe auch