Ersatzfreiheitsstrafe

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Im deutschen Recht wird eine in Freiheitsstrafe umgewandelte Geldstrafe als Ersatzfreiheitsstrafe (EFS) bezeichnet. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist in § 43 des Strafgesetzbuchs geregelt. Dieser besagt: "An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe. Einem Tagessatz entspricht ein Tag Freiheitsstrafe. Das Mindestmaß der Ersatzfreiheitsstrafe ist ein Tag." - Da Geldstrafen in Deutschland in der Form von Tagessätzen verhängt werden, stellt die Umrechnung kein Problem dar: Wer zu 60 Tagessätzen à 50 Euro verurteilt wurde, dessen EFS beläuft sich dann auf 60 Tage Gefängnis.


Reformbedarf

Die Freiheitsstrafe - im Gefängnis verbüßt - wird auf diese Weise zum Ersatz der Geldstrafe. Die Geldstrafe wurde vom Gericht eigentlich verhängt, weil es den Angeklagten gerade nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilen wollte. Das ist ein gewisses Paradox. Aber nicht das einzige.

So ist dem ansonsten in statistischen Dingen recht peniblen Staat, der den Vollzug der EFS immerhin selbst organisiert, nicht einmal bekannt, wie viele Menschen pro Jahr in seinen Gefängnissen eine EFS verbüßen. Im Jahre 2002 wusste man es noch. Da waren es rund 60.000. Seither wurde die Strafvollzugsstatistik geändert und seit 2003 gibt es keine entsprechenden Erhebungen mehr. Das Bundesinnenministerium schrieb 2006: "Damit ist ein kriminalpolitisch wichtiges Problem ins Dunkelfeld verschoben." - Was man heute weiß oder schätzt, ist folgendes:

  • Stichtagserhebungen ergeben meist 7-10% Anteil von EFS an der Gesamtzahl der Häftlinge: je schlechter die wirtschaftliche Lage für die unteren Schichten, desto näher rückt die Zahl an 10%.
  • Durchschnittlich verbringen EFSer zwei Monate in Haft.
  • 30 bis 40 Prozent aller Aufnahmen und Entlassungen in deutschen Gefängnissen betreffen nach einer Schätzung von Heinz Cornel Ersatzfreiheitsstrafler
  • Ein Tag Vollzug der EFS kostet den Staat 100-150 € (in Hamburg: 149).
  • "Etwa 100 Millionen Euro sind bundesweit pro Jahr nötig, um Menschen, die eigentlich zu Geldstrafen verurteilt wurden, vorübergehend einzusperren. Zehn deutsche Knäste könnten sofort geschlossen werden, wenn EFS durch andere Sanktionen ersetzt würden"[1].Die Kostenproblematik und die häufig ausgesprochen negativen Auswirkungen des Gefängnisaufenthalts auf die Betroffenen ("kriminelle Ansteckung", Mobbing, Schikanen, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung durch Mitgefangene) führen immer wieder zu Überlegungen, ob und wie sich der Vollzug von EFS vermeiden lassen könnte.

Umwandlung

Die Umwandlung der Geldstrafe in eine EFS erfolgt in gewissem Sinne automatisch: Die EFS tritt in dem Moment an die Stelle der Geldstrafe, in dem der zuständige Rechtspfleger meint, die Geldstrafe sei uneinbringlich. Diese Meinungsbildung erfolgt wohl häufig vorschnell, wie aus einem Forschungsprojekt von Heinz Cornel und einem Team der Straffälligen- und Bewährungshilfe Berlin hervorgeht:

"Wir haben einen Scout eingesetzt, der nichts anderes gemacht hat, als zu den Menschen zu fahren, die sich nicht zurückgemeldet haben." Dort habe dieser dann mal festgestellt, dass derjenige schon zwei Jahre bei seiner Freundin wohnt, oder dass dort überhaupt kein Briefkasten ist. Und in sehr vielen Fällen habe er die Menschen ausfindig machen können. Oft einfach, indem er einen Brief schickte, die Adresse per Hand auf den Umschlag schrieb und eine Handynummer angab, unter der er auch außerhalb von Behördenarbeitszeiten zu erreichen war. "Plötzlich meldeten sich eine ganze Menge Leute, die eigentlich schon abgeschrieben waren", sagt Cornel. "Wir haben das in Berlin mal durchgerechnet: Man könnte Millionen sparen."

Daher die Relevanz eines kleinen Unterschieds zwischen Schweden und Deutschland in dieser Hinsicht. Solange es nämlich in Schweden überhaupt noch die EFS gab, war es Aufgabe eines Richters, im Falle der Nichtzahlung einer Geldstrafe herauszufinden, ob der/die Verurteilte nicht zahlen wollte oder nicht zahlen konnte - und nur im letzteren Fall kam eine EFS in Betracht.

Tilgung der EFS durch freie Arbeit

Zunächst behalfen sich sämtliche Bundesländer mit Art. 293 EGStGB, worin die Landesregierungen ermächtigt werden, die Vollstreckung der EFS durch Tilgungsverordnungen abzuwenden: "Soweit der Verurteilte die freie Arbeit geleistet hat, ist die Ersatzfreiheitstrafe erledigt". Zumeist waren dabei sechs Stunden gemeinnützige Arbeit zur Tilgung eines Tages EFS erforderlich. In einzelnen Bundesländern wurde dieser Umrechnungsmaßstab auf bis zu drei Stunden herabgesetzt. In allen Bundesländern gibt es Organsiationen der freien Straffälligenhilfe, welche sich bemühen, geeignete Arbeitsplätze aufzutreiben. Die Ergebnisse sind desilusionierend: ein Rückgang der Zahl der EFS ist bundesweit nicht zu verzeichnen.

Ersatzstrafe

Der Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Sanktionsrecht vom 17.03.2004 (BT Drs. 15/2725) wollte die Ersatzfreiheitsstrafe des § 43 StGB durch eine "Ersatzstrafe" ersetzen. Diese sollte, mit Zustimmung des Verurteilten, in der Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit bestehen. Nur wenn der Verurteilte die Zustimmung nicht erteilte oder "die gemeinnützige Arbeit nicht in angemessener Zeit oder nicht in ordnungsgemäßer Weise" erbrachte sollte an die Stelle der Geldstrafe Ersatzfreiheitsstrafe treten. Im übrigen sollte der Umrechnungsmaßstab verändert werden: "zwei Tagesssätze entsprechen einem Tag Freiheitsstrafe". Das Gesetz ist jedoch nie in Kraft getreten.

Abschaffung

Zunehmend wird daher die Forderung erhoben, die EFS insgesamt abzuschaffen (vgl. zuletzt Guthke/Kitlikoglu 2015). Dem wird entgegengehalten, die EFS sei ein "notwendiges Strukturteil einer in der Praxis gut funktionierenden Geldstrafenverhängung - und Vollstreckung". Das gelte insbesondere für ein Land mit einem so hohen Anteil an Geldstrafe (OStA Olaf Boll als Berichterstatter der vom BMJ eingesetzten Kommission zu Reform des strafrechtlichen Sanktionssystems (Abschlußbericht der Kommission, 2000, 3.1.1). Inzwischen hat jedoch Schweden, das einen ähnlich hohen Geldstrafenanteil an allen Sanktionen aufweist, die EFS ersatzlos abgeschafft. Ebenso Dänemark[2]

2018 fasste Johannes Feest die Problematik der EFS kurz und bündig zusammen und unterbreitete den Vorschlag der Durchführung eines Modellprojekts zu ihrer Abschaffung. Hier sein Text im Wortlauf:

"Die automatische Umwandlung einer uneinbringlichen Geldstrafe in eine Freiheitsstrafe (§ 43 StGB) ist aus mehreren Gründen problematisch und im Ergebnis abzulehnen.

  • Das Ersetzen einer leichteren Sanktion durch eine schwerere ist ungerecht
  • In der Praxis trifft die EFS psychisch und sozial schwache Personen
  • Die erhebliche Belastung des Strafvollzugs durch die EFS ist kontraproduktiv
  • Alle Versuche, die EFS durch „Alternativen“ zurückzudrängen sind gescheitert
  • Die Behauptung der Unverzichtbarkeit der EFS ist unhaltbar.

Die EFS hat sich als illegitim, sozial selektiv und kriminalpolitisch schädlich erwiesen. Sie führt dazu, dass zivilrechtliche Wege der Beitreibung nicht hinreichend geprüft werden und dass jährlich eine große Zahl von Haftplätzen (10 Prozent) nur für diesen Zweck vorgehalten werden muss. Andere europäischen Staaten (Dänemark, Frankreich, Schweden) kommen völlig ohne diese ärgerliche Institution aus. Für ihre Abschaffung finden sich jedoch keine Mehrheiten, wie sich zuletzt im Bundesrat und im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags gezeigt hat. Dies dürfte hauptsächlich an der ungeprüften Behauptung liegen, die EFS sei für die Erhaltung der Geldstrafe unverzichtbar („Rückgrat der Geldstrafe“).

Es empfiehlt sich daher, im Rahmen eines Modellprojektes zu prüfen, ob die befürchteten Folgen der Abschaffung wirklich eintreten würden. Das hat der Strafrechtslehrer und spätere Verfassungsrichter Wilfrid Hassemer schon 1990 angeregt: „Die Ersatzfreiheitsstrafe ist ein Institut, das nach einem kontrollierten Experiment des Gesetzgebers ruft. Es könnte sich bei einer Aufhebung dieser Strafart herausstellen, dass die Geldstrafenregelung dennoch funktionsfähig bleibt (etwa deshalb, weil die meisten Verurteilten die Geldstrafe nicht aus Furcht vor der Ersatzfreiheitsstrafe, sondern aus anderen Gründen bezahlen“. Ein solches Experiment könnte darin bestehen, dass die Geltung des § 43 StGB für fünf Jahre ausgesetzt und durch Begleitforschung untersucht wird, welche Folgen dieses Moratorium hat. Empirisch zu klärende Fragen wären insbesondere:

  • Wieviele Geldstrafen erweisen sich als „uneinbringlich“?
  • Welche Möglichkeiten der Beitreibung sind benutzt worden bevor die Uneinbringlichkeit festgestellt wurde?
  • Wieviele Geldstrafen können (auch ohne die Drohung der EFS) durch Ableistung gemeinnütziger Arbeit ersetzt werden?
  • Wie sieht das Sozialprofil der Personen aus, die ihre Geldstrafe nach Durchlaufen dieses Prozesses „endgültig“ nicht bezahlen?"

Weblinks und Literatur

  • Cornel, Heinz (2002): Gemeinnützige Arbeit zur Abwendung der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen und als selbstständige Sanktion. In: Prittwitz, C. u. a. ( Hrsg.): Festschrift für Klaus Lüderssen zum 70. Geburtstag. BadenBaden: Nomos Verlag, S. 821-834.
  • Dünkel, Frieder & Jens Scheel (2006) Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit: das Projekt "Ausweg" in Mecklenburg-Vorpommern: Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. Godesberg: Forum
  • Ersatzfreiheitsstrafe, in: DIE ZEIT 2016
  • Fachtagungs-Programm Berlin 2017
  • Feest, Johannes (2018) Modellprojekt zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstraf, in: Reso-Infoportal
  • Feest, Johannes (2016) Weg mit der Ersatzfreiheitsstrafe. In: Rechtsstaatlicher Strafprozess und Bürgerrechte. Gedächtnisschrift für Edda Weßlau. Berlin.
  • Geld oder Knast von Guido Kleinhubbert, Spiegel-Online, 07.06.2008]
  • Guthke, Kai & Lefter Kitlikoglu (2015) Die Ersatzfreiheitsstrafe muss weg! In: FREISPRUCH Nr. 6 (Februar 2015).
  • Hassemer, Winfried (1990) Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Auflage, München (S. 229)125
  • Lim,Il-Tschung & Daniel Loick, Nadine Marquardt und Felix Trautmann (2017) Delinquenzmilieu. Armut und Gefängnis am Beispiel der Ersatzfreiheitsstrafe. WestEnd Heft 2: 125 ff.
  • Petition Deutscher Bundestag 2016

Einzelnachweise

  1. Kleinhubbert, Spiegel 07.06.2008
  2. Frieder Dünkel: Ersatzfreiheitsstrafen und ihre Vermeidung. Aktuelle statistische Entwicklung, gute Praxismodelle und rechtspolitische Überlegungen. In: Forum Strafvollzug. Heft 3, 60. Jg., Mai 2011, S. 144.

Siehe auch