Entkriminalisierung

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Begriff und Typologie

Entkriminalisierung ist das Gegenteil von Kriminalisierung. Wie diese, so kann sich die Entkriminalisierung auf konkrete Personen oder auf Handlungstypen beziehen.

So wie der personale Kriminalisierungsbegriff den Prozess bezeichnet, in dem eine Person in zunehmendem Maße als kriminelle bezeichnet und behandelt wird, so bezeichnet der personale Entkriminalisierungsbegriff den Prozess, in dem eine kriminalisierte Person in abnehmendem Maße als kriminell bezeichnet und behandelt wird. Das kann zum Beispiel durch Umdefinition und außerstrafrechtliche Reaktionsformen ("Therapie statt Strafe") erfolgen, also durch eine Entpönalisierung, die zugleich als Austausch der sozialen Diagnoseform "Kriminalität" durch "Krankheit" zu verstehen ist ("Pathologisierung").

Wie der handlungsbezogene Kriminalisierungsbegriff die Einführung der Strafbarkeit eines Verhaltenstyps bezeichnet, so bezeichnet der handlungsbezogene Entkriminalisierungsbegriff den Prozess, in dem ein strafbares Verhalten von der Drohung mit der Kriminalstrafe befreit wird. Als actus contrarius der durch Gesetz erfolgenden Strafbarmachung eines Verhaltens erfordert auch die Entkriminalisierung grundsätzlich die Gesetzesform. Neben dieser Entkriminalisierung de jure bzw. die lege gibt es aber auch noch die Entkriminalisierung de facto.

Der Europarat (Council of Europe 1980: 13) definierte Entkriminalisierung als die Gesamtheit der Prozesse, mittels derer bestimmte Verhaltensweisen dem Zuständigkeitsbereich des Strafrechts entzogen werden, bzw. „by which the 'competence' of the penal system to apply sanctions as a reaction to a certain form of conduct is withdrawn“.

Entkriminalisierung vs. Entpönalisierung: Der Begriff der Entpönalisierung bezieht sich auf die partielle oder vollständige Rücknahme oder Milderung der Kriminalstrafe als Rechtsfolge einer (bestehen bleibenden) Straftat.

Beispiele:

  • Erhöhung der Strafmündigkeitsgrenze von 12 auf 14 durch das JGG 1923 (generelle Entpönalisierung für die betroffenen Kinder)
  • Abschaffung der Zuchthausstrafe durch das 1. StrRG von 1969
  • Herabstufung der Abtreibung vom Verbrechen zum Vergehen (ebenfalls durch das 1. StrRG von 1969).

De jure vs. de facto Entkriminalisierung: Wie die Kriminalisierung, so bedarf auch die Entkriminalisierung grundsätzlich eines Tätigwerdens des Gesetzgebers (= Entkriminalisierung de jure).

Beispiele:

  • Aufhebung gleich mehrerer Bestimmungen des deutschen Strafrechts durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30.1.1946 (§§ 2, 2b, 134b, 226b RStGB).
  • Teilweise oder ganze Entkriminalisierung des Ehebruchs, der Unzucht zwischen Männern, der Unzucht mit Tieren, der Kuppelei und der Prostitution durch das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25.6.1969.

Davon zu unterscheiden sind die sog. de facto Entkriminalisierungen. Dieser Begriff bezieht sich auf die Erosion der Geltungskraft von Normen durch die immer unbekümmerte Verbreitung von auf dem Papier weiterhin strafbaren, sozial aber längst normalisierten Verhaltensweisen, die schließlich in keinem nennenswerten Maße mehr angezeigt, verfolgt und bestraft werden. Im Gegenteil: Anklagen und Verurteilungen werden bei fortgeschrittenen de facto Entkriminalisierungen als Abweichungen vom sozialen Erwartungsfahrplan öffentlich skandalisiert. Das heißt nicht, dass de facto Entkriminalisierungen von der offiziellen Politik immer skeptisch betrachtet werden. Sie können auch offiziell gewollt und z.B. durch ministerielle Anweisungen an die Staatsanwaltschaft von Amts wegen verordnet werden.

Beispiele:

  • Verzicht auf die Verfolgung geringfügiger Übertretungen durch die Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege, die sog. Emminger-VO vom 4. Januar 1924.
  • Verzicht auf die Strafverfolgung bei Cannabis in Holland. Im law-in-the-books ist Cannabisanbau und -verkauf weiterhin strafbar. Im law-in-action aber sieht es anders aus. Erwachsene dürfen bis zu sechs Cannabispflanzen für den Eigengebrauch aufziehen und der Verkauf in Coffeeshops wird toleriert, solange diese (1) von der Gemeinde erlaubt und (2) mindestens 250 m von der nächsten Schule entfernt sind sowie (3) keine Werbung betreiben, (4) keine harten Drogen tolerieren, (5) keine Personen unter 18 bedienen, (6) Ruhe und Ordnung in der Nachbarschaft zu respektieren und (7) nicht mehr als 5 g pro Kunde verkaufen und nicht mehr als 500g auf Lager haben.

Legalisierende vs. transformierende Entkriminalisierung: Entkriminalisierung ist nicht gleichbedeutend mit Legalisierung, kann aber in einer solchen resultieren. Im Fall einer legalisierenden Entkriminalisierung macht die Entkriminalisierung aus einer Strafat ein fürderhin erlaubtes Verhalten.

Beispiel:

  • Anbau und Verkauf von Cannabis zu Genusszwecken, bislang als Straftaten verfolgt, wurden in Uruguay als erstem Land der Welt mit dem Gesetz 19.172 vom 10.12.2013 wieder erlaubt. Die Entkriminalisierung ist nicht "ersatzlos", weil eine restriktive Regulierung an die Stelle des Verbots tritt, aber sie ist auch nicht nur "scheinbar", sondern "echt", weil diese Verhaltensweisen aus der Sphäre des Kriminellen herausgeholt wurden. Erlaubt sind der lizensierte Anbau im großen Stil, aber auch der nicht-kommerzielle Anbau von bis zu sechs Cannabis-Pflanzen pro Person (bzw. von bis zu 99 Pflanzen für Marihuana-Clubs mit 15 bis 45 Mitgliedern) und der Apotheken-Kauf von bis zu 40g monatlich pro Person, aufgeteilt in standardisierte 5-Gramm-Päckchen (vier Sorten) à knapp 7 USD. Konsumenten müssen sich allerdings in ein Register eintragen und weder Minderjährigen noch Ausländern wird mit dieser Regulation ein legaler Zugang eröffnet.

Bei transformierenden Entkriminalisierungen entfällt hingegen zwar die Strafbarkeit, nicht aber das Verboten-Sein der Handlung.

Beispiel:

  • Umwandlung der strafbaren Straßenverkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten durch das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24.5.1968. Dadurch wurden Tatbestände formal aus dem Strafrecht ausgegliedert, um anschließend in einer anderen Rechtsmaterie, in einem Katalog für Ordnungswidrigkeiten, wieder aufzutauchen. Das Verhalten wird deutlich weniger starker Ächtung ausgesetzt, deshalb aber noch lange nicht gutgeheißen. Insofern ist die transformierende durchaus eine echte und keine nur scheinbare Entkriminalisierung (so aber Naucke 1984).
  • Im Drogenrecht in Portugal hat man mit der Herabstufung der Konsumsphären-Tatbestände zu Ordnungswidrigkeiten im Jahre 2001 - nicht nur bei Cannabis, sondern allen illegalen Drogen - laut Glenn Greenwald, der von einem "resounding success" spricht, sehr gute Erfahrungen gemacht.

Drei Motivtypen. Einer Entkriminalisierung können verschiedene Motive zugrundeliegen (vgl. Council of Europe 1980: 15):

  1. Typ A: Veränderte moralische Bewertung des betreffenden Verhaltens. Beispiel: Entkriminalisierung der Homosexualität in Deutschland; legalisierende Entkriminalisierung von Cannabis (Uruguay 2013; Kalifornien 2016)
  2. Typ B: Veränderte Einstellung zu den Grenzen legitimen staatlichen Strafens. Beispiele: die Alternativprofessoren der 1960er und 1970er Jahre meinten, der Staat dürfe das Strafrecht nur gegen manifest sozialschädliches, nicht gegen ein bloß sitttenwidriges Verhalten einsetzen. So kam es mit dem 1. StrRG vom 25.6.1969 zur teilweisen oder völligen Entkriminalisierung des Ehebruchs, der Unzucht mit Tieren, der Unzucht zwischen Männern, der Kuppelei und der Prostitution.
  3. Typ C: Veränderte Kosten-Nutzen-Einschätzung. Beispiel: Transformierende Entkriminalisierung strafrechticher Übertretungstatbestände durch Überführung in Ordnungswidrigkeiten (1975); legalisierende Entkriminalisierung von Cannabis in Uruguay (2013).

Diese drei Motive sind weder gleichrangig noch trennscharf. Von grundlegender Bedeutung ist die mit Typ B verbundene Auffassung von den Grenzen staatlicher Befugnis zur Nutzung des Strafrechts. In Zeiten der Liberalisierung wird man dazu tendieren, abweichendem Verhalten mehr Toleranz entgegenzubringen - und zugleich wird man sensibel sein für die realen Kosten und den hohen Verfolgungsaufwand bei einer vielleicht geringen Effektivität der Durchsetzung. Autoritäre und paternalistische Systeme hingegen werden dazu tendieren, punitiver auf Abweichung zu reagieren und gleichzeitig den symbolischen Wert aktionistischer Strafgesetzgebung und staatlicher Machtdemonstration höher zu gewichten als die eventuell teuren und ineffektiven Implementierungsversuche.

Globale und lokale Bedingungen

Grundsätzlich gilt wohl: je autoritärer, je paternalistischer und je populistischer eine Regierung ist, desto ungünstiger ist das für erfolgreiche Entkriminalisierungen. Je freiheitlich-liberaler hingegen eine Regierung und je größer der Einfluss von Fachleuten (z.B. Strafrechtswissenschaftlern) auf die Gesetzgebung, desto günstiger für Entkriminalisierungen.

Die Entkriminalisierungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre fanden vor dem Hintergrund eines gesamtgesellschaftlichen und keineswegs auf Deutschland beschränkten Wertwandels und Liberalisierungsschubes statt. Diese Tendenz wurde von einer Protagonisten - den sog. Alternativprofessoren - aufgegriffen, auf ihre Vorstellung von einem liberalisierten Strafrecht angewandt und Dank einer politischen Partei, die sich als Umsetzerin in die Welt der politischen Institutionen engagierte (und davon profitierte), auch in die real existierende Kriminalpolitik umgesetzt.

In der Gegenwart (2018) nimmt die Attraktivität der liberalen Demokratie weltweit ab. Populistischer Autoritarismus hingegen zu. Im weltweiten Konflikt zwischen einem liberalen und einem autoritären Traum vom gesellschaftlichen Zusammenleben hat der Autoritarismus seine Nase nicht nur in Mittelamerika, in Zentral- und Südostasien, in weiten Teilen Afrikas und im gesamten Nahen Osten vorn, sondern auch in Europa. Auch wo populistische, respektive autoritäre Parteien nicht schon an der Macht sind, ist ihre jüngste Stärkung doch ein unmissverständliches Zeichen für die Tendenz der Zeit - den "democratic disconnect" (Foa & Mounk 2016). Wenn jetzt gerade die Jugend das Vertrauen in die Demokratie verliert und andere Systeme attraktiver zu finden beginnt, dann ist es ein schwacher Trost, dass autoritäre Gesellschaftssysteme in der Geschichte sowieso der Normalfall waren und sind - liberale Systeme mit direkter oder repräsentativer Demokratien einst wie jetzt hingegen die große Ausnahme.

Wie in manchen anderen Staaten, so dominiert auch in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine aktionistische Kriminalpolitik, mit der Politiker auf Empörung oder Druck mit Tatkraft und Entschlossenheit reagieren - nämlich durch die relativ schlichte, schnelle und eindrucksvolle Verabschiedung jeweils neuer Strafgesetze.

Perspektive und Kriterien

Abolitionismus vs. Aktionismus. Wenn Politik aber dahin tendiert, sich auszuweiten und sich dabei besonders gerne auch der Strafgesetzgebung zur Verfolgung ihrer (legitimen oder weniger legitimen) Zwecke zu bedienen, so sollte Strafrechtswissenschaft sich als Strafbegrenzungswissenschaft verstehen und "der tendenziell unbegrenzten Strafwilligkeit der Politik rechtliche Grenzen signalisieren. In der Sache bedeutet dies eine abolitionistische Perspektive, also eine Perspektive der Entkriminalisierung - wohlgemerkt eine Perspektive, d.h. weder ein geschlossenes System noch ein kurzfristig umzusetzendes Aktionsprogramm, sondern einen Fluchtpunkt kriminalpolitischen und strafrechtswissenschaftlichen Denkens und Argumentierens" (Vormbaum 1995: 41).

Natürlich finden aktionistische Justizminister immer genügend Juristen, die Strafrechtswissenschaft anders betreiben. Nämlich als Kriminalisierungs-, Strafverfolgungs- und Kriminalitätsbekämpfungswissenschaft. Fachlichkeit in der Strafjustiz und in der Strafrechtswissenschaft bedeutet jedoch aus gutem Grund immer auch eine Haltung der Kritik gegenüber dem Strafrecht als dem schärfsten Schwert des Staates. Ein restriktiver Kontrapunkt gegenüber einer ausgreifenden und übergriffigen Politik ist, wie wir schon von Thomas Vormbaum (1995: 42 f.) wissen, aus zumindest drei Gründen von höchster Wichtigkeit. Er erklärt wörtlich:

  1. Für die mit staatlichem Strafen verbundenen Bedrängnisse, Beschränkungen und Leiden eine allseits anerkannte Begründung zu finden, ist bislang noch nicht gelungen. Ganz im Gegenteil: Die gegen staatliches Strafen erhobenen Einwände werden vielfältiger.
  2. Es entspricht dem Menschenbild eines demokratischen Rechtsstaates , mit sozialethischen Vorwürfen verbundene Eingriffe in die Freiheitssphäre der Bürger so gering wie möglich zu halten.
  3. Eine expandierende Strafgesetzgebung belastet das Strafjustizsstem mit einem 'Input', den es - wie sich gezeigt hat - auf die Dauer nur bewältigen kann, indem es kommunikative Standards des Strafprozesses herabsetzt, schützende Formen aufweicht, die Gesetzesbindung der Strafverfolgungsorgane lockert und Beschuldigtenrechte verkürzt.

Mit anderen Worten: "Strafrechtswissenschaft sollte gegenüber staatlicher Dispositionsfreiheit über das Strafrecht einen Gegenpol bilden. Sie sollte den Kriminalisierungswünschen der Politik den Grundsatz 'in dubio contra delictum' als eine Ausprägung des Grundsatzes 'in dubio pro libertate' entgegenhalten" (Vormbaum, aaO).

Über den strafrechtlichen Abolitionismus kursieren ja manche kuriosen Vorstellungen. Dazu sei mit Vormbaum (1995: 43) nur folgendes gesagt: "Abolitionistische Perspektive setzt nicht die Annahme voraus, das gesamte System gesellschaftlichen bzw. staatlichen Strafens sei eine Veranstaltung, die auf bloßen Definitionsvorgängen beruhe, in denen an sich nichtssagende soziale Verhaltensweisen zu kriminellen hochdefiniert werden. Sicherlich gibt es schlecht begründete oder von durchsichtigen Interessen diktierte Kriminalisierungen. Jedoch: Unnatürliche Todesfälle, schwere Körperverletzungen, Gebäudezerstörungen, gewaltsame Entwendungen von Sachen - diese und manche andere Vorgänge werden die Gesellschaft allemal interessieren. Ist Kriminalität aber nicht bloß ein Definitionsresultat, dann kann man sie auch nicht insgesamt durch Streichung von Straftatbeständen einfach wegdefinieren. Vielmehr gehört zu einem Entkriminalisierungskonzept und damit zu den Anforderungen an eine Strafbegrenzungswissenschaft auch, dass Überlegungen angestellt werden, wie punitive Reaktionen durch andere ersetzt werden können. Um noch einmal Gustav Radbruch in Anspruch zu nehmen: Es muss darum gehen, Strafrecht durch etwas anders zu ersetzen, das besser ist als Strafrecht. Für mich steht dabei nicht (wie bei Radbruch) ein 'Besserungs- und Bewahrungsrecht' im Vordergrund, sondern es geht um Reaktionsformen, die weniger in die Autonomie von Bürgern und Bürgerinnen eingreifen als Strafen. (...) Strafnormen zu streichen bedeutet also nicht immer, freiheitsräume zu erweitern. Die Radbruchsche Forderung lässt isch demnach auch umkehren: Nur durch etwas Besseres sollte Strafrecht ersetzt werden."

Kriterien aus der Verfassung. Das deutsche Verfassungsrecht kennt drei Kriterien der Verfassungsmäßigkeit von Strafgesetzen. Fällt ein Gesetz bei einem dieser drei Kriterien durch, ist es verfassungswidrig und eine Entkriminalisierung liegt in Reichweite.

  1. Ungeeignet ist ein Strafgesetz dann, wenn es den angestrebten Erfolg gar nicht erreichen kann. Das ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht sicherlich beim strafrechtlichen Drogenverbot der Fall, harrt aber noch entsprechender Erkenntnisse des Verfassungsgerichts.
  2. Viele Strafgesetze sind - selbst wenn man ihre grundsätzliche Eignung zur Zielerreichung unterstellt - nicht erforderlich, weil es andere und weniger einschneidende Mittel gibt. Denn nach dem Ultima-Ratio-Prinzip darf das Strafrecht als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen. Das Ultima-Ratio-Prinzip ist leider nicht explizit im Grundgesetz zu finden, gilt aber allgemein als Ausfluss des Prinzips der Verhältnismäßigkeit und beruht auf einer starken aufklärerisch-utilitaristisch-liberalen Basis. Man denke an Montesquieu und Beccaria ("Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch"), an Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires“, an Mittermaiers Diagnose aus dem Jahre 1819, dass es der "Grundfehler" unserer Zeit sei, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen“, und an Franz von Liszts Postulat, ein Verhalten dürfe nur unter Strafe gestellt werden, wenn und soweit dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“.
  3. Schließlich ist ein Strafgesetz verfassungswidrig, wenn es allzu tief und unverhältnismäßig in die Grundrechte eingreift.

Andererseits ist die Verfassungswidrigkeit eines Strafgesetzes noch kein absoluter Grund für die Entkriminalisierung: das Gesetz kann ja ausgebessert und muss nicht gleich ersatzlos gestrichen werden. Kriterien der Entkriminalisierung müssen also tiefer liegen, fundamentaler sein.

Kriterien aus der Idee des Rechts. Hier gerät man unweigerliche in die Gefilde der Rechtsphilosophie und damit schnell zu Gustav Radbruchs Idee des Rechts mit ihren drei Elementen der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit. Wo Strafrecht nicht alle drei Kriterien der Idee des Rechts erfüllen kann, da hat es sein Recht verloren.

  1. Gerechtigkeit
  2. Rechtssicherheit
  3. Zweckmäßigkeit

Akteure

Das Feld der Akteure unterschiedlicher Relevanz besteht aus den von einer Kriminalisierung Betroffenen, ihren Anwälten und Interessensanwälten in Wissenschaft, Justiz und Polizei, Wirtschaft, Medien, Parteien und sonstigen Vereinigungen sowie aus all denjenigen, die in Bürokratie und Politik nicht zuletzt mittels Sachverständigen (Task Forces, Expertenanhörungen, Gutachten) die Innen- und Rechtspolitik beeinflussen oder formulieren. Von besonderer Bedeutung ist die Schaltstelle zwischen externen Politikinteressenten einerseits (Lobbyisten, Wissenschaftler) und Entscheidungsgremien (Regierung, Parlament) andererseits. Hier können Parteien die wichtige Rolle von institutionellen Umsetzern (Hubert Treiber) einnehmen, wenn sie externe Forderungen zum Teil ihrer Programmatik machen und diese dann in einer Regierung auch umsetzen.

Entkriminalisierung hat immer dann eine Chance, wenn relevante Akteure in hinreichendem Maße:

  • Zweifel an Eignung, Erforderlichkeit und/oder Verhältnismäßigkeit der Kriminalisierung eines Verhaltens hegen
  • Vertrauen in alternative Kontrollen haben und
  • politische Gewinne - vor allem in der Form von Wählerstimmen - aus der Entkriminalisierung erwarten.

Geschichte

Die deutsche Strafrechtsgeschichte zeigt keine Tendenz zu einer fortschreitenden Entkriminalisierung. Stattfindende Entkriminalisierungen folgen gelegentlich einem sozialen Wertewandel, sind aber ansonsten meist der Unzufriedenheit über das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag der Strafverfolgung geschuldet.

Der zähe Kampf um die Reform des § 218 StGB zeigte gleich mehreres:

  • Das Strafgesetz soll idealiter nur den Bereich des allgemein konsentierten ethischen Minimums für ein gedeihliches gesellschaftliches Zusammenleben garantieren. Es soll sozusagen unbestrittene moralische Minimalstandards noch einmal auf der Ebene des formellen Gesetzes bekräftigen und verdoppeln. Tatsächlich aber dient Strafgesetzgebung oftmals dazu, die Wertvorstellungen eines Teils der Bevölkerung gegenüber den davon differierenden Wertvorstellungen anderer Bevölkerungsrteile zu privilegieren, indem man die ersteren strafbewehrt für alle Bürger verbindlich macht. Es wird den anderen Bevölkerungsgruppen sozusagen die Moral der einen oktroyiert.
  • Wo Strafgesetze benutzt werden, um in einer pluralistischen Gesellschaft die Wertvorstellungen einer Gruppe zu privilegieren und sie anderen unter Strafandrohung aufzuzwingen, da hat Kriminalisierung keine pazifizierende, sondern polarisierende und eskalierende, die Gesellschaft spaltende Funktion.
  • Die Rationalität von Diskussionen über die Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer Kriminalisierung ist begrenzt. Das hängt mit der mangelnden Trennschärfe der Kriterien, vor allem aber mit Problemen ihrer Operationalisierung, Messung und Gewichtung zusammen. Während Gegner der Kriminalisierung auf die hohe Dunkelziffer hinweisen und Eignung und Erforderlichkeit des Paragraphen bestreiten, ist für die Befürworter der Vorschrift das Gesetz gleichwohl besser als alles andere geeignet, den Wert des werdenden Lebens und die Pflicht des Staates und der Schwangeren und der Ärzte zu seinem Schutz herauszustellen. Expressive und instrumentelle Aspekte des Strafrechts lassen sich aber schwer gegeneinander aufrechnen. Das wiederum begünstigt die passive Funktion von Wissenschaft - ihre Instrumentalisierung - im rechtspolitischen Konfliktfall im Kontext größerer Kulturkämpfe oder culture wars.

Um die Jahrtausendwende blieben Initiativen zur Entkriminalisierung im Regelfall erfolglos. Man denke an:

  • 1989: Konzept zur transformierenden Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte (Beate Kohl & Sebastian Scheerer im Auftrag der Bundesfraktion „Die Grünen“)
  • 1992: Hessische Kommission Kriminalpolitik: Entkriminalisierungsvorschläge zum Straßenverkehrsrecht, zum Betäubungsmittelstrafrecht, zum Eigentums- und Vermögensstrafrecht sowie zum Strafverfahrensrecht
  • 1992: Niedersächsische Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts: Empfehlungen für Maßnahmen der Entkriminalisierung bei Bagatellverstößen gegen Eigentum und Vermögen, bei der Straßenverkehrsordnungsdelinquenz und im Betäubungsmittel-Strafrecht.
  • Vorlageschluss des Landgerichts Lübeck vom 19.12.1991 (NJW 1992, 1571) und Cannabis-Beschluss des BVerfG vom 9. März 1994, demzufolge bei geringfügigen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz durch den Erwerb, Besitz usw. von geringen Mengen von Cannabis zum Eigenverbrauch nach Ermessen der Strafverfolgungsbehörden von einem Strafverfahren abgesehen werden kann. - Die Kritik an diesem Beschluss geht nicht nur auf die Frage ein, ob Cannabiskonsum eher durch eine Freigabe als durch eine generalpräventive Wirkung des Strafrechts vermindert werden kann, sondern auch darauf, ob es überhaupt Aufgabe des Strafrechts sein kann, den Konsum zurückzudrängen oder ob der Staat nicht auf andere Einflussmöglichkeiten beschränkt sei (Problem der Strafwürdigkeit des Verhaltens). Am 21.10. 2010 begann der Deutsche Hanf-Verband DHV die Unterschriftensammlung für eine Petition zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten. Eine Anhörung fand am 25. 01.2012 in Berlin statt.
"Juristen, Suchtexperten und Mediziner sagen übereinstimmend, dass der Eigengebrauch von Cannabis nicht bestraft werden sollte. Bei einer Tagung in Frankfurt hatten Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten eine Entkriminalisierung des Konsums gefordert. So setzte sich die Initiative „Schildower Kreis“ für eine neue Drogenpolitik ein, da der Schwarzmarkt große Risiken berge. Auf der Internetseite des Netzwerkes läuft die „Prohibitionsuhr“, die unter anderem die Kosten der Drogenrepression zählt. Laut Heino Stöver von der FH Frankfurt konsumierten zwölf Prozent der Deutschen im vergangenen Jahr Cannabis aber nur drei Prozent davon seien Gewohnheitskiffer. Auch der Dauergebrauch sei auf niedrigem Niveau stabil und werde durch rechtliche Eingriffe kaum verändert. Ein Vertreter des Bundes Deutscher Kriminalbeamte berichtete, dass 145.000 der 250.000 Drogendelikte auf Cannabis entfielen aber die meisten dieser Verfahren aufgrund geringer Mengen aber eingestellt würden. Es entstünden unnötige Kosten, da Beamte für den Papierkorb arbeiteten. Unterdessen kündigte die Frankfurter Drogendezernentin Rosemarie Heilig ein Modellversuch in der Drogenpolitik an, nach welchem Prävention, Beratung und Therapie vor Repression gestellt werden soll.

"

Agenda 2020

Im Dezember 2017 veröffentlichte DIE ZEIT online einen Aufruf von Arthur Kreuzer unter dem Titel Reformiert endlich das Strafrecht! gegen die aktionistische Schaufenster-Strafgesetzgebung in unseren Tagen und für eine Versachlichung der Kriminalpolitik u.a. durch die Einsetzung einer Expertenkommission zur Reform des Strafrechts. Vor allem kritisierte er die mangelnde Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit vieler Gesetzesänderungen der jüngsten Zeit.

  • Strafbarkeit der "geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" (2015) statt Unterbindung problematischer Sterbehilfeorganisationen durch das Vereins- und Gewerberecht. Gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung markierte der unter maßgeblich kirchlicher Beteiligung zustandegekommene Gesetzesbeschluss einen schwarzen Tag für die Selbstbestimmung des Menschen am Lebensende:
"Man glaubte die Zeiten moralisierenden Strafrechts überwunden. Wegen der Unbestimmtheit der Regelung muss schon mit Strafverfolgung rechnen, wer in Palliativstationen oder Hospizen einen Sterberaum und Sterbebegleitung jemandem zusagt, der sich in einer unerträglichen Krankheitssituation bewusst etwa für das Sterbefasten entscheidet. Sterbebegleiter sehen sich dem Dilemma ausgesetzt: zwischen einer Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe und unterlassener Hilfeleistung. Das politische Ziel, die Palliativmedizin zu stärken, wird in sein Gegenteil verkehrt: In Palliativ- und Hospizarbeit Tätige werden verunsichert. Denunziationen enttäuschter Angehöriger von Verstorbenen sind absehbar, ebenso peinliche und erniedrigende polizeiliche Ermittlungen in den sensiblen intimsten Bereichen des Lebens und Sterbens. Dabei ist vorauszusehen, dass wegen zu erwartender Nachweisprobleme solche Verfahren später eingestellt werden."

(Und so konkurrierten vier Gesetzentwürfe sowie ein Antrag, alles beim Alten zu belassen, um die Mehrheit der Stimmen. Am Ende war der Gruppenantrag, den die Abgeordneten Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD) initiiert hatten, erfolgreich. Er sah vor, dass die ärztliche Sterbehilfe grundsätzlich erlaubt bleibt. Nur die „geschäftsmäßige“ Beihilfe zur Selbsttötung wurde unter Strafe gestellt, um den umstrittenen Vereinen die Arbeitsgrundlage zu entziehen. Ein Arzt, der Patienten wiederholt beim Suizid hilft – etwa indem er ihnen Zugang zu tödlich wirkenden Medikamenten verschafft – kann seitdem strafrechtlich belangt werden. Das Gesetz wurde danach dafür kritisiert, dass es auch die Falschen treffen könne – selbst redliche Ärzte, die mehrere Schwerstkranke betreuen, könnten kriminalisiert werden. Derzeit sind elf Klagen dagegen beim Bundesverfassungsgericht anhängig.)

  • Strafbarkeit des Eigendopings im Sport (2015) statt Unterbindung und Sanktionierung auf der Ebene von Verbandsstrafen durch Fachverbände. Was diese können - Verbandsstrafen verhängen, Titel aberkennen, Geldsanktionen erlassen, Sportler lebenslang sperren - ist der Polizei verwehrt; die Kriminalisierung ist nutzlos. Trotz entsprechender Vorschriften in manchen anderen Ländern wurde dort nicht ein einziger Sportler wegen Dopings strafrechtlich verurteilt.
  • Strafbarkeit der "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat" (2015) statt polizeilicher Gefahrenabwehr durch ordnungsbehördliches Ausreiseverbot. Was als Vorbereitung bezeichnet wird, nennt selbst der BGH "den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung" und sieht den "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" tangiert. Kreuzer dazu:
"Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden zu lassen, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen."
  • Strafbarkeit des versuchten Besitzes oder Erwerbs von Posingmaterial (2015) als populistische Reaktion auf den Fall Edathy. Kreuzer:
"Es reicht, Pornolinks anzuklicken. Den Aufruf einer solchen Website rückgängig zu machen, befreit nicht von der Strafbarkeit. Hier wird ... ein massenhaftes Verhalten kriminalisiert. Gerade junge Menschen kann das ... zur Denunziation unliebsamer Bekannter verleiten. Deswegen werden unzählige "Unschuldige ins Visier der Justiz geraten" (FAZ)."
  • Gleichstellung von sexuellen Handlungen "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" mit einer Vergewaltigung (2016). Ein Rückfall "in Strafrechtsmoralismus und Prüderie" (Tatjana Hörnle) und ein "Massendelikt, das voraussehbar manche Betroffene, aber auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Folgenlose Verfahrenseinstellungen sind zu erwarten. Hier ist mit Monika Frommel zu fordern: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." (Auch das Gewaltschutzgesetz böte hier bessere Ansätze.)
  • Strafbarkeit des Einbruchs in Privatwohnungen als Verbrechenstatbestand (2017). "Minder schwere Fälle" mit herabgesetzter Strafe wurden gestrichen. Offenbar eine Reaktion auf das Klischee von ausländischen Einbrecherbanden. Tatsächlich brechen aber oft auch z.B. Ex-Partner ein, um sich vermeintlich Ihnen Zustehendes zurückzuholen. Das Gesetz zwingt zu Übermaßstrafen und verführt die Justiz zu Umgehungsstrategien. Was sagt das BVerfG angesichts der Tatsache, dass es sogar beim schwereren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls "minder schwere Fälle" mit einer Mindeststrafe von 6 Monaten gibt?

Kreuzer fordert zudem die transformierende Entkriminalisierung beim Massendelikt Schwarzfahren und einige schon länger diskutierte Entpönalisierungen wie z.B. die Lockerung des zwingend vorgeschriebenen "Lebenslang" im Mordparagraphen und ein Ende der Ersatzfreiheitsstrafen.

Entrümpelung

Entkriminalisierung ist negative Kriminalpolitik. Es geht in erster Linie nicht darum, das Strafrecht zu verbessern, sondern zu verkleinern. Es geht in den Worten von Gustav Radbruch um einen Abbau des Strafrechts zugunsten von mehr Freiheit einerseits und mehr Schutz von Freiheitsräumen durch geeignete und verhältnismäßige Formen der sozialen Kontrolle.

  1. Zunächst ist in Angriff zu nehmen, was schon lange diskutiert, aber bislang liegen gelassen wurde. Dazu gehört die Abschaffung des § 219a StGB im Abtreibungsrecht, dazu gehört auch in einem ersten Schritt die transformierende Entkriminalisierung des Umgangs mit Cannabis und anderen Freizeitdrogen in der Konsumsphäre, also bei Erwerb und Besitz zum Eigengebrauch - mit einem wachen Blick auf die konsequentere Gesetzgebung in Uruguay und einigen Bundesstaaten der USA. Entkriminalisierung bedeutet Rückkehr zum Rechtsgüterschutz und das wiederum bedeutet Verzicht auf strafrechtlichen Schutz vor sich selbst. Nichts anderes aber versucht das heutige Betäubungsmittelrecht im Namen des politischen Ziels (das fälschlich als Rechtsgut ausgegeben wird) der Volksgesundheit. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Jedenfalls geht es bei der Entkriminalisierung nicht um Zwangstherapie und auch nicht nur um die Zulassung medical marihuana, sondern um die Rückbesinnung auf das Selbstbestimmungsrecht erwachsener Bürger in Bezug auf ihr Entspannungs- und Freizeitverhalten, also um das Recht auf recreational use, bzw. adult use. - Die lanjährige Stagnation der Drogenpolitik in Deutschland hat den Vorteil, dass wir uns inzwischen nur umschauen müssen, um nachahmenswerte Modell der Entkriminallsierung zu finden. In einem ersten Schritt können wir uns mit Entkriminalisierung der Konsumsphäre bei weiterbestehender Prohibition befassen (soft prohibition). Also mit einer Art De-Radikalisierung der Prohibition à la Portugal oder Holland.

Ähnlich verhält es sich seit 2018 mit Cannabis in Kalifornien. Dort darf jeder Bürger des Bundesstaates ab 21 Jahren bis zu 28,3 Gramm Cannabis (pro Monat) kaufen und bis zu sechs Pflanzen selbst anbauen. Konsum in der Öffentlichkeit sowie innerhalb von 1000 feet (300 m) von einer Schule ist ebenso verboten wie Autofahren unter dem Einfluss von Cannabis. Handel ist nur mit Lizenz des Bundesstaates und der Kommune erlaubt. Kommunen können sich auch ganz verweigern. Die Steuern sind mit 35% recht hoch. Pro Jahr wird in Kalifornien mit einem Cannabis-Steuer-Aufkommen von rund 1 Milliarde Dollar gerechnet. Insgesamt ist der kalifornische Marihuana-Markt alleine für die Jahre 2018-2021 laut der Firma Arcview geschätzte 40 Milliarden Dollar wert. - Trotz weiterbestehenden Prohibitionsgesetzes auf Bundesebene verfolgen aufgrund von Volksabstimmungen acht Bundesstaaten ihre eigene Regulationspolitik. Legalisierende Entkriminalisierungen fanden statt in Colorado, Washington, Oregon, Alaska, Maine, Massachusetts, Nevada und Kalifornien. In diesen acht Staaten gibt es sowohl "medical marihuana" (auf Rezept) als auch "recreational" marihuana "for adult use" ohne Rezept in dafür lizensierten Verkaufsstellen. - Regulation ist der Prohibition aber auch bei anderen Drogen überlegen. Die Beschränkung auf eine Cannabis-Reform darf insofern nicht das letzte Wort sein. Und die Beschränkung auf die Konsumsphäre natürlich sowieso nicht. Letztlich wäre mit Douglas Husak und Henner Hess an eine Angleichung der Drogenpolitik an die Zigarettenpolitik zu denken: Aufklärung über die Risiken, restriktive Gesetzgebung, aber Beibehaltung legalen Zugangs für diejenigen, die es unbedingt wollen.

  1. Überall, wo das Vereins- und/oder Gewerberecht besser geeignet ist als das Strafrecht, hat das Strafrecht als ultima ratio zurückzutreten.
  2. Beachtung verdient das jüngste Zensurgesetz des Bundesjustizministers Maas, auch Netzwerkdurchsetzungsgesetz genannt. Im vergangenen Sommer mit symbolischer Bedeutung im Kampf gegen rechts aufgeladen und ohne nennenswerte Kritik durch die Legislative geschleust, bedroht es nicht nur Twitter, Facebook und andere mit saftigen Strafen, wenn sie "offensichtlich rechtswidrige Inhalte" nicht binnen 24 Stunden löschen, es bedroht vor allem die Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, wie der erwartbare Skandal am ersten Tag nach seinem Inkrafttreten (um eine gelöschte Titanic-Satire) offenbarte. Historisch bewanderte Beobachter kann es das Fürchten lehren, wenn sie sehen, wie hemmungslos hier offenbar von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, anonym mit einem Mausklick Meinungsäußerungen zu denunzieren und damit kaum noch kontrollierbare zensurartige Lösch-Wellen auslösen, die unter Rechtsstaaten ihresgleichen suchen. Dass dabei ganze Bereiche kritischer Politik-Kommentierung im Netz in den Geruch der Illegitimität geraten, ist schlimm und sollte von niemadem, dem der Rechtsstaat etwas wert ist, auch nur billigend in Kauf genommen werden. Man denke hier etwa an die pauschale Verdächtigung von Kritikern der israelischen Besatzungspolitik als verkappte Antisemiten und die skandalösen Kündigungen von Bankkonten jüdischer Bürger, die sich für einen gerechten Frieden in Nahost einsetzen (Feest 2018).
  3. Eigentums- und Vermögensdelikte: Erster Schritt wäre die Rücknahme der Strafverschärfung von 2017 beim Tatbestand des Einbruchs in Privatwohnungen. Aus dem Verbrechen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr ist wieder ein Vergehen zu machen; auch ist der eklatante Widerspruch zum bandenmäßigen Einbruchsdiebstahl (wo es weiterhin die minder schweren Fälle mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten gibt) durch Wiedereinführung des minder schweren Falles zu beseitigen. Zweiter Schritt wäre die Herabstufung der Massenbagatelldelinquenz in diesem Bereich zu Ordnungswidrigkeiten.
  4. Sexualdelikte. Bloß moralwidriges Handeln, das nicht auch sozialschädlich ist, ist nicht strafwürdig. Schon Gustav Radbruch hatte gefordert, bloße Moralverstöße aus dem Strafrecht zu eliminieren, also die Tatbestände des Ehebruchs, der Sodomie, der einfachen Homosexualität und der sogenannten Verlobtenkuppelei, und nach einem halben Jahrhundert hatte das dann auch funktioniert. Dann die Frage, ob das Gewicht der Handlung tatsächlich eine Reaktion mit einer Kriminalstrafe als unverzichtbar erscheinen lässt. Dass das heutige Sexualstrafrecht nach Radbruch'schen Kriterien kritisch durchzumustern ist insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs des Verwaltungsrechts, steht außer Frage. Erneut auf die Tagesordnung gehört auch die freiheitliche und die Freiheit aller Beteiligten schützende Regulierung der Prostitution - vor allem auf dem Wege des Gewerberechts. Monika Frommel meint: "zurück zum alten Recht des § 177, nur § 177 Abs. 1 Nr. 3 etwas weiter fassen, damit die dusselige Rechtsprechung zu den Überrumpelungsfällen entfällt und diese Konstellation gut erfasst wird. Die Missbrauchsfälle (etwa von Jugendlichen) im Neuen Recht 2016 sind akzeptabel. - Die sog. Freierbestrafung muss weg."

Auf längere Sicht

Reduktion auf das Kernstrafrecht

Das Strafrecht ist eine Institution des Rechtszwangs par excellence. Im Strafrecht kristallisiert sich der Anspruch der Herrschaft auf weitgehende und im Extremfall totale Verfügung über die Existenz der Untertanen: je autoritärer das Regime, desto härter das Strafrecht. Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit begrenzt das Strafrecht zunächst einmal auf das absolut notwendige Ausmaß. Schon der große Montesquieu wusste: "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch." Hundert Jahre später erklärte Mittermaier (1819) es zum "Grundfehler" seiner Zeit, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ Und kein geringerer als Franz von Liszt forderte unmissverständlich, dass ein Verhalten nur dann unter Strafe gestellt werden dürfe, wenn und soweit es dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Gustav Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert. Strafrecht, so die Lehre der ultima ratio, darf als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen.

  1. Kritischer Durchsicht bedürfen auch die Tatbestände im Bereich der sog. organisierten Kriminalität, im Transplantationsgesetz und in anderen Bereichen des Nebenstrafrechts.

General-Entkriminalisierung

  1. Restorative Justice statt Strafprozess.

Weblinks und Literatur

Siehe auch