Entkriminalisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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#Eine expandierende Strafgesetzgebung belastet das Strafjustizsstem mit einem 'Input', den es - wie sich gezeigt hat - auf die Dauer nur bewältigen kann, indem es kommunikative Standards des Strafprozesses herabsetzt, schützende Formen aufweicht, die Gesetzesbindung der Strafverfolgungsorgane lockert und Beschuldigtenrechte verkürzt.  
#Eine expandierende Strafgesetzgebung belastet das Strafjustizsstem mit einem 'Input', den es - wie sich gezeigt hat - auf die Dauer nur bewältigen kann, indem es kommunikative Standards des Strafprozesses herabsetzt, schützende Formen aufweicht, die Gesetzesbindung der Strafverfolgungsorgane lockert und Beschuldigtenrechte verkürzt.  


Daher nochmals: Strafrechtswissenschaft sollte gegenüber staatlicher Dispositionsfreiheit über das Strafrecht einen Gegenpol bilden. Sie sollte den Kriminalisierungswünschen der Politik den Grundsatz 'in dubio contra delictum' als eine Ausprägung des Grundsatzes 'in dubio pro libertate' entgegenhalten" (Vormbaum 1995: 41 f.).
Daher nochmals: Strafrechtswissenschaft sollte gegenüber staatlicher Dispositionsfreiheit über das Strafrecht einen Gegenpol bilden. Sie sollte den Kriminalisierungswünschen der Politik den Grundsatz 'in dubio contra delictum' als eine Ausprägung des Grundsatzes 'in dubio pro libertate' entgegenhalten."  (....)
 
Abolitionistische Perspektive setzt nicht die Annahme voraus, das gesamte System gesellschaftlichen bzw. staatlichen Strafens sei eine Veranstaltung, die auf bloßen Definitionsvorgängen beruhe, in denen an sich nichtssagende soziale Verhaltensweisen zu kriminellen hochdefiniert werden. Sicherlich gibt es schlecht begründete oder von durchsichtigen Interessen diktierte Kriminalisierungen. Jedoch: Unnatürliche Todesfälle, schwere Körperverletzungen, Gebäudezerstörungen, gewaltsame Entwendungen von Sachen - diese und manche andere Vorgänge werden die Gesellschaft allemal interessieren. Ist Kriminalität aber nicht bloß ein Definitionsresultat, dann kann man sie auch nicht insgesamt durch Streichung von Straftatbeständen einfach wegdefinieren. Vielmehr gehört zu einem Entkriminalisierungskonzept und damit zu den Anforderungen an eine Strafbegrenzungswissenschaft auch, dass Überlegungen angestellt werden, wie punitive Reaktionen durch andere ersetzt werden können. Um noch einmal Gustav Radbruch in Anspruch zu nehmen: Es muss darum gehen, Strafrecht durch etwas anders zu ersetzen, das besser ist als Strafrecht. Für mich steht dabei nicht (wie bei Radbruch) ein 'Besserungs- und Bewahrungsrecht' im Vordergrund, sondern es geht um Reaktionsformen, die weniger in die Autonomie von Bürgern und Bürgerinnen eingreifen als Strafen. (...) Strafnormen zu streichen bedeutet also nicht immer, freiheitsräume zu erweitern. Die Radbruchsche Forderung lässt isch demnach auch umkehren: Nur durch etwas Besseres sollte Strafrecht ersetzt werden" (Vormbaum 1995: 41-43).


=== Reduktion auf das Kernstrafrecht ===
=== Reduktion auf das Kernstrafrecht ===

Version vom 20. Januar 2018, 20:54 Uhr

Begriff

Entkriminalisierung bezeichnet den Vorgang der Rücknahme einer Kriminalisierung. Durch die Entkriminalisierung entfällt die Strafbarkeit eines Verhaltens.

Der Europarat (Council of Europe 1980: 13) definierte Entkriminalisierung als die Gesamtheit der Prozesse, mittels derer bestimmte Verhaltensweisen dem Zuständigkeitsbereich des Strafrechts entzogen werden, bzw. „by which the 'competence' of the penal system to apply sanctions as a reaction to a certain form of conduct is withdrawn“.

Wie die Kriminalisierung so bedarf auch die Entkriminalisierung normalerweise eines Gesetzes (Entkriminalisierung de jure). Von einer de facto Entkriminalisierung spricht man, wenn die Normgeltung durch progressive Nichtanzeige, Nichtverfolgung und Nichtbestrafung erodiert und das Verhalten faktisch straflos gestellt ist, obwohl die Strafdrohung auf dem Papier weiter besteht.

Einer de jure Entkriminalisierung geht nicht selten eine de facto Entkriminalisierung voraus.

Der Begriff der Entkriminalisierung ist nicht gleichbedeutend mit dem der Legalisierung. Ein Verhalten kann entkriminalisiert werden, aber trotzdem verboten bleiben (z.B. wenn es zu einer bloßen Ordnungswidrigkeit herabgestuft und damit aus dem Bereich des Kriminalrechts entfernt und dem Verwaltungsrecht zugeordnet wird).

Außer legalisierenden Entkriminalisierungen (bei denen aus einem strafbaren ein erlaubtes Verhalten wird) gibt es auch transformierende Entkriminalisierungen (bei denen die Strafbarkeit, nicht aber das Verboten-Sein des Verhaltens entfällt). Beispiel für eine transformierende Entkriminalisierung ist die Umwandlung der strafbaren Straßenverkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten durch das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24.5.1968. Dadurch wurden Tatbestände formal aus dem Strafrecht ausgegliedert, um anschließend in einer anderen Rechtsmaterie, in einem Katalog für Ordnungswidrigkeiten, wieder aufzutauchen. Das Verhalten wurde vom Odium des Kriminellen befreit. Insofern war es keine nur scheinbare Entkriminalisierung (so aber Naucke 1984), sondern eine wirkliche, nur eben nicht ersatzlos und legalisierend, sondern transformierend.

Gründe und Kriterien

Entkriminalisierungen kommen aus zweck- und/oder wertrationalen Gründen immer dann in Betracht, wenn relevante Akteure entweder

  1. das Verhalten nicht mehr so schlimm finden, bzw. ein bislang geächtetes Verhalten anerkennen (der Europarat - Council of Europe 1980: 15 - spricht dann vom Typ A der Entkriminalisierung, der auf einem Wandel moralischer Bewertung beruht), oder wenn sie
  2. die Rolle des Staates zurückhaltender definieren als der seinerzeitige Strafgesetzgeber (Typ B: Wandel in der Auffassung von den Befugnissen des Strafgesetzgebers), oder wenn sie
  3. zu einem negativen Kosten-Nutzen-Saldo tendieren (Typ C: Wandel in der Effektivitäts- bzw. Effizienzerwartung an das strafrechtliche Instrumentarium).

Das deutsche Verfassungsrecht kennt drei Kriterien der Verfassungsmäßigkeit von Strafgesetzen. Fällt ein Gesetz bei einem dieser drei Kriterien durch, ist es verfassungswidrig und eine Entkriminalisierung liegt in Reichweite.

Ungeeignet ist ein Strafgesetz dann, wenn es den angestrebten Erfolg gar nicht erreichen kann. Das ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht sicherlich beim strafrechtlichen Drogenverbot der Fall, harrt aber noch entsprechender Erkenntnisse des Verfassungsgerichts.

Viele Strafgesetze sind - selbst wenn man ihre grundsätzliche Eignung zur Zielerreichung unterstellt - nicht erforderlich, weil es andere und weniger einschneidende Mittel gibt. Denn nach dem Ultima-Ratio-Prinzip darf das Strafrecht als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen.

  • Beccaria 1764/1966: 52 - jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch
  • Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires.“
  • Mittermaier 1819: es ist der "Grundfehler" unserer Zeit, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“
  • Franz von Liszt forderte, dass ein Verhalten nur unter Strafe gestellt werden dürfe, wenn und soweit es dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“
  • Gustav Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert.

Schließlich kann ein Strafgesetz verfassungswidrig sein, weil es allzu tief und unverhältnismäßig in die Grundrechte eingreift.

Akteure

Das Feld der Akteure unterschiedlicher Relevanz besteht aus den von einer Kriminalisierung Betroffenen, ihren Anwälten und Interessensanwälten in Wissenschaft, Justiz und Polizei, Wirtschaft, Medien, Parteien und sonstigen Vereinigungen sowie aus all denjenigen, die in Bürokratie und Politik nicht zuletzt mittels Sachverständigen (Task Forces, Expertenanhörungen, Gutachten) die Innen- und Rechtspolitik beeinflussen oder formulieren. Von besonderer Bedeutung ist die Schaltstelle zwischen externen Politikinteressenten einerseits (Lobbyisten, Wissenschaftler) und Entscheidungsgremien (Regierung, Parlament) andererseits. Hier können Parteien die wichtige Rolle von institutionellen Umsetzern (Hubert Treiber) einnehmen, wenn sie externe Forderungen zum Teil ihrer Programmatik machen und diese dann in einer Regierung auch umsetzen.

Entkriminalisierung hat immer dann eine Chance, wenn relevante Akteure in hinreichendem Maße:

  • Zweifel an Eignung, Erforderlichkeit und/oder Verhältnismäßigkeit der Kriminalisierung eines Verhaltens hegen
  • Vertrauen in alternative Kontrollen haben und
  • politische Gewinne - vor allem in der Form von Wählerstimmen - aus der Entkriminalisierung erwarten.

Geschichte

Die deutsche Strafrechtsgeschichte zeigt keine Tendenz zu einer fortschreitenden Humanisierung oder auch nur zu einer immer weiteren Entkriminalisierung. Und wenn es zu Entkriminalisierungen kam, dann handelte es sich in den wenigsten Fällen zwar um einen Wertwandel im Sinne einer ethischen Unbedenklichkeitsbescheinigung für ein einstmals vielleicht zu unrecht stigmatisiertes Verhalten - auch wenn manchmal ein Zug zur Milde zu erkennen ist, so wie im Jahre 1923, als das Jugendgerichtsgesetz (JGG) die Strafmündigkeitsgrenze von 12 auf 14 anhob und damit auch eine veränderte Einstellung zum Jugendalter und dazu manifestierte, wie man mit den speziellen Lebensumständen und Entwicklungen umgehen sollte. Meist sind es aber wohl doch eher trivial anmutende Kosten-Nutzen-Rechnungen, die den Weg zu einer Rücknahme der Strafdrohung ebneten, wenn und weil man den Verwaltungs- und Bestrafungsaufwand für nicht mehr vertretbar hält im Vergleich zu seinem Ertrag.

Das gilt etwa für die Emminger-Verordnungen von 1924, die auf das Ermächtigungsgesetz vom 08.12.1923 zurückgingen, das das Regieren auf dem Verordnungswege unter Umgehung des Parlaments gestattete, soweit die Maßnahmen im Hinblick auf die Not von Volk und Reich erforderlich waren. Die "Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924" (RGBl. I 15ff.) des kurzzeitigen Justizministers Erich Emminger (30.11.23-15.4.24) bewirkte bekanntlich eine der tiefgreifendsten Umgestaltungen des Kriminalwesens, indem es nicht nur das Schwurgericht alter Form mit seiner Trennung von Richter- und Geschworenenbank sowie von Straf- und Schuldfrage abschaffte und an dessen Stelle die einheitliche Richterbank aus drei Berufsrichtern und sechs Geschworenen setzte, sondern der Staatsanwaltschaft auch die Verfolgung geringfügiger Übertretungen untersagte, soweit das öffentliche Interesse nicht dagegenstand. In einem regulären parlamentarischen Verfahren hätte eine solche partielle de facto Entkriminalisierung es wohl sehr viel schwerer gehabt. Wie überhaupt die Aufhebung von Strafgesetzen per ordre de mufti bzw. durch einen deus ex machina manchmal etwas Befreiendes anhaften kann. Man denke an die simultane Aufhebung gleich mehrerer Bestimmungen des deutschen Strafrechts - z.B. §§ 2, 2b, 134b, 226b RStGB - durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30.1.1946.

Weniger ethischen Grundsätzen als vielmehr einer deutlichen Entlastung des Kriminaljustizsystems - nun allerdings wieder auf dem regulären parlamentarischen Weg - diente auch die Herabstufung der strafgesetzlichen Tatbestände der sog. Übertretungen auf das Niveau von Ordnungswidrigkeiten (1975) - teils aber auch Aufwertung zu Vergehen (vgl. Baumann JZ 72, 2ff., Dencker JZ 73, 144 ff.).

Einem liberalen Wertwandel entsprang die Strafrechtsreform der 1960er und 1970er Jahre. Vereinigungen wie die Humanistische Union und vor allem die sog. Alternativprofessoren verbündeten sich in ihrer Opposition zum konservativ-reaktionären Strafgesetzbuch-Entwurf von 1962 (E 62) und fanden in der FDP (Wahlspruch: "Wir schneiden die alten Zöpfe ab") einen geeigneten institutionellen Umsetzer (Hubert Treiber). Nur moralwidriges oder sittenwidriges, aber nicht in erheblichem Maße sozialschädliches Verhalten sollte nicht mehr strafbar sein. Auch dann nicht, wenn es von großen Teilen der Bevölkerung als anstößig bzw. unsittlich angesehen werde. So kam es mit dem *1. StrRG vom 25.6.1969 nicht nur zur Abschaffung des Zuchthauses (Entpönalisierung) und zur Herabstufung der Abtreibung vom Verbrechen zum Vergehen, sondern auch mittels Streichung oder Einschränkung zur Entkriminalisierung des Ehebruchs(172 a.F.), der Unzucht mit Tieren (175b a.F.), der Unzucht zwischen Männern (175b a.F.), der Kuppelei (180 a.F.) und der Prostitution (180a I, 181a II).

  • Während des 2. StrRG vom 4.7.1969 für 1973, dann verschoben auf 1975, den AT neu fasste und das Rechtsfolgensystem ummodelte (Tagessatzsystem und die nie in Kraft getretenen Vorschriften zu Sozialtherapeutischen Anstalten, 65 a.F.), brachte das 3. StrRG vom 20.5.1970 die Reform des Demonstrationsstrafrechts und das 4. StrRG vom 23.11.1973 die Reform des Sexualstrafrechts mit der Umorientierung des Schutzobjekts von der Sittlichkeit zur sexuellen Selbstbestimmung. Das 5. StrRG vom 8.6.1974 brachte die später vom BVerfG für verfassungswidrig erklärte Fristenlösung. Nach der Wiedervereinigung kam die Fristenlösung dann zurück und auch das BVerfG kam zurück: und erklärte auch dieses Gesetz für verfassungswidrig. Nachdem die grundlegende Strafrechtsreform nach 1976 nicht mehr verfolgt wurde und ein Torso bleiben sollte, erfolgte 1998 mit dem 6. StrRG die zahlenmäßig umfassendste Reform des BT seit 1871.

Der zähe Kampf um die Reform des § 218 StGB zeigte gleich mehreres:

  • Das Strafgesetz soll idealiter nur den Bereich des allgemein konsentierten ethischen Minimums für ein gedeihliches gesellschaftliches Zusammenleben garantieren. Es soll sozusagen unbestrittene moralische Minimalstandards noch einmal auf der Ebene des formellen Gesetzes bekräftigen und verdoppeln. Tatsächlich aber dient Strafgesetzgebung oftmals dazu, die Wertvorstellungen eines Teils der Bevölkerung gegenüber den davon differierenden Wertvorstellungen anderer Bevölkerungsrteile zu privilegieren, indem man die ersteren strafbewehrt für alle Bürger verbindlich macht. Es wird den anderen Bevölkerungsgruppen sozusagen die Moral der einen oktroyiert.
  • Wo Strafgesetze benutzt werden, um in einer pluralistischen Gesellschaft die Wertvorstellungen einer Gruppe zu privilegieren und sie anderen unter Strafandrohung aufzuzwingen, da hat Kriminalisierung keine pazifizierende, sondern polarisierende und eskalierende, die Gesellschaft spaltende Funktion.
  • Die Rationalität von Diskussionen über die Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer Kriminalisierung ist begrenzt. Das hängt mit der mangelnden Trennschärfe der Kriterien, vor allem aber mit Problemen ihrer Operationalisierung, Messung und Gewichtung zusammen. Während Gegner der Kriminalisierung auf die hohe Dunkelziffer hinweisen und Eignung und Erforderlichkeit des Paragraphen bestreiten, ist für die Befürworter der Vorschrift das Gesetz gleichwohl besser als alles andere geeignet, den Wert des werdenden Lebens und die Pflicht des Staates und der Schwangeren und der Ärzte zu seinem Schutz herauszustellen. Expressive und instrumentelle Aspekte des Strafrechts lassen sich aber schwer gegeneinander aufrechnen. Das wiederum begünstigt die passive Funktion von Wissenschaft - ihre Instrumentalisierung - im rechtspolitischen Konfliktfall im Kontext größerer Kulturkämpfe oder culture wars.

Um die Jahrtausendwende blieben Initiativen zur Entkriminalisierung im Regelfall erfolglos. Man denke an:

  • 1989: Konzept zur transformierenden Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte (Beate Kohl & Sebastian Scheerer im Auftrag der Bundesfraktion „Die Grünen“)
  • 1992: Hessische Kommission Kriminalpolitik: Entkriminalisierungsvorschläge zum Straßenverkehrsrecht, zum Betäubungsmittelstrafrecht, zum Eigentums- und Vermögensstrafrecht sowie zum Strafverfahrensrecht
  • 1992: Niedersächsische Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts: Empfehlungen für Maßnahmen der Entkriminalisierung bei Bagatellverstößen gegen Eigentum und Vermögen, bei der Straßenverkehrsordnungsdelinquenz und im Betäubungsmittel-Strafrecht.
  • Vorlageschluss des Landgerichts Lübeck vom 19.12.1991 (NJW 1992, 1571) und Cannabis-Beschluss des BVerfG vom 9. März 1994, demzufolge bei geringfügigen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz durch den Erwerb, Besitz usw. von geringen Mengen von Cannabis zum Eigenverbrauch nach Ermessen der Strafverfolgungsbehörden von einem Strafverfahren abgesehen werden kann. - Die Kritik an diesem Beschluss geht nicht nur auf die Frage ein, ob Cannabiskonsum eher durch eine Freigabe als durch eine generalpräventive Wirkung des Strafrechts vermindert werden kann, sondern auch darauf, ob es überhaupt Aufgabe des Strafrechts sein kann, den Konsum zurückzudrängen oder ob der Staat nicht auf andere Einflussmöglichkeiten beschränkt sei (Problem der Strafwürdigkeit des Verhaltens). Am 21.10. 2010 begann der Deutsche Hanf-Verband DHV die Unterschriftensammlung für eine Petition zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten. Eine Anhörung fand am 25. 01.2012 in Berlin statt.
"Juristen, Suchtexperten und Mediziner sagen übereinstimmend, dass der Eigengebrauch von Cannabis nicht bestraft werden sollte. Bei einer Tagung in Frankfurt hatten Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten eine Entkriminalisierung des Konsums gefordert. So setzte sich die Initiative „Schildower Kreis“ für eine neue Drogenpolitik ein, da der Schwarzmarkt große Risiken berge. Auf der Internetseite des Netzwerkes läuft die „Prohibitionsuhr“, die unter anderem die Kosten der Drogenrepression zählt. Laut Heino Stöver von der FH Frankfurt konsumierten zwölf Prozent der Deutschen im vergangenen Jahr Cannabis aber nur drei Prozent davon seien Gewohnheitskiffer. Auch der Dauergebrauch sei auf niedrigem Niveau stabil und werde durch rechtliche Eingriffe kaum verändert. Ein Vertreter des Bundes Deutscher Kriminalbeamte berichtete, dass 145.000 der 250.000 Drogendelikte auf Cannabis entfielen aber die meisten dieser Verfahren aufgrund geringer Mengen aber eingestellt würden. Es entstünden unnötige Kosten, da Beamte für den Papierkorb arbeiteten. Unterdessen kündigte die Frankfurter Drogendezernentin Rosemarie Heilig ein Modellversuch in der Drogenpolitik an, nach welchem Prävention, Beratung und Therapie vor Repression gestellt werden soll.

"

"Reformiert endlich das Strafrecht!"

Im Dezember 2017 veröffentlichte DIE ZEIT online einen Aufruf von Arthur Kreuzer, endlich das Strafrecht zu reformieren und statt auf öffentlichkeitswirksame symbolische (populistische) Schaufenstergesetzgebung auf zweckmäßige Mittel zu setzen. Strafgesetzgebung solle durch die Wiederaufnahme der Veröffentlichung des (eingestellten) Periodischen Sicherheitsberichts der Bundesregierung und durch die Einrichtung einer Expertenkommission zur Reform des Strafrechts seriöser werden. Unverhältnismäßig, weil nicht erforderlich und weitgehend auch nicht geeignet sei die Einführung neuer Straftatbestände zum Beispiel in folgenden Fällen gewesen:

  • Strafbarkeit der "geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" (2015) statt Unterbindung problematischer Sterbehilfeorganisationen durch das Vereins- und Gewerberecht. Gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung markierte der unter maßgeblich kirchlicher Beteiligung zustandegekommene Gesetzesbeschluss den "schwarzen Freitag für die Selbstbestimmung am Lebensende" (Henning Rosenau). Kreuzer: "Man glaubte die Zeiten moralisierenden Strafrechts überwunden. Wegen der Unbestimmtheit der Regelung muss schon mit Strafverfolgung rechnen, wer in Palliativstationen oder Hospizen einen Sterberaum und Sterbebegleitung jemandem zusagt, der sich in einer unerträglichen Krankheitssituation bewusst etwa für das Sterbefasten entscheidet. Sterbebegleiter sehen sich dem Dilemma ausgesetzt: zwischen einer Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe und unterlassener Hilfeleistung. Das politische Ziel, die Palliativmedizin zu stärken, wird in sein Gegenteil verkehrt: In Palliativ- und Hospizarbeit Tätige werden verunsichert. Denunziationen enttäuschter Angehöriger von Verstorbenen sind absehbar, ebenso peinliche und erniedrigende polizeiliche Ermittlungen in den sensiblen intimsten Bereichen des Lebens und Sterbens. Dabei ist vorauszusehen, dass wegen zu erwartender Nachweisprobleme solche Verfahren später eingestellt werden."
  • Strafbarkeit des Eigendopings im Sport (2015) statt Unterbindung und Sanktionierung auf der Ebene von Verbandsstrafen durch Fachverbände. Was diese können - Verbandsstrafen verhängen, Titel aberkennen, Geldsanktionen erlassen, Sportler lebenslang sperren - ist auch ohne Kriminalisierung genug. Letztere ist zudem nutzlos: wo es im Ausland solche Kriminalisierungen gibt, ist nirgendwo auch nur ein einziger Sportler wegen Dopings strafrechtlich verurteilt worden.
  • Strafbarkeit der "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat" (2015) statt polizeilicher Gefahrenabwehr durch ordnungsbehördliches Ausreiseverbot. Was als Vorbereitung konstruiert wird, nennt selbst der BGH "den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung" und wähnte den "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" tangiert. Kreuzer: "Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden lassen kann, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen." Wo sich das Strafrecht so weit ins Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen vorwagt, mündet es letztlich in ein Gesinnungsstrafrecht. Das ist weder rechtsstaatlich noch verhältnismäßig.
  • Strafbarkeit des versuchten Besitzes oder Erwerbs von Posingmaterial (2015) wegen des Edathy-Skandals. Kreuzer: "Es reicht, Pornolinks anzuklicken. Den Aufruf einer solchen Website rückgängig zu machen, befreit nicht von der Strafbarkeit. Hier wird zudem ein massenhaftes Verhalten kriminalisiert. Gerade junge Menschen kann das ... zur Denunziation unliebsamer Bekannter verleiten. Deswegen werden unzählige "Unschuldige ins Visier der Justiz geraten" (FAZ)."
  • Strafbarkeit sexueller Handlungen "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" und deren Gleichstellung mit der Vergewaltigung (2016). Ein Rückfall "in Strafrechtsmoralismus und Prüderie" (Tatjana Hörnle) und ein "Massendelikt, das voraussehbar zwar manche Betroffene, leider auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Folgenlose Verfahrenseinstellungen sind zu erwarten. Verurteilungsquoten bei Sexualdelikten werden weiter sinken. - Frauenverbände werden erst recht rügen, die Justiz nehme solches Verhalten nicht ernst. Indes lässt die bekannte Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nichts anderes zu. Die Kieler Strafrechtlerin Monika Frommel bringt es auf die Formel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." Auch das Gewaltschutzgesetz böte hier sinnvollere Ansätze.
  • Strafbarkeit des Einbruchs in Privatwohnungen als Verbrechenstatbestand (2017). "Minder schwere Fälle" mit herabgesetzter Strafe sind gestrichen. Offenbar eine Reaktion auf das Klischee von ausländischen Einbrecherbanden. Tatsächlich spielt sich aber vieles im Nahraum ab, wenn etwa ehemalige Partner, Angestellte oder Nachbarn in die Wohnung einsteigen, um sich vermeintlich Ihnen Zustehendes zurückzuholen. Die jetzt drohenden Übermaßstrafen dürften entweder das Verfassungsgericht beschäftigen oder zu Umgehungsstrategien der Justiz führen. Da es sogar beim schwereren Tatbestand des bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls "minder schwere Fälle" mit einer Mindeststrafe von 6 Monaten gibt, ist die Streichung dieser Kategorie beim Einbruch in Privatwohnungen nicht erfahrungs-, sondern auch systemwidrig.

Kreuzer verzichtet auf die ausdrückliche Forderung nach einer Streichung der jüngsten Kriminalisierungen. Entkriminalisierung schlägt er hingegen vor für Massenbagatelldelikte und dort insbesondere für das zur Ordnungswidrigkeit herabzustufende Schwarzfahren. Ansonsten beschränkt er sich auf Entpönalisierungs- und Milderungsforderungen wie z.B. die Lockerung des zwingend vorgeschriebenen "Lebenslang" im Mordparagraphen als ersten Schritt einer Reform der Tötungsdelikte und die - in der Praxis überaus wichtige - Entlastung des Strafvollzugs von den Gefangenen, die lediglich Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen. Eher halbherzig hingegen klingen seine Vorschläge zum Ausbau des Drug Checking und der Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigen und sein vager Appell zur Orientierung an ausländischen Vorbildern im Hinblick auf die entkriminalisierenden Modelle im Betäubungsmittelstrafrecht.

Entrümpelung

Entkriminalisierung ist negative Kriminalpolitik. Es geht in erster Linie nicht darum, das Strafrecht zu verbessern, sondern zu verkleinern. Es geht in den Worten von Gustav Radbruch um einen Abbau des Strafrechts zugunsten von mehr Freiheit einerseits und mehr Schutz von Freiheitsräumen durch geeignete und verhältnismäßige Formen der sozialen Kontrolle.

  1. Zunächst ist in Angriff zu nehmen, was schon lange diskutiert, aber bislang liegen gelassen wurde. Dazu gehört die Abschaffung des § 219a StGB im Abtreibungsrecht, dazu gehört auch in einem ersten Schritt die transformierende Entkriminalisierung des Umgangs mit Cannabis und anderen Freizeitdrogen in der Konsumsphäre, also bei Erwerb und Besitz zum Eigengebrauch - mit einem wachen Blick auf die konsequentere Gesetzgebung in Uruguay und einigen Bundesstaaten der USA. Entkriminalisierung bedeutet Rückkehr zum Rechtsgüterschutz und das wiederum bedeutet Verzicht auf strafrechtlichen Schutz vor sich selbst. Nichts anderes aber versucht das heutige Betäubungsmittelrecht im Namen des politischen Ziels (das fälschlich als Rechtsgut ausgegeben wird) der Volksgesundheit. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Jedenfalls geht es bei der Entkriminalisierung nicht um Zwangstherapie und auch nicht nur um die Zulassung medical marihuana, sondern um die Rückbesinnung auf das Selbstbestimmungsrecht erwachsener Bürger in Bezug auf ihr Entspannungs- und Freizeitverhalten, also um das Recht auf recreational use, bzw. adult use. - Die lanjährige Stagnation der Drogenpolitik in Deutschland hat den Vorteil, dass wir uns inzwischen nur umschauen müssen, um nachahmenswerte Modell der Entkriminallsierung zu finden. In einem ersten Schritt können wir uns mit Entkriminalisierung der Konsumsphäre bei weiterbestehender Prohibition befassen (soft prohibition). Also mit einer Art De-Radikalisierung der Prohibition à la Portugal oder Holland. - In Portugal hat man mit der Herabstufung der Konsumsphären-Tatbestände zu Ordnungswidrigkeiten gute Erfahrungen gemacht. Seit 2001 spricht das Drogenrecht in Portugal ausdrücklich vom Primat der Entkriminalisierung, obwohl Drogenschmuggel und -handel weiterhin streng bestraft werden. Die Bevölkerung ist aber mit der neuen Regelung zufrieden. Überdosis-Todesfälle und Geschlechtskrankheiten sind zurückgegangen, während der Drogengebrauch insgesamt stagnierte oder sogar rückläufig war. Glenn Greenwald bezeichnete die Reform als "resounding success" und wichtig für drogenpolitische Debatten auf der ganzen Welt. - Die faktische Entkriminalisierung von Cannabis in Holland, wo Erwachsene bis zu sechs Cannabispflanzen für den Eigengebrauch aufziehen dürfen und wo der Verkauf von Cannabis in sog. Coffeeshops toleriert wird, solange diese Läden von der jeweiligen Gemeinde erlaubt und mindestens 250 m von der nächsten Schule entfernt liegen und die fünf Bedingungen erfüllen (1) keine Werbung zu betreiben, (2) keine harten Drogen zu tolerieren, (3) nicht an Kunden unter 18 Jahren zu verkaufen, (4) Ruhe und Ordnung in der Nachbarschaft zu respektieren, (5) nicht mehr als 5 g pro Kunde zu verkaufen und nicht mehr als 500g auf Lager zu haben, respektiert das Recht erwachsener Bürger auf legalen Zugang zu ihrem Genussmittel und ist ein gutes Beispiel für eine pragmatische Lösung. Allerdings bedarf die Frage des Anbaus und der Lieferung an die Coffeeshops noch der Lösung. - Wie so eine Lösung aussehen könnte, zeigen Uruguay und Kalifornien. In beiden Staaten ist Cannabis nicht nur auf der Konsumentenseite, sondern auch in Bezug auf Anbau und Vertrieb legalisiert. Das bedeutet keine liberale Regulation (vergleichbar mit der Alkoholpolitik in Deutschland), aber auch die restriktive Regulation mit staatlichen Anbaulizenzen und peniblen Kontrollen ist eine echte Entkriminalisierung, die anzusehen und nachzuahmen sich lohnen würde. - Das Gesetz vom 10.12.2013 reguliert Cannabis in Uruguay und erlaubt (1) den Kauf von (pro Person und Monat) bis zu 40 Gramm Marihuana in Apotheken, (2) den nicht-kommerziellen Anbau von bis zu sechs Cannabis-Pflanzen pro Person (bzw. von bis zu 99 Pflanzen für Marihuana-Clubs mit 15 bis 45 Mitgliedern). Bis Mitte 2017 hatten sich ca. 7000 Personen in das entsprechende amtliche Register eintragen lassen (NYT 19.7.2017), (3) den kommerziellen Anbau nach Lizenzvergabe durch die Regierung (bis Mitte 2017 hatten zwei Unternehmen entsprechende Lizenzen erhalten; der Anbau erfolgt auf militärischem Gelände ohne Zugang für die Öffentlichkeit), (4) seit Mitte Juli 2017 den Apothekenverkauf an registrierte Konsumenten; nur 16 Apotheken sind beteiligt (Mitte 2017), keine größere Apothekenkette. Grund: ökonomisch, gelegentlich auch politisch. Nur 5000 registrierte Konsumenten für den Apothekenkauf (von 3,5 Mio. Einwohnern). Hohe Sicherheitsanforderungen kosten viel Geld. Die 5-Gramm-Päckchen (vier Sorten) kosten ca. $ 6,60 (€ 5). - Es unterwirft Cannabis aber auch gewissen Restriktionen: (1) Anbau und Handel werden von einer staatlichen Kommission kontrolliert, um die Einschleusung von illegal angebautem Marihuana in den legalen Markt zu verhindern, (2) Konsumenten müssen sich in ein Register eintragen, (3) Minderjährige und Ausländer erhalten durch das Gesetz keinen legalen Zugang zu Marihuana. - Ähnlich verhält es sich seit 2018 mit Cannabis in Kalifornien. Dort darf jeder Bürger des Bundesstaates ab 21 Jahren bis zu 28,3 Gramm Cannabis (pro Monat) kaufen und bis zu sechs Pflanzen selbst anbauen. Konsum in der Öffentlichkeit sowie innerhalb von 1000 feet (300 m) von einer Schule ist ebenso verboten wie Autofahren unter dem Einfluss von Cannabis. Handel ist nur mit Lizenz des Bundesstaates und der Kommune erlaubt. Kommunen können sich auch ganz verweigern. Die Steuern sind mit 35% recht hoch. Pro Jahr wird in Kalifornien mit einem Cannabis-Steuer-Aufkommen von rund 1 Milliarde Dollar gerechnet. Insgesamt ist der kalifornische Marihuana-Markt alleine für die Jahre 2018-2021 laut der Firma Arcview geschätzte 40 Milliarden Dollar wert. - Trotz weiterbestehenden Prohibitionsgesetzes auf Bundesebene verfolgen aufgrund von Volksabstimmungen acht Bundesstaaten ihre eigene Regulationspolitik. Legalisierende Entkriminalisierungen fanden statt in Colorado, Washington, Oregon, Alaska, Maine, Massachusetts, Nevada und Kalifornien. In diesen acht Staaten gibt es sowohl "medical marihuana" (auf Rezept) als auch "recreational" marihuana "for adult use" ohne Rezept in dafür lizensierten Verkaufsstellen. - Regulation ist der Prohibition aber auch bei anderen Drogen überlegen. Die Beschränkung auf eine Cannabis-Reform darf insofern nicht das letzte Wort sein. Und die Beschränkung auf die Konsumsphäre natürlich sowieso nicht. Letztlich wäre mit Douglas Husak und Henner Hess an eine Angleichung der Drogenpolitik an die Zigarettenpolitik zu denken: Aufklärung über die Risiken, restriktive Gesetzgebung, aber Beibehaltung legalen Zugangs für diejenigen, die es unbedingt wollen.
  2. Überall, wo das Vereins- und/oder Gewerberecht besser geeignet ist als das Strafrecht, hat das Strafrecht als ultima ratio zurückzutreten.
  3. Beachtung verdient das jüngste Zensurgesetz des Bundesjustizministers Maas, auch Netzwerkdurchsetzungsgesetz genannt. Im vergangenen Sommer mit symbolischer Bedeutung im Kampf gegen rechts aufgeladen und ohne nennenswerte Kritik durch die Legislative geschleust, bedroht es nicht nur Twitter, Facebook und andere mit saftigen Strafen, wenn sie "offensichtlich rechtswidrige Inhalte" nicht binnen 24 Stunden löschen, es bedroht vor allem die Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, wie der erwartbare Skandal am ersten Tag nach seinem Inkrafttreten (um eine gelöschte Titanic-Satire) offenbarte. Historisch bewanderte Beobachter kann es das Fürchten lehren, wenn sie sehen, wie hemmungslos hier offenbar von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, anonym mit einem Mausklick Meinungsäußerungen zu denunzieren und damit kaum noch kontrollierbare zensurartige Lösch-Wellen auslösen, die unter Rechtsstaaten ihresgleichen suchen. Dass dabei ganze Bereiche kritischer Politik-Kommentierung im Netz in den Geruch der Illegitimität geraten, ist schlimm und sollte von niemadem, dem der Rechtsstaat etwas wert ist, auch nur billigend in Kauf genommen werden. Man denke hier etwa an die pauschale Verdächtigung von Kritikern der israelischen Besatzungspolitik als verkappte Antisemiten und die skandalösen Kündigungen von Bankkonten jüdischer Bürger, die sich für einen gerechten Frieden in Nahost einsetzen (Feest 2018).
  4. Eigentums- und Vermögensdelikte: Erster Schritt wäre die Rücknahme der Strafverschärfung von 2017 beim Tatbestand des Einbruchs in Privatwohnungen. Aus dem Verbrechen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr ist wieder ein Vergehen zu machen; auch ist der eklatante Widerspruch zum bandenmäßigen Einbruchsdiebstahl (wo es weiterhin die minder schweren Fälle mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten gibt) durch Wiedereinführung des minder schweren Falles zu beseitigen. Zweiter Schritt wäre die Herabstufung der Massenbagatelldelinquenz in diesem Bereich zu Ordnungswidrigkeiten.
  5. Sexualdelikte. Bloß moralwidriges Handeln, das nicht auch sozialschädlich ist, ist nicht strafwürdig. Schon Gustav Radbruch hatte gefordert, bloße Moralverstöße aus dem Strafrecht zu eliminieren, also die Tatbestände des Ehebruchs, der Sodomie, der einfachen Homosexualität und der sogenannten Verlobtenkuppelei, und nach einem halben Jahrhundert hatte das dann auch funktioniert. Dann die Frage, ob das Gewicht der Handlung tatsächlich eine Reaktion mit einer Kriminalstrafe als unverzichtbar erscheinen lässt. Dass das heutige Sexualstrafrecht nach Radbruch'schen Kriterien kritisch durchzumustern ist insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs des Verwaltungsrechts, steht außer Frage. Erneut auf die Tagesordnung gehört auch die freiheitliche und die Freiheit aller Beteiligten schützende Regulierung der Prostitution - vor allem auf dem Wege des Gewerberechts. Monika Frommel meint: "zurück zum alten Recht des § 177, nur § 177 Abs. 1 Nr. 3 etwas weiter fassen, damit die dusselige Rechtsprechung zu den Überrumpelungsfällen entfällt und diese Konstellation gut erfasst wird. Die Missbrauchsfälle (etwa von Jugendlichen) im Neuen Recht 2016 sind akzeptabel. - Die sog. Freierbestrafung muss weg."

Auf längere Sicht

Entkriminalisierung als Perspektive

"Wenn Politik dahin tendiert, sich auszuweiten und sich dabei aller (im Rahmen der Verfassung zulässiger) Mittel, also auch des Strafrechts, zur Verfolgung ihrer Zwecke zu bedienen, so sollte Strafrechtswissenschaft sich als Strafbegrenzungswissenschaft verstehen. Sie sollte mit jedem ihrer drei Elemente der tendenziell unbegrenzten Strafwilligkeit der Politik rechtliche Grenzen signalisieren. In der Sache bedeutet dies eine abolitionistische Perspektive, also eine Perspektive der Entkriminalisierung - wohlgemerkt eine Perspektive, d.h. weder ein geschlossenes System noch ein kurzfristig umzusetzendes Aktionsprogramm, sondern einen Fluchtpunkt kriminalpolitischen und strafrechtswissenschaftlichen Denkens und Argumentierens.

Natürlich kann Strafrechtswissenschaft auch anders betrieben werden, nämlich als Strafverfolgungs- und Kriminalitätsbekämpfungswissenschaft. (...). Für ein solches abolitionistisches - oder besser: reduktionistisches - Verständnis von Strafrechtswissenschaft spricht (...) vor allem die Notwendigkeit eines restriktiven Kontrapunktes gegenüber einer extensiven Politik. Von weiteren wichtigen Gründen kann ich hier nur drei andeuten:

  1. Für die mit staatlichem Strafen verbundenen Bedrängnisse, Beschränkungen und Leiden eine allseits anerkannte Begründung zu finden, ist bislang noch nicht gelungen. Ganz im Gegenteil: Die gegen staatliches Strafen erhobenen Einwände werden vielfältiger.
  2. Es entspricht dem Menschenbild eines demokratischen Rechtsstaates , mit sozialethischen Vorwürfen verbundene Eingriffe in die Freiheitssphäre der Bürger so gering wie möglich zu halten.
  3. Eine expandierende Strafgesetzgebung belastet das Strafjustizsstem mit einem 'Input', den es - wie sich gezeigt hat - auf die Dauer nur bewältigen kann, indem es kommunikative Standards des Strafprozesses herabsetzt, schützende Formen aufweicht, die Gesetzesbindung der Strafverfolgungsorgane lockert und Beschuldigtenrechte verkürzt.

Daher nochmals: Strafrechtswissenschaft sollte gegenüber staatlicher Dispositionsfreiheit über das Strafrecht einen Gegenpol bilden. Sie sollte den Kriminalisierungswünschen der Politik den Grundsatz 'in dubio contra delictum' als eine Ausprägung des Grundsatzes 'in dubio pro libertate' entgegenhalten." (....)

Abolitionistische Perspektive setzt nicht die Annahme voraus, das gesamte System gesellschaftlichen bzw. staatlichen Strafens sei eine Veranstaltung, die auf bloßen Definitionsvorgängen beruhe, in denen an sich nichtssagende soziale Verhaltensweisen zu kriminellen hochdefiniert werden. Sicherlich gibt es schlecht begründete oder von durchsichtigen Interessen diktierte Kriminalisierungen. Jedoch: Unnatürliche Todesfälle, schwere Körperverletzungen, Gebäudezerstörungen, gewaltsame Entwendungen von Sachen - diese und manche andere Vorgänge werden die Gesellschaft allemal interessieren. Ist Kriminalität aber nicht bloß ein Definitionsresultat, dann kann man sie auch nicht insgesamt durch Streichung von Straftatbeständen einfach wegdefinieren. Vielmehr gehört zu einem Entkriminalisierungskonzept und damit zu den Anforderungen an eine Strafbegrenzungswissenschaft auch, dass Überlegungen angestellt werden, wie punitive Reaktionen durch andere ersetzt werden können. Um noch einmal Gustav Radbruch in Anspruch zu nehmen: Es muss darum gehen, Strafrecht durch etwas anders zu ersetzen, das besser ist als Strafrecht. Für mich steht dabei nicht (wie bei Radbruch) ein 'Besserungs- und Bewahrungsrecht' im Vordergrund, sondern es geht um Reaktionsformen, die weniger in die Autonomie von Bürgern und Bürgerinnen eingreifen als Strafen. (...) Strafnormen zu streichen bedeutet also nicht immer, freiheitsräume zu erweitern. Die Radbruchsche Forderung lässt isch demnach auch umkehren: Nur durch etwas Besseres sollte Strafrecht ersetzt werden" (Vormbaum 1995: 41-43).

Reduktion auf das Kernstrafrecht

Das Strafrecht ist eine Institution des Rechtszwangs par excellence. Im Strafrecht kristallisiert sich der Anspruch der Herrschaft auf weitgehende und im Extremfall totale Verfügung über die Existenz der Untertanen: je autoritärer das Regime, desto härter das Strafrecht. Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit begrenzt das Strafrecht zunächst einmal auf das absolut notwendige Ausmaß. Schon der große Montesquieu wusste: "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch." Hundert Jahre später erklärte Mittermaier (1819) es zum "Grundfehler" seiner Zeit, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ Und kein geringerer als Franz von Liszt forderte unmissverständlich, dass ein Verhalten nur dann unter Strafe gestellt werden dürfe, wenn und soweit es dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Gustav Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert. Strafrecht, so die Lehre der ultima ratio, darf als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen.

  1. Kritischer Durchsicht bedürfen auch die Tatbestände im Bereich der sog. organisierten Kriminalität, im Transplantationsgesetz und in anderen Bereichen des Nebenstrafrechts.

General-Entkriminalisierung

  1. Restorative Justice statt Strafprozess.

Weblinks und Literatur

Siehe auch