Entkriminalisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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==Gegenwart==
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=== Der Aufruf: "Reformiert endlich das Strafrecht!"===
=== Der Aufruf: "Reformiert endlich das Strafrecht!"===
Im Dezember 2017 veröffentlichte DIE ZEIT online einen Aufruf von Arthur Kreuzers, der dazu aufforderte, endlich dasd Strafrecht zu reformieren. Kreuzer stieß sich vor allem an der aktionistischen, auf jeden Skandal und auf jede Skandalisierung mit einem Strafgesetz reagierenden Politik des aktuellen Justizministers - einer Politik, auf die wegen ihrer Geringschätzung von Fachlichkeit und Expertenwissen und wegen ihres Schielens auf reflexhafte Zustimmung bei großen Teilen der (uninformierten) Bevölkerung auch der Begriff des Populismus Anwendung finden könnte.
Im Dezember 2017 veröffentlichte DIE ZEIT online einen Aufruf von Arthur Kreuzers, der dazu aufforderte, endlich dasd Strafrecht zu reformieren. Kreuzer stieß sich vor allem an der aktionistischen, gleichsam auf jeden Skandal und auf jede Skandalisierung mit einem Strafgesetz reagierenden Politik der symbolischen bzw. der Schaufenstergesetzgebung:


*Statt die Existenz problematischer Sterbehilfeorganisationen im Vereins- und Gewerberecht zu unterbinden, ist seit 2015 die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" ein eigener Straftatbestand. Arthur Kreuzer stimmt dem Urteil des Strafrechtlers Henning Rosenau aus Halle zu, für den der Gesetzesbeschluss "der schwarze Freitag für die Selbstbestimmung am Lebensende" war. Kreuzer: "Man glaubte die Zeiten moralisierenden Strafrechts überwunden. Überdies ist die Regelung höchst unbestimmt. Mit Strafverfolgung muss bereits rechnen, wer in Palliativstationen oder Hospizen einen Sterberaum und Sterbebegleitung jemandem zusagt, der sich in einer unerträglichen Krankheitssituation bewusst etwa für das Sterbefasten entscheidet. Sterbebegleiter sehen sich dem Dilemma ausgesetzt: zwischen einer Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe und unterlassener Hilfeleistung. Das politische Ziel, die Palliativmedizin zu stärken, wird in sein Gegenteil verkehrt: In Palliativ- und Hospizarbeit Tätige werden verunsichert. Denunziationen enttäuschter Angehöriger von Verstorbenen sind absehbar, ebenso peinliche und erniedrigende polizeiliche Ermittlungen in den sensiblen intimsten Bereichen des Lebens und Sterbens. Dabei ist vorauszusehen, dass wegen zu erwartender Nachweisprobleme solche Verfahren später eingestellt werden." (Kreuzer 2017).
*Statt die Existenz problematischer Sterbehilfeorganisationen im Vereins- und Gewerberecht zu unterbinden, ist seit 2015 die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" ein eigener Straftatbestand. Arthur Kreuzer stimmt dem Urteil des Strafrechtlers Henning Rosenau aus Halle zu, für den der Gesetzesbeschluss "der schwarze Freitag für die Selbstbestimmung am Lebensende" war. Kreuzer: "Man glaubte die Zeiten moralisierenden Strafrechts überwunden. Überdies ist die Regelung höchst unbestimmt. Mit Strafverfolgung muss bereits rechnen, wer in Palliativstationen oder Hospizen einen Sterberaum und Sterbebegleitung jemandem zusagt, der sich in einer unerträglichen Krankheitssituation bewusst etwa für das Sterbefasten entscheidet. Sterbebegleiter sehen sich dem Dilemma ausgesetzt: zwischen einer Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe und unterlassener Hilfeleistung. Das politische Ziel, die Palliativmedizin zu stärken, wird in sein Gegenteil verkehrt: In Palliativ- und Hospizarbeit Tätige werden verunsichert. Denunziationen enttäuschter Angehöriger von Verstorbenen sind absehbar, ebenso peinliche und erniedrigende polizeiliche Ermittlungen in den sensiblen intimsten Bereichen des Lebens und Sterbens. Dabei ist vorauszusehen, dass wegen zu erwartender Nachweisprobleme solche Verfahren später eingestellt werden." (Kreuzer 2017).
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*Statt gegen ausreise- und möglicherweise auch kampfwillige Islamisten polizeiliche Ausreiseverbote zu erlassen, betreibt man seit 2015 mit dem Tatbestand der "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat" polizeiliche Gefahrenabwehr in strafrechtlichem Gewand. Die künstliche Konstruktion von Tatgeschehen durch den Strafgesetzgeber kriminalisiert - wie selbst der BGH mit großen Bauchschmerzen feststellte - faktisch "den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung". Das noch dem "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" zuzuordnen, ist gewagt. Kreuzer: "Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden lassen kann, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen. Das Recht, polizeiliche Gefährderbekämpfung im vor-strafrechtlichen Bereich zu betreiben, hat die Polizei als Institution der Gefahrenabwehr. Ausreiseverbote hätten Vorrang und könnten wirksamer sein, zumal man deren Verletzung dann als Straftat ausgestalten könnte. Wo sich aber das Strafrecht so weit ins Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen vorwagt, mündet es letztlich in ein Gesinnungsstrafrecht. Das ist weder rechtsstaatlich noch verhältnismäßig.
*Statt gegen ausreise- und möglicherweise auch kampfwillige Islamisten polizeiliche Ausreiseverbote zu erlassen, betreibt man seit 2015 mit dem Tatbestand der "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat" polizeiliche Gefahrenabwehr in strafrechtlichem Gewand. Die künstliche Konstruktion von Tatgeschehen durch den Strafgesetzgeber kriminalisiert - wie selbst der BGH mit großen Bauchschmerzen feststellte - faktisch "den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung". Das noch dem "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" zuzuordnen, ist gewagt. Kreuzer: "Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden lassen kann, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen. Das Recht, polizeiliche Gefährderbekämpfung im vor-strafrechtlichen Bereich zu betreiben, hat die Polizei als Institution der Gefahrenabwehr. Ausreiseverbote hätten Vorrang und könnten wirksamer sein, zumal man deren Verletzung dann als Straftat ausgestalten könnte. Wo sich aber das Strafrecht so weit ins Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen vorwagt, mündet es letztlich in ein Gesinnungsstrafrecht. Das ist weder rechtsstaatlich noch verhältnismäßig.


*Entkriminalisierungen forderte Kreuzer (2017) vor allem im Bereich des symbolischen Strafrecht. Offensichtlichstes Beispiel socher Schaufenstergesetzgebung sei die Strafbarkeit von Pornografie:
*Statt angesichts von Boulevard-Skandalen wie dem um den Politiker Sebastian Edathy die Ruhe zu bewahren, sind seit 2015 sogar der versuchte Besitz oder Erwerb von höchst unbestimmt definiertem Posingmaterial strafbar. Kreuzer: "Es reicht, Pornolinks anzuklicken. Den Aufruf einer solchen Website rückgängig zu machen, befreit nicht von der Strafbarkeit. Hier wird zudem ein massenhaftes Verhalten kriminalisiert. Gerade junge Menschen kann das angesichts weit verbreiteten Sextings – des Verschickens aufreizender Fotos über Messenger – zur Denunziation unliebsamer Bekannter verleiten. Deswegen werden unzählige "Unschuldige ins Visier der Justiz geraten" (FAZ)." Ein solcher Rückfall "in Strafrechtsmoralismus und Prüderie" (Tatjana Hörnle) war auch die Gleichstellung sexuellen Handelns "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" mit einer Vergewaltigung (2016). Kreuzer: "Ein Massendelikt, das voraussehbar zwar manche Betroffene, leider auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Folgenlose Verfahrenseinstellungen sind zu erwarten. Verurteilungsquoten bei Sexualdelikten werden weiter sinken. - Frauenverbände werden erst recht rügen, die Justiz nehme solches Verhalten nicht ernst. Indes lässt die bekannte Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nichts anderes zu. Die Kieler Strafrechtlerin Monika Frommel bringt es auf die Formel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." Auch das Gewaltschutzgesetz böte hier sinnvollere Ansätze als das Strafrecht.
:"Seit 2015 sind sogar versuchter Besitz oder Erwerb von höchst unbestimmt definiertem Posingmaterial strafbar. Es reicht, Pornolinks anzuklicken. Den Aufruf einer solchen Website rückgängig zu machen, befreit nicht von der Strafbarkeit. Hier wird zudem ein massenhaftes Verhalten kriminalisiert. Gerade junge Menschen kann das angesichts weit verbreiteten Sextings – des Verschickens aufreizender Fotos über Messenger – zur Denunziation unliebsamer Bekannter verleiten. Deswegen werden unzählige "Unschuldige ins Visier der Justiz geraten" (FAZ). Das Ganze war eine hektische, untaugliche Reaktion auf die Causa des SPD-Politikers Sebastian Edathy. Die Berliner Strafrechtlerin Tatjana Hörnle rügt einen Rückfall "in Strafrechtsmoralismus und Prüderie". Ähnliches gilt für die 2016 der Vergewaltigung in der Strafbarkeit gleichgestellte Tat sexuellen Handelns "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person". Ein Massendelikt, das voraussehbar zwar manche Betroffene, leider auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Folgenlose Verfahrenseinstellungen sind zu erwarten. Verurteilungsquoten bei Sexualdelikten werden weiter sinken. - Frauenverbände werden erst recht rügen, die Justiz nehme solches Verhalten nicht ernst. Indes lässt die bekannte Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nichts anderes zu. Die Kieler Strafrechtlerin Monika Frommel bringt es auf die Formel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." Das Gewaltschutzgesetz bietet sinnvolle Ansätze."


*Ähnlich verhalte es sich mit dem Phänomen populistischer Strafrechtsausweitung etwa im Fall der Verschärfung des Straftatbestands eines Einbruchs in Privatwohnungen:
*Statt sich angesichts zunehmender Wohnungseinbrüche aufverbesserte Kriminalistik zu verlassen, machte man Mitte 2017 aus dem Straftatbestand des Einbruchs in Privatwohnungen einen Verbrechenstatbestand mit einer Mindeststrafe von einem Jahr. "Minder schwere Fälle" mit herabgesetzter Strafe sind gestrichen. - Entgegen kriminologischen Erkenntnissen wurde suggeriert, es handele sich vornehmlich um organisierte Taten. Tatsächlich spielt sich vieles im Nahraum ab, wenn etwa ehemalige Partner, Angestellte oder Nachbarn in die Wohnung einsteigen, um sich vermeintlich Ihnen Zustehendes zurückzuholen. - Jetzt aber drohen Übermaßstrafen, die das Verfassungsgericht auf den Plan rufen werden, oder Umgehungsstrategien in der Justiz provozieren. Obendrein widerspricht die Regelung der Gesetzessystematik: Jeder Verbrechenstatbestand sieht "minder schwere Fälle" vor, weil es solche erfahrungsgemäß immer geben kann. Sie widerspricht sogar eklatant dem noch schwereren Tatbestand bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls. Dafür gibt es weiterhin "minder schwere Fälle" mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten.
:"Seit Mitte 2017 ist es ein Verbrechen mit Mindeststrafe von einem Jahr. "Minder schwere Fälle" mit herabgesetzter Strafe sind gestrichen. - Entgegen kriminologischen Erkenntnissen wurde suggeriert, es handele sich vornehmlich um organisierte Taten. Tatsächlich spielt sich vieles im Nahraum ab, wenn etwa ehemalige Partner, Angestellte oder Nachbarn in die Wohnung einsteigen, um sich vermeintlich Ihnen Zustehendes zurückzuholen. - Jetzt aber drohen Übermaßstrafen, die das Verfassungsgericht auf den Plan rufen werden, oder Umgehungsstrategien in der Justiz provozieren. Obendrein widerspricht die Regelung der Gesetzessystematik: Jeder Verbrechenstatbestand sieht "minder schwere Fälle" vor, weil es solche erfahrungsgemäß immer geben kann. Sie widerspricht sogar eklatant dem noch schwereren Tatbestand bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls. Dafür gibt es weiterhin "minder schwere Fälle" mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten.


Seine Forderungen:  
Seine Forderungen:  

Version vom 19. Januar 2018, 16:03 Uhr

Begriff

Entkriminalisierung bezeichnet den Vorgang der Rücknahme einer Kriminalisierung. Durch die Entkriminalisierung entfällt die Strafbarkeit eines Verhaltens. Der Report on Decriminalisation (Council of Europe 1980: 13) definiert Entkriminalisierung als die Gesamtheit der Prozesse, mittels derer bestimmte Verhaltensweisen dem Zuständigkeitsbereich des Strafrechts entzogen werden, bzw. „by which the 'competence' of the penal system to apply sanctions as a reaction to a certain form of conduct is withdrawn“.

Wie die Kriminalisierung so bedarf auch die Entkriminalisierung normalerweise eines Gesetzes (Entkriminalisierung de jure). In einem nicht rechtstechnischen Sinne kann von Entkriminalisierung auch dann die Rede sein, wenn ein Verhalten nur faktisch straflos gestellt wird - nämlich z.B. eher informell durch die tatsächliche Nichtverfolgung und Nicht-Sanktionierung eines formell weiterhin mit Strafe bedrohten Verhaltens. Solche de facto Entkriminalisierungen können auf die Erosion der Normgeltung hinweisen und künftige de jure Entkriminalisierungen ankündigen.

Erscheinungsformen

Zu unterscheiden sind nicht nur de jure von de facto Entkriminalisierungen, sondern auch legalisierende von transformierenden. Legalisierende Entkriminalisierungen machen aus dem verbotenen ein erlaubtes Verhalten, während transformierende lediglich den Rechtscharakter des Verbots verändern - aus einer Straftat wird z.B. eine Ordnungswidrigkeit.

Wolfgang Naucke (1984: 169) akzeptiert nur die Legalisierung eines bis dato strafbaren Verhaltens als "wirkliche Entkriminalisierung". Transformationen in das Ordnungswidrigkeitenrecht gelten ihm als bloß "scheinbare Entkriminalisierungen", weil "die Abweichung bleibt". In Nauckes Worten: "Das Mittel der Unterdrückung wird umetikettiert" - zum Beispiel in Maßregeln der Besserung und Sicherung, Unterbringung oder Bußen nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht.

Kohl & Scheerer (1989: 89) unterscheiden anders:

  1. Wird ein strafbares Verhalten durch die Entkriminalisierung zum erlaubten Verhalten, sprechen sie von ersatzloser Entkriminalisierung.
  2. Eine Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit ist keine "ersatzlose" wohl aber eine "transformierende" und damit eine "wirkliche" Entkriminalisierung, weil sich Zuständigkeiten, Verfahren und sowohl formelle als auch informelle Sanktionen erheblich ändern. Es entfällt das Odium des Kriminellen und damit die besondere Ächtung von Tat und Täter. Der Vorwurf der bloßen Umetikettierung trifft deshalb nicht. (Beispiel: Umwandlung der strafbaren Straßenverkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten durch das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24.5.1968. Tatbestände wurden formal aus dem Strafrecht ausgegliedert, um anschließend in einer anderen Rechtsmaterie, in einem Katalog für Ordnungswidrigkeiten, wieder aufzutauchen. Das Verhalten gilt aber eben nicht mehr als kriminell. Das ist ein großer Unterschied.
  3. Wenn das Verhalten weiterhin einen Straftatbestand darstellt, die Sanktion aber nicht Strafe, sondern Maßregel heißt, liegt gar keine Entkriminalisierung vor. Denkbar wäre allenfalls, auch nicht unproblematisch, von einer Entpönalisierung zu sprechen, da die poena, die peinliche Kriminalstrafe, ja entfällt, wenn auch die Sanktionsdrohung erhalten bleibt.

Da auch in Fällen der "wirklichen" Entkriminalisierung andere Regelsysteme an die Stelle der kriminalrechtlichen treten können - man denke an die Regulierung des Alkoholmarktes durch das Wirtschafts- und Gewerberecht nach Aufhebung der Alkoholprohibition in den USA - ist "ersatzlos" kein unmissverständlicher Begriff für diese Art der Entkriminalisierung. Besser wäre es, in solchen Fällen von legalisierender Entkriminalisierung zu sprechen, um den entscheidenden Unterschied zur bloßen Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit herauszustellen. - Da andererseits die Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit tatsächlich vom Odium des Kriminellen befreit, ist auch der Begriff der "scheinbaren" Entkriminalisierung nicht glücklich gewählt. Letztlich genügt auf der begrifflichen Ebene wohl die Unterscheidung zwischen de jure und de facto Entkriminalisierungen einerseits und zwischen legalisierenden und transformierenden Entkriminalisierungen andererseits.

Die Bestimmungsgründe von Entkriminalisierungen können zweck- oder wertrational sein. Der Europaratsbericht (Council of Europe 1980: 15) unterschied:

  1. Entkriminalisierung als Anerkennung eines bislang geächteten Verhaltens (Typ A: Wandel moralischer Bewertung)
  2. Entkriminalisierung als Beschränkung staatlicher Einmischung in weltanschauliche Fragen (Typ B: Wandel in der Auffassung von den Befugnissen des Strafgesetzgebers)
  3. Entkriminalisierung als Schritt zur Optimierung der Verhaltenskontrolle, bzw. Konfliktlösung (Typ C: Wandel in der Effektivitäts- bzw. Effizienzerwartung an das strafrechtliche Instrumentarium).

Kritierien

Entkriminalisierungen kommen immer dann in Betracht, wenn Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Einsatzes des Strafrechts zur Ächtung, Vorbeugung, Abschreckung und/oder Bestrafung eines Verhaltens aufkommen. Sei es, dass man

  1. das Verhalten nicht mehr so schlimm findet,
  2. das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag suboptimal findet - oder
  3. die Kompetenz des Staates zur strafrechtlichen Repression des Verhaltens bestreitet.

Das deutsche Verfassungsrecht kennt die drei Kriterien der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit. Wo auch nur eines dieser Kriterien nicht erfüllt ist - eine Strafnorm also entweder nicht geeignet oder nicht erforderlich oder nicht verhältnismäßig ist - ist sie verfassungswidrig.

Ungeeignet ist ein Strafgesetz dann, wenn es den angestrebten Erfolg gar nicht erreichen kann. Dass es auch dann verfassungswidrig ist, wenn es zwar zur Erreichung des Erfolgs geeignet, aber dazu gar nicht erforderlich ist, weil es andere und weniger einschneidende Mittel gibt, ist ein an der Aufklärung orientiertes Denken des politischen Liberalismus und des philosophischen Utilitarismus. Nicht ohne Grund schlug schon Cesare Beccaria in seiner kleinen, aber Epoche machenden Schrift über Verbrechen und Strafen aus dem Jahre 1764 einen hohen Ton an, als er postulierte (1764/1966: 52) "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, sagt der große Montesquieu, ist tyrannisch; ein Satz, der wie folgt sich verallgemeinern läßt: jeder Akt der Herrschaft eines Menschen über einen Menschen, der nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch." Dieser Gedanke tauchte dann sogar in Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789 wieder auf, wo es hieß: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires.“ - In Deutschland erklärte es Mittermaier im Jahre 1819 zum "Grundfehler" seiner Zeit, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ - Kein geringerer als Franz von Liszt (zit. n. Roos 1981: 7f.) forderte in seiner Strafzweckslehre, dass ein Verhalten nur unter Strafe gestellt werden dürfe, wenn und soweit es dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Gustav Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert (Roos 1981: 8 ff.). - Eine Ausprägung findet das Kriterium der Notwendigkeit im Ultima-Ratio-Prinzip. Dieses besagt: Strafrecht darf als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen. - Schließlich kann ein Strafgesetz verfassungswidrig sein, weil es allzu tief und unverhältnismäßig in die Grundrechte eingreift.

Voraussetzungen

Entkriminalisierung hat immer dann eine Chance, wenn relevante Akteure

  • hinreichende Zweifel an Eignung, Erforderlichkeit und/oder Verhältnismäßigkeit der Kriminalisierung eines Verhaltens hegen
  • hinreichendes Vertrauen in alternative Kontrollen haben und
  • hinreichende politische Gewinne - vor allem in der Form von Wählerstimmen - aus der Entkriminalisierung erwarten.

Akteure

Das Feld der Akteure unterschiedlicher Relevanz besteht aus den von einer Kriminalisierung Betroffenen, ihren Anwälten und Interessensanwälten in Wissenschaft, Justiz und Polizei, Wirtschaft, Medien, Parteien und sonstigen Vereinigungen sowie aus all denjenigen, die in Bürokratie und Politik nicht zuletzt mittels Sachverständigen (Task Forces, Expertenanhörungen, Gutachten) die Innen- und Rechtspolitik beeinflussen oder formulieren. Von besonderer Bedeutung ist die Schaltstelle zwischen externen Politikinteressenten einerseits (Lobbyisten, Wissenschaftler) und Entscheidungsgremien (Regierung, Parlament) andererseits. Hier können Parteien die wichtige Rolle von institutionellen Umsetzern (Hubert Treiber) einnehmen, wenn sie externe Forderungen zum Teil ihrer Programmatik machen und diese dann in einer Regierung auch umsetzen.

Geschichte

Die deutsche Strafrechtsgeschichte zeigt keine Tendenz zu einer fortschreitenden Humanisierung oder auch nur zu einer immer weiteren Entkriminalisierung. Und wenn es zu Entkriminalisierungen kam, dann handelte es sich in den wenigsten Fällen zwar um einen Wertwandel im Sinne einer ethischen Unbedenklichkeitsbescheinigung für ein einstmals vielleicht zu unrecht stigmatisiertes Verhalten - auch wenn manchmal ein Zug zur Milde zu erkennen ist, so wie im Jahre 1923, als das Jugendgerichtsgesetz (JGG) die Strafmündigkeitsgrenze von 12 auf 14 anhob und damit auch eine veränderte Einstellung zum Jugendalter und dazu manifestierte, wie man mit den speziellen Lebensumständen und Entwicklungen umgehen sollte. Meist sind es aber wohl doch eher trivial anmutende Kosten-Nutzen-Rechnungen, die den Weg zu einer Rücknahme der Strafdrohung ebneten, wenn und weil man den Verwaltungs- und Bestrafungsaufwand für nicht mehr vertretbar hält im Vergleich zu seinem Ertrag.

Das gilt etwa für die Emminger-Verordnungen von 1924, die auf das Ermächtigungsgesetz vom 08.12.1923 zurückgingen, das das Regieren auf dem Verordnungswege unter Umgehung des Parlaments gestattete, soweit die Maßnahmen im Hinblick auf die Not von Volk und Reich erforderlich waren. Die "Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924" (RGBl. I 15ff.) des kurzzeitigen Justizministers Erich Emminger (30.11.23-15.4.24) bewirkte bekanntlich eine der tiefgreifendsten Umgestaltungen des Kriminalwesens, indem es nicht nur das Schwurgericht alter Form mit seiner Trennung von Richter- und Geschworenenbank sowie von Straf- und Schuldfrage abschaffte und an dessen Stelle die einheitliche Richterbank aus drei Berufsrichtern und sechs Geschworenen setzte, sondern der Staatsanwaltschaft auch die Verfolgung geringfügiger Übertretungen untersagte, soweit das öffentliche Interesse nicht dagegenstand. In einem regulären parlamentarischen Verfahren hätte eine solche partielle de facto Entkriminalisierung es wohl sehr viel schwerer gehabt. Wie überhaupt die Aufhebung von Strafgesetzen per ordre de mufti bzw. durch einen deus ex machina manchmal etwas Befreiendes anhaften kann. Man denke an die simultane Aufhebung gleich mehrerer Bestimmungen des deutschen Strafrechts - z.B. §§ 2, 2b, 134b, 226b RStGB - durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30.1.1946.

Weniger ethischen Grundsätzen als vielmehr einer deutlichen Entlastung des Kriminaljustizsystems - nun allerdings wieder auf dem regulären parlamentarischen Weg - diente auch die Herabstufung der strafgesetzlichen Tatbestände der sog. Übertretungen auf das Niveau von Ordnungswidrigkeiten (1975) - teils aber auch Aufwertung zu Vergehen (vgl. Baumann JZ 72, 2ff., Dencker JZ 73, 144 ff.).

Einem liberalen Wertwandel entsprang die Strafrechtsreform der 1960er und 1970er Jahre. Vereinigungen wie die Humanistische Union und vor allem die sog. Alternativprofessoren verbündeten sich in ihrer Opposition zum konservativ-reaktionären Strafgesetzbuch-Entwurf von 1962 (E 62) und fanden in der FDP (Wahlspruch: "Wir schneiden die alten Zöpfe ab") einen geeigneten institutionellen Umsetzer (Hubert Treiber). Nur moralwidriges oder sittenwidriges, aber nicht in erheblichem Maße sozialschädliches Verhalten sollte nicht mehr strafbar sein. Auch dann nicht, wenn es von großen Teilen der Bevölkerung als anstößig bzw. unsittlich angesehen werde. So kam es zur Einschränkung oder manchmal auch Streichung von Tatbeständen wie denen in §§ 172 a.F.(Ehebruch), 175b a.F. (Unzucht zwischen Männern), 175b a.F. (Widernatürliche Unzucht), 180 a.F. (Kuppelei) und 180a I, 181a II (Prostitution).

Der zähe Kampf um die Reform des § 218 StGB zeigte gleich mehreres:

  • Das Strafgesetz soll idealiter nur den Bereich des allgemein konsentierten ethischen Minimums für ein gedeihliches gesellschaftliches Zusammenleben garantieren. Es soll sozusagen unbestrittene moralische Minimalstandards noch einmal auf der Ebene des formellen Gesetzes bekräftigen und verdoppeln. Tatsächlich aber dient Strafgesetzgebung oftmals dazu, die Wertvorstellungen eines Teils der Bevölkerung gegenüber den davon differierenden Wertvorstellungen anderer Bevölkerungsrteile zu privilegieren, indem man die ersteren strafbewehrt für alle Bürger verbindlich macht. Es wird den anderen Bevölkerungsgruppen sozusagen die Moral der einen oktroyiert.
  • Wo Strafgesetze benutzt werden, um in einer pluralistischen Gesellschaft die Wertvorstellungen einer Gruppe zu privilegieren und sie anderen unter Strafandrohung aufzuzwingen, da hat Kriminalisierung keine pazifizierende, sondern polarisierende und eskalierende, die Gesellschaft spaltende Funktion.
  • Die Rationalität von Diskussionen über die Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer Kriminalisierung ist begrenzt. Das hängt mit der mangelnden Trennschärfe der Kriterien, vor allem aber mit Problemen ihrer Operationalisierung, Messung und Gewichtung zusammen. Während Gegner der Kriminalisierung auf die hohe Dunkelziffer hinweisen und Eignung und Erforderlichkeit des Paragraphen bestreiten, ist für die Befürworter der Vorschrift das Gesetz gleichwohl besser als alles andere geeignet, den Wert des werdenden Lebens und die Pflicht des Staates und der Schwangeren und der Ärzte zu seinem Schutz herauszustellen. Expressive und instrumentelle Aspekte des Strafrechts lassen sich aber schwer gegeneinander aufrechnen. Das wiederum begünstigt die passive Funktion von Wissenschaft - ihre Instrumentalisierung - im rechtspolitischen Konfliktfall im Kontext größerer Kulturkämpfe oder culture wars.

Um die Jahrtausendwende blieben Initiativen zur Entkriminalisierung im Regelfall erfolglos. Man denke an:

  • 1989: Konzept zur transformierenden Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte (Beate Kohl & Sebastian Scheerer im Auftrag der Bundesfraktion „Die Grünen“)
  • 1992: Hessische Kommission Kriminalpolitik: Entkriminalisierungsvorschläge zum Straßenverkehrsrecht, zum Betäubungsmittelstrafrecht, zum Eigentums- und Vermögensstrafrecht sowie zum Strafverfahrensrecht
  • 1992: Niedersächsische Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts: Empfehlungen für Maßnahmen der Entkriminalisierung bei Bagatellverstößen gegen Eigentum und Vermögen, bei der Straßenverkehrsordnungsdelinquenz und im Betäubungsmittel-Strafrecht.
  • Vorlageschluss des Landgerichts Lübeck vom 19.12.1991 (NJW 1992, 1571) und Cannabis-Beschluss des BVerfG vom 9. März 1994, demzufolge bei geringfügigen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz durch den Erwerb, Besitz usw. von geringen Mengen von Cannabis zum Eigenverbrauch nach Ermessen der Strafverfolgungsbehörden von einem Strafverfahren abgesehen werden kann. - Die Kritik an diesem Beschluss geht nicht nur auf die Frage ein, ob Cannabiskonsum eher durch eine Freigabe als durch eine generalpräventive Wirkung des Strafrechts vermindert werden kann, sondern auch darauf, ob es überhaupt Aufgabe des Strafrechts sein kann, den Konsum zurückzudrängen oder ob der Staat nicht auf andere Einflussmöglichkeiten beschränkt sei (Problem der Strafwürdigkeit des Verhaltens). Am 21.10. 2010 begann der Deutsche Hanf-Verband DHV die Unterschriftensammlung für eine Petition zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten. Eine Anhörung fand am 25. 01.2012 in Berlin statt.
"Juristen, Suchtexperten und Mediziner sagen übereinstimmend, dass der Eigengebrauch von Cannabis nicht bestraft werden sollte. Bei einer Tagung in Frankfurt hatten Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten eine Entkriminalisierung des Konsums gefordert. So setzte sich die Initiative „Schildower Kreis“ für eine neue Drogenpolitik ein, da der Schwarzmarkt große Risiken berge. Auf der Internetseite des Netzwerkes läuft die „Prohibitionsuhr“, die unter anderem die Kosten der Drogenrepression zählt. Laut Heino Stöver von der FH Frankfurt konsumierten zwölf Prozent der Deutschen im vergangenen Jahr Cannabis aber nur drei Prozent davon seien Gewohnheitskiffer. Auch der Dauergebrauch sei auf niedrigem Niveau stabil und werde durch rechtliche Eingriffe kaum verändert. Ein Vertreter des Bundes Deutscher Kriminalbeamte berichtete, dass 145.000 der 250.000 Drogendelikte auf Cannabis entfielen aber die meisten dieser Verfahren aufgrund geringer Mengen aber eingestellt würden. Es entstünden unnötige Kosten, da Beamte für den Papierkorb arbeiteten. Unterdessen kündigte die Frankfurter Drogendezernentin Rosemarie Heilig ein Modellversuch in der Drogenpolitik an, nach welchem Prävention, Beratung und Therapie vor Repression gestellt werden soll.

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Gegenwart

Der Aufruf: "Reformiert endlich das Strafrecht!"

Im Dezember 2017 veröffentlichte DIE ZEIT online einen Aufruf von Arthur Kreuzers, der dazu aufforderte, endlich dasd Strafrecht zu reformieren. Kreuzer stieß sich vor allem an der aktionistischen, gleichsam auf jeden Skandal und auf jede Skandalisierung mit einem Strafgesetz reagierenden Politik der symbolischen bzw. der Schaufenstergesetzgebung:

  • Statt die Existenz problematischer Sterbehilfeorganisationen im Vereins- und Gewerberecht zu unterbinden, ist seit 2015 die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" ein eigener Straftatbestand. Arthur Kreuzer stimmt dem Urteil des Strafrechtlers Henning Rosenau aus Halle zu, für den der Gesetzesbeschluss "der schwarze Freitag für die Selbstbestimmung am Lebensende" war. Kreuzer: "Man glaubte die Zeiten moralisierenden Strafrechts überwunden. Überdies ist die Regelung höchst unbestimmt. Mit Strafverfolgung muss bereits rechnen, wer in Palliativstationen oder Hospizen einen Sterberaum und Sterbebegleitung jemandem zusagt, der sich in einer unerträglichen Krankheitssituation bewusst etwa für das Sterbefasten entscheidet. Sterbebegleiter sehen sich dem Dilemma ausgesetzt: zwischen einer Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe und unterlassener Hilfeleistung. Das politische Ziel, die Palliativmedizin zu stärken, wird in sein Gegenteil verkehrt: In Palliativ- und Hospizarbeit Tätige werden verunsichert. Denunziationen enttäuschter Angehöriger von Verstorbenen sind absehbar, ebenso peinliche und erniedrigende polizeiliche Ermittlungen in den sensiblen intimsten Bereichen des Lebens und Sterbens. Dabei ist vorauszusehen, dass wegen zu erwartender Nachweisprobleme solche Verfahren später eingestellt werden." (Kreuzer 2017).
  • Statt sportmoralische Normen gegen Doping zur Sache der Fachverbände zu machen, die zudem effektiver sanktionieren können - sie können Verbandsstrafen verhängen, Titel aberkennen, Geldsanktionen erlassen, Sportler lebenslang sperren - ist die seit 2015 kriminalisierte Verhaltensweise des Eigendopings sowohl ungeeignet als auch nicht erforderlich und außerdem unverhältnismäßig. "Illusionär geht es dem Gesetz um eine "Ethik des fairen, sauberen und gesunden Sports" mit "Vorbildfunktion für junge Menschen". Obwohl Sportler selbst klagen: Diese vermeintlich heile Welt des Spitzensports mache "kaputt und krank". - Strafbarkeit hingegen ist nutzlos. Wo es im Ausland solche Kriminalisierungen gibt, ist nirgendwo auch nur ein einziger Sportler wegen Dopings strafrechtlich verurteilt worden.
  • Statt gegen ausreise- und möglicherweise auch kampfwillige Islamisten polizeiliche Ausreiseverbote zu erlassen, betreibt man seit 2015 mit dem Tatbestand der "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat" polizeiliche Gefahrenabwehr in strafrechtlichem Gewand. Die künstliche Konstruktion von Tatgeschehen durch den Strafgesetzgeber kriminalisiert - wie selbst der BGH mit großen Bauchschmerzen feststellte - faktisch "den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung". Das noch dem "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" zuzuordnen, ist gewagt. Kreuzer: "Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden lassen kann, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Ohne dass hier eine wirkliche Straftat vorliegt, will man Tatgeschehen künstlich behaupten, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen. Das Recht, polizeiliche Gefährderbekämpfung im vor-strafrechtlichen Bereich zu betreiben, hat die Polizei als Institution der Gefahrenabwehr. Ausreiseverbote hätten Vorrang und könnten wirksamer sein, zumal man deren Verletzung dann als Straftat ausgestalten könnte. Wo sich aber das Strafrecht so weit ins Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen vorwagt, mündet es letztlich in ein Gesinnungsstrafrecht. Das ist weder rechtsstaatlich noch verhältnismäßig.
  • Statt angesichts von Boulevard-Skandalen wie dem um den Politiker Sebastian Edathy die Ruhe zu bewahren, sind seit 2015 sogar der versuchte Besitz oder Erwerb von höchst unbestimmt definiertem Posingmaterial strafbar. Kreuzer: "Es reicht, Pornolinks anzuklicken. Den Aufruf einer solchen Website rückgängig zu machen, befreit nicht von der Strafbarkeit. Hier wird zudem ein massenhaftes Verhalten kriminalisiert. Gerade junge Menschen kann das angesichts weit verbreiteten Sextings – des Verschickens aufreizender Fotos über Messenger – zur Denunziation unliebsamer Bekannter verleiten. Deswegen werden unzählige "Unschuldige ins Visier der Justiz geraten" (FAZ)." Ein solcher Rückfall "in Strafrechtsmoralismus und Prüderie" (Tatjana Hörnle) war auch die Gleichstellung sexuellen Handelns "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" mit einer Vergewaltigung (2016). Kreuzer: "Ein Massendelikt, das voraussehbar zwar manche Betroffene, leider auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Folgenlose Verfahrenseinstellungen sind zu erwarten. Verurteilungsquoten bei Sexualdelikten werden weiter sinken. - Frauenverbände werden erst recht rügen, die Justiz nehme solches Verhalten nicht ernst. Indes lässt die bekannte Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nichts anderes zu. Die Kieler Strafrechtlerin Monika Frommel bringt es auf die Formel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." Auch das Gewaltschutzgesetz böte hier sinnvollere Ansätze als das Strafrecht.
  • Statt sich angesichts zunehmender Wohnungseinbrüche aufverbesserte Kriminalistik zu verlassen, machte man Mitte 2017 aus dem Straftatbestand des Einbruchs in Privatwohnungen einen Verbrechenstatbestand mit einer Mindeststrafe von einem Jahr. "Minder schwere Fälle" mit herabgesetzter Strafe sind gestrichen. - Entgegen kriminologischen Erkenntnissen wurde suggeriert, es handele sich vornehmlich um organisierte Taten. Tatsächlich spielt sich vieles im Nahraum ab, wenn etwa ehemalige Partner, Angestellte oder Nachbarn in die Wohnung einsteigen, um sich vermeintlich Ihnen Zustehendes zurückzuholen. - Jetzt aber drohen Übermaßstrafen, die das Verfassungsgericht auf den Plan rufen werden, oder Umgehungsstrategien in der Justiz provozieren. Obendrein widerspricht die Regelung der Gesetzessystematik: Jeder Verbrechenstatbestand sieht "minder schwere Fälle" vor, weil es solche erfahrungsgemäß immer geben kann. Sie widerspricht sogar eklatant dem noch schwereren Tatbestand bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls. Dafür gibt es weiterhin "minder schwere Fälle" mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten.

Seine Forderungen:

  1. Reform der Tötungsdelikte. Zumindest müsste das im Mordtatbestand verfassungswidrig als zwingend vorgesehene Lebenslang gelockert werden.
  2. Entkriminalisierung ist angebracht bei Massenbagatelldelikten wie dem Hinterziehen von Fahrgeld. Das Schwarzfahren ist zur Ordnungswidrigkeit abzustufen.
  3. Der Strafvollzug ist zu entlasten von denen, die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen, weil sie ihre Geldstrafen nicht zahlen können. Hier und für andere kurze Freiheitsstrafen bietet sich gemeinnützige Arbeit als Hauptstrafe an.
  4. Die therapieorientierten, entkriminalisierenden Modelle im Betäubungsmittelstrafrecht sind nach ausländischen Vorbildern auszubauen. So müssen gesetzliche Hindernisse für das drug checking beseitigt werden. Dadurch würde allen Betroffenen anonym die Prüfung vorgefundenen oder erworbenen Stoffs ermöglicht. Desgleichen sind Substitutionsprogramme in und außerhalb der Haft sowie in Unterbringungseinrichtungen aufzubauen oder auszuweiten.

Als flankierende Maßnahmen schlägt Kreuzer zudem vor:

  • Einrichtung von Landesopfer- und Landespflegebeauftragten mit bundesgesetzlich verankertem Zeugnisverweigerungsrecht
  • Einrichtung einer Expertenkommission zur Reform des Strafrechts und
  • Wiederbelebung der Einrichtung des Periodischen Sicherheitsberichts zur Fundierung gesetzgeberischer Entscheidungen.

Weitere Entrümpelung

In Zeiten wie diesen fällt es schwer zu glauben, dass es einmal einen Justizminister namens Gustav Radbruch gab (genaugenommen sogar zweimal), der sich nicht auf die Fahnen geschrieben hatte, auf jeden spektakulären Fall und auf jede medial verstärkte öffentliche Empörung mit kriminalisierenden Scheinlösungen zu reagieren und damit das Strafrecht inflationär auszuweiten - einen Justizminister, der offensiv für das eintrat, was er negative Kriminalpolitik nannte und womit er ausdrücklich gesetzgeberische Abmilderungen und Verkleinerungen des Strafrechts meinte - kurzum: einen wahrhaftigen "Abbau des Strafrechts".

Wie könnte ein Abbau des Strafrechts heute aussehen? Dazu folgende Thesen aus der Sicht eines liberalen, aber auch nach sozialer Gerechtigkeit strebenden Strafrechts:

  1. Zunächst ist in Angriff zu nehmen, was schon lange diskutiert, aber bislang liegen gelassen wurde. Dazu hat Arthur Kreuzer (2017) in seinem in der ZEIT veröffentlichten Aufruf unter dem Titel "Reformiert endlich das Strafrecht" alles Nötige gesagt - und alles, was er da fordert, ist überfällig: erstens die Reform der Tötungsdelikte, wo zumindest das verfassungswidrig zwingende Lebenslang zu lockern wäre (in Wirklichkeit gibt es da noch viel mehr zu tun: siehe AE Leben und Monika Frommels Kritik des § 219a - Verbot des 'Anbietens' von Diensten für den Schwangerschaftsabbruch), zweitens die Entkriminalisierung von Massenbagatelldelikten, inbesondere die Herabstufung des Schwarzfahrens zur Ordnungswidrigkeit; damit im Zusammenhang steht drittens die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen nach dem Vorbild von Dänemark, Frankreich und Schweden - zumindest wäre in einem ersten Schritt Modellprojekt, wie es jüngst von Johannes Feest wieder vorgeschlagen wurde, durchzuführen. Viertens sind kleinste Verbesserungen im Drogenrecht dringend notwendig - wie die Legalisierung des drug checking, damit Konsumenten wissen, was sie konsumieren, aber auch der Aufbau und die Ausweitung von Substitutions- und/oder Erhaltungsprogrammen innerhalb und außerhalb der Haft. - Doch all das genügt natürlich nicht, auch wenn man hinzunimmt, was Kreuzer begleitend fordert, wie die Einsetzung einer Expertenkommission zur Überarbeitung des Strafrechts, die Wiederbelebung des sog. Periodischen Sicherheitsberichts und die Einführung von Landes-Opfer- und Landes-Pflege-Beauftragten mit Zeugnisverweigerungsrecht.
  2. Sodann sind die jüngeren legislativen Verstöße gegen das Ultima-Ratio-Prinzip, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Bestimmtheitsgebot schleunigst rückgängig zu machen. Auch dazu hat sich Arthur Kreuzer (2017) geäußert. Wo das Vereins- und Gewerberecht besser geeignet sind als das Strafrecht, hat das Strafrecht zurückzutreten. Deswegen ist nicht nur die seit 2015 bestehende Strafbarkeit der "geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" zurückzunehmen und die Selbstbestimmung am Lebensende erneut zum Thema zu machen (man glaubte doch die Zeiten moralisierenden Strafrechts überwunden! Unerträglich ist zudem die Unbestimmtheit der Regelung: eventuell macht sich ja schon strafbar, wer in Palliativstationen oder Hospizen einen Sterberaum und Sterbebegleitung jemandem zusagt, der sich in einer unerträglichen Krankheitssituation bewusst etwa für das Sterbefasten entscheidet. Sterbebegleiter sehen sich dem Dilemma ausgesetzt: zwischen einer Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe und unterlassener Hilfeleistung. Das politische Ziel, die Palliativmedizin zu stärken, wird in sein Gegenteil verkehrt: In Palliativ- und Hospizarbeit Tätige werden verunsichert. Denunziationen enttäuschter Angehöriger von Verstorbenen sind absehbar, ebenso peinliche und erniedrigende polizeiliche Ermittlungen in den sensiblen intimsten Bereichen des Lebens und Sterbens. Dabei ist vorauszusehen, dass wegen zu erwartender Nachweisprobleme solche Verfahren später eingestellt werden." - Wo Fachverbände die geeigneten und erforderlichen Mittel haben, um gegen Eigendoping vorzugehen, da braucht es auch die seit 2015 existierende Strafbarkeit des Eigendopings von Wettbewerbssportlern nicht. - Schließlich ist es rechtsstaatlich geboten, die künstliche Konstruktion von Tatgeschehen zurückzunehmen, wie sie mit dem Tatbestand der seit 2015 kriminalisierten "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat" erfolgte. Statt der Kriminalisierung des Versuchs der Vorbereitung zur Vorbereitung einer (vorgeblich) staatsgefährdenden Handlung hätte man es bei einem polizeilichen Ausreiseverbot belassen können. Strafverfolgung und Freiheitsentzug ohne Straftat - das passt nicht in einen demokratischen Rechtsstaat. - Besondere Beachtung verdient hier das jüngste Zensurgesetz des Bundesjustizministers Maas, auch Netzwerkdurchsetzungsgesetz genannt. Im vergangenen Sommer mit symbolischer Bedeutung im Kampf gegen rechts aufgeladen und ohne nennenswerte Kritik durch die Legislative geschleust, bedroht es nicht nur Twitter, Facebook und andere mit saftigen Strafen, wenn sie "offensichtlich rechtswidrige Inhalte" nicht binnen 24 Stunden löschen, es bedroht vor allem die Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, wie der erwartbare Skandal am ersten Tag nach seinem Inkrafttreten (um eine gelöschte Titanic-Satire) offenbarte. Historisch bewanderte Beobachter kann es das Fürchten lehren, wenn sie sehen, wie hemmungslos hier offenbar von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, anonym mit einem Mausklick Meinungsäußerungen zu denunzieren und damit kaum noch kontrollierbare zensurartige Lösch-Wellen auslösen, die unter Rechtsstaaten ihresgleichen suchen. Dass dabei ganze Bereiche kritischer Politik-Kommentierung im Netz in den Geruch der Illegitimität geraten, ist schlimm und sollte von niemadem, dem der Rechtsstaat etwas wert ist, auch nur billigend in Kauf genommen werden. Man denke hier etwa an die pauschale Verdächtigung von Kritikern der israelischen Besatzungspolitik als verkappte Antisemiten und die skandalösen Kündigungen von Bankkonten jüdischer Bürger, die sich für einen gerechten Frieden in Nahost einsetzen (Feest 2018).
  3. Entkriminalisierung bedeutet Rückkehr zum Rechtsgüterschutz und das wiederum bedeutet Verzicht auf strafrechtlichen Schutz vor sich selbst. Nichts anderes aber versucht das heutige Betäubungsmittelrecht im Namen des politischen Ziels (das fälschlich als Rechtsgut ausgegeben wird) der Volksgesundheit. Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Jedenfalls geht es bei der Entkriminalisierung nicht um Zwangstherapie und auch nicht nur um die Zulassung medical marihuana, sondern um die Rückbesinnung auf das Selbstbestimmungsrecht erwachsener Bürger in Bezug auf ihr Entspannungs- und Freizeitverhalten, also um das Recht auf recreational use, bzw. adult use. - Die lanjährige Stagnation der Drogenpolitik in Deutschland hat den Vorteil, dass wir uns inzwischen nur umschauen müssen, um nachahmenswerte Modell der Entkriminallsierung zu finden. In einem ersten Schritt können wir uns mit Entkriminalisierung der Konsumsphäre bei weiterbestehender Prohibition befassen (soft prohibition). Also mit einer Art De-Radikalisierung der Prohibition à la Portugal oder Holland. - In Portugal hat man mit der Herabstufung der Konsumsphären-Tatbestände zu Ordnungswidrigkeiten gute Erfahrungen gemacht. Seit 2001 spricht das Drogenrecht in Portugal ausdrücklich vom Primat der Entkriminalisierung, obwohl Drogenschmuggel und -handel weiterhin streng bestraft werden. Die Bevölkerung ist aber mit der neuen Regelung zufrieden. Überdosis-Todesfälle und Geschlechtskrankheiten sind zurückgegangen, während der Drogengebrauch insgesamt stagnierte oder sogar rückläufig war. Glenn Greenwald bezeichnete die Reform als "resounding success" und wichtig für drogenpolitische Debatten auf der ganzen Welt. - Die faktische Entkriminalisierung von Cannabis in Holland, wo Erwachsene bis zu sechs Cannabispflanzen für den Eigengebrauch aufziehen dürfen und wo der Verkauf von Cannabis in sog. Coffeeshops toleriert wird, solange diese Läden von der jeweiligen Gemeinde erlaubt und mindestens 250 m von der nächsten Schule entfernt liegen und die fünf Bedingungen erfüllen (1) keine Werbung zu betreiben, (2) keine harten Drogen zu tolerieren, (3) nicht an Kunden unter 18 Jahren zu verkaufen, (4) Ruhe und Ordnung in der Nachbarschaft zu respektieren, (5) nicht mehr als 5 g pro Kunde zu verkaufen und nicht mehr als 500g auf Lager zu haben, respektiert das Recht erwachsener Bürger auf legalen Zugang zu ihrem Genussmittel und ist ein gutes Beispiel für eine pragmatische Lösung. Allerdings bedarf die Frage des Anbaus und der Lieferung an die Coffeeshops noch der Lösung. - Wie so eine Lösung aussehen könnte, zeigen Uruguay und Kalifornien. In beiden Staaten ist Cannabis nicht nur auf der Konsumentenseite, sondern auch in Bezug auf Anbau und Vertrieb legalisiert. Das bedeutet keine liberale Regulation (vergleichbar mit der Alkoholpolitik in Deutschland), aber auch die restriktive Regulation mit staatlichen Anbaulizenzen und peniblen Kontrollen ist eine echte Entkriminalisierung, die anzusehen und nachzuahmen sich lohnen würde. - Das Gesetz vom 10.12.2013 reguliert Cannabis in Uruguay und erlaubt (1) den Kauf von (pro Person und Monat) bis zu 40 Gramm Marihuana in Apotheken, (2) den nicht-kommerziellen Anbau von bis zu sechs Cannabis-Pflanzen pro Person (bzw. von bis zu 99 Pflanzen für Marihuana-Clubs mit 15 bis 45 Mitgliedern). Bis Mitte 2017 hatten sich ca. 7000 Personen in das entsprechende amtliche Register eintragen lassen (NYT 19.7.2017), (3) den kommerziellen Anbau nach Lizenzvergabe durch die Regierung (bis Mitte 2017 hatten zwei Unternehmen entsprechende Lizenzen erhalten; der Anbau erfolgt auf militärischem Gelände ohne Zugang für die Öffentlichkeit), (4) seit Mitte Juli 2017 den Apothekenverkauf an registrierte Konsumenten; nur 16 Apotheken sind beteiligt (Mitte 2017), keine größere Apothekenkette. Grund: ökonomisch, gelegentlich auch politisch. Nur 5000 registrierte Konsumenten für den Apothekenkauf (von 3,5 Mio. Einwohnern). Hohe Sicherheitsanforderungen kosten viel Geld. Die 5-Gramm-Päckchen (vier Sorten) kosten ca. $ 6,60 (€ 5). - Es unterwirft Cannabis aber auch gewissen Restriktionen: (1) Anbau und Handel werden von einer staatlichen Kommission kontrolliert, um die Einschleusung von illegal angebautem Marihuana in den legalen Markt zu verhindern, (2) Konsumenten müssen sich in ein Register eintragen, (3) Minderjährige und Ausländer erhalten durch das Gesetz keinen legalen Zugang zu Marihuana. - Ähnlich verhält es sich seit 2018 mit Cannabis in Kalifornien. Dort darf jeder Bürger des Bundesstaates ab 21 Jahren bis zu 28,3 Gramm Cannabis (pro Monat) kaufen und bis zu sechs Pflanzen selbst anbauen. Konsum in der Öffentlichkeit sowie innerhalb von 1000 feet (300 m) von einer Schule ist ebenso verboten wie Autofahren unter dem Einfluss von Cannabis. Handel ist nur mit Lizenz des Bundesstaates und der Kommune erlaubt. Kommunen können sich auch ganz verweigern. Die Steuern sind mit 35% recht hoch. Pro Jahr wird in Kalifornien mit einem Cannabis-Steuer-Aufkommen von rund 1 Milliarde Dollar gerechnet. Insgesamt ist der kalifornische Marihuana-Markt alleine für die Jahre 2018-2021 laut der Firma Arcview geschätzte 40 Milliarden Dollar wert. - Trotz weiterbestehenden Prohibitionsgesetzes auf Bundesebene verfolgen aufgrund von Volksabstimmungen acht Bundesstaaten ihre eigene Regulationspolitik. Legalisierende Entkriminalisierungen fanden statt in Colorado, Washington, Oregon, Alaska, Maine, Massachusetts, Nevada und Kalifornien. In diesen acht Staaten gibt es sowohl "medical marihuana" (auf Rezept) als auch "recreational" marihuana "for adult use" ohne Rezept in dafür lizensierten Verkaufsstellen. - Regulation ist der Prohibition aber auch bei anderen Drogen überlegen. Die Beschränkung auf eine Cannabis-Reform darf insofern nicht das letzte Wort sein. Und die Beschränkung auf die Konsumsphäre natürlich sowieso nicht. Letztlich wäre mit Douglas Husak und Henner Hess an eine Angleichung der Drogenpolitik an die Zigarettenpolitik zu denken: Aufklärung über die Risiken, restriktive Gesetzgebung, aber Beibehaltung legalen Zugangs für diejenigen, die es unbedingt wollen.
  4. Eigentums- und Vermögensdelikte: Erster Schritt wäre die Rücknahme der Strafverschärfung von 2017 beim Tatbestand des Einbruchs in Privatwohnungen. Aus dem Verbrechen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr ist wieder ein Vergehen zu machen; auch ist der eklatante Widerspruch zum bandenmäßigen Einbruchsdiebstahl (wo es weiterhin die minder schweren Fälle mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten gibt) durch Wiedereinführung des minder schweren Falles zu beseitigen. Zweiter Schritt wäre die Herabstufung der Massenbagatelldelinquenz in diesem Bereich zu Ordnungswidrigkeiten.
  5. Sexualdelikte. Bloß moralwidriges Handeln, das nicht auch sozialschädlich ist, ist nicht strafwürdig. Schon Gustav Radbruch hatte gefordert, bloße Moralverstöße aus dem Strafrecht zu eliminieren, also die Tatbestände des Ehebruchs, der Sodomie, der einfachen Homosexualität und der sogenannten Verlobtenkuppelei, und nach einem halben Jahrhundert hatte das dann auch funktioniert. Dann die Frage, ob das Gewicht der Handlung tatsächlich eine Reaktion mit einer Kriminalstrafe als unverzichtbar erscheinen lässt. Dass das heutige Sexualstrafrecht nach Radbruch'schen Kriterien kritisch durchzumustern ist insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs des Verwaltungsrechts, steht außer Frage. Erneut auf die Tagesordnung gehört auch die freiheitliche und die Freiheit aller Beteiligten schützende Regulierung der Prostitution - vor allem auf dem Wege des Gewerberechts. Monika Frommel meint: "zurück zum alten Recht des § 177, nur § 177 Abs. 1 Nr. 3 etwas weiter fassen, damit die dusselige Rechtsprechung zu den Überrumpelungsfällen entfällt und diese Konstellation gut erfasst wird. Die Missbrauchsfälle (etwa von Jugendlichen) im Neuen Recht 2016 sind akzeptabel. - Die sog. Freierbestrafung muss weg."
  6. Kritischer Durchsicht bedürfen auch die Tatbestände im Bereich der sog. organisierten Kriminalität, im Transplantationsgesetz und in anderen Bereichen des Nebenstrafrechts.
  7. Restorative Justice statt Strafprozess.

Langfristige Orientierung

Weblinks und Literatur

  • Albrecht, Peter-Alexis/Beckmann, Heinrich/Frommel, Monika/Goy, Alexandra/Grünwald, Gerald/Hannover, Heinrich/ Holtfort, Werner/Ostedorf, Heribert (1992): Strafrecht – ultima ratio, Empfehlungen der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft
  • Albrecht, Peter-Alexis/Hassemer, Winfried/Voß, Michael (1992): Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung, Vorschläge der Hessischen Kommission „Kriminalpolitik“ zur Reform des Strafrechts. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft
  • Brusten, Manfred/Herriger, Norbert/Malinowski, Peter (Hrsg.) (1985): Entkriminalisierung, Sozialwissenschaftliche Analysen zu neuen Formen der Kriminalpolitik. Opladen: Westdeutscher Verlag
  • Council of Europe (1980): Report on Decriminalisation. Strasbourg
  • Entkriminalisierung in: de.wikipedia
  • Kohl, Beate/Scheerer, Sebastian (1989): Zur Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte. Aachen: Buch- und Zeitschriftenverlag Hubertus Wetzler
  • Kriminalisierung in: de.wikipedia
  • Naucke, Wolfgang (1984): Über deklatorische, scheinbare und wirkliche Entkriminalisierung. In: Naucke, Wolfgang (1999): Gesetzlichkeit und Kriminalität: Abhandlungen zum Strafrecht und zum Strafprozeßrecht. (Juristische Abhandlungen; Bd. 34) Frankfurt/M.: Klostermann, Abschnitt VII. (S. 154-176)
  • Neumann, Ulfrid (2004) Gustav Radbruchs Beitrag zur Strafrechtsreform, Kritische Justiz: 432 ff.
  • Petition
  • Reindl, Richard/Kawamura, Gabriele/Nickolai, Werner (Hrsg.) (1995): Prävention, Entkriminalisierung, Sozialarbeit. Alternativen zur Strafverschärfung.Freiburg i. Breisgau: Lambertus-Verlag
  • Roos, Gerhard (1981): Entkriminalisierungstendenzen im Besonderen Teil des Strafrechts. Frankfurt/M.: Verlag Peter Lang
  • Ruf nach schneller Entkriminalisierung (2014) Cannabis
  • Schäfer, Christian (2006) "Widernatürliche Unzucht" (§§ 175, 175a, 175b, 182 a.F. StGB) Reformdiskussion und Gesetzgebung. Berlin: BWV.
  • Steinert, Heinz (1993): Alternativen zum Strafrecht. In: In: Kaiser, Günther/Kerner, Hans-Jürgen/Sack, Fritz/Schellhoss, Hartmut (Hrsg.) (1993 3): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. Heidelberg: C. F. Müller Juristischer Verlag GmbH, (S. 9-14)
  • Thomas Vormbaum (2011(1983)), Beiträge zum Strafrecht und zur Strafrechtspolitik, Berlin; LIT Verlag Dr. W. Hopf

Siehe auch