Rechtsstaatliches Strafrecht

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Merkmale

Der Rechtsstaat ist "government of laws, not of men" (John Adams). Er setzt eine Normenhierarchie voraus, die im Verfassungsrecht mündet - alles hoheitliche Handeln muss verfassungskonform sein. Er setzt die Gleichheit aller Rechtssubjekte voraus (alle sind vor dem Gesetz gleich), und er setzt die Überprüfbarkeit der Handlungen der öffentlichen Gewalt in Bezug auf ihre Rechtmäßigkeit voraus.

Dies gilt in besonderem Maße für das Strafrecht, mit dem der Staat unmittelbar und in der Absicht der Übelszufügung in die Rechtssphäre der Bürger eingreift.

Rechtsstaatliches Strafrecht setzt deshalb voraus:

  1. Strafbarkeit muss gesetzlich ex ante normiert sein (nullum crimen, nulla poena sine lege; Analogie- und Rückwirkungsverbot; Bestimmtheitsgrundsatz)
  2. Nur fremdschädigendes Handeln darf strafbar gestellt werden, nicht die Selbstschädigung oder Selbstgefährdung
  3. Strafgesetzgebung muss auf einem dauerhaften Programm beruhen, nicht aus erratischen Reaktionen auf konjunkturelle Gelegenheiten resultieren
  4. Strafdrohungen müssen angemessen und für Täter und Gesellschaft ertragbar sein (keine Todesstrafe, keine radikalen Strafen)
  5. Strafgesetzgebung unterliegt den Grundsätzen der ultima ratio und der Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe
  6. Strafrecht ist auch in der Praxis rechtsstaatlich zu organisieren. Das heißt vor allem: Tatverdächtige haben das Recht auf einen ordentlichen und fairen und öffentlichen Prozess; Bestrafung setzt persönliche Schuld voraus (keine Sippenhaft), und bis zur Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung; sie haben Recht auf anwaltlichen Beistand, auf den gesetzlichen Richter und auf rechtliches Gehör.
  7. Verbot von strafjustizumgehenden Parallelbestrafungen durch Exekutivorgane wie Polizei, Geheimpolizei, Militär oder Hybridinstitutionen, die Verdächtige ohne Gerichtsverfahren der Freiheit, der Gesundheit oder des Lebens berauben.

Der von Anselm von Feuerbach formulierte Grundsatz nulla poena sine lege (lat. für „keine Strafe ohne Gesetz“) ist (auch) ein Rückwirkungsverbot, demzufolge eine Kriminalstrafe nur dann die wirksame Rechtsfolge eines Sachverhalts sein kann/darf, wenn dieser als bestimmter, nicht bloß bestimmbarer Tatbestand in einem förmlichen Gesetz fixiert ist.

Gleichbedeutend wird teilweise auch nullum crimen sine lege („kein Verbrechen ohne Gesetz“) verwendet.

Dieser Grundsatz, der in modernen Verfassungen zu den Justizgrundrechten gezählt wird, lässt sich präzisieren:

  1. Notwendigkeit zur schriftlichen Fixierung der Strafbarkeit (nulla poena sine lege scripta)
  2. Notwendigkeit der Fixierung vor Begehung der Tat (nulla poena sine lege praevia)
  3. Notwendigkeit hinreichender Bestimmtheit des Gesetzes (nulla poena sine lege certa)
  4. Verbot von Analogien zu Lasten des Täters über den Wortlaut des Gesetzes hinaus (nulla poena sine lege stricta)

Römisches Recht: »poena non irrogatur, nisi quae quaque lege vel quo alio iure specialiter huic delicto imposita est« (Dig. 50, 16, 131, 1). Eine Strafe wird nur dann auferlegt, wenn sie durch ein Gesetz oder durch irgendeine andere Rechtsvorschrift speziell diesem Delikt zugeordnet worden ist. Das besagte aber nur, dass die Strafe irgendwie feststehen musste und setzte nicht unbedingt ein Gesetz voraus. Auch beinhaltete das noch kein Analogieverbot.


Strafrechtsentwicklung in Deutschland

Winfried Hassemer:

"Seit Mitte der achtziger Jahre haben wir nur neue Strafvorschriften bewkommen, wir haben im Grunde keine abgeschafft. Die Strafbarkeit wurde erweitert, die Strafrahmen wurden erhöht. Wir haben in der Praxis des Strafprozesses den Deal. Mit dem Deal haben wir eine Reduzierung der Suche nach der Wahrheit, eine Reduzierung des Prinzips der Öffentlichkeit und eine Reduzierung des Prinzips der Schuldstrafe. Wir haben einen kräftigen Zuwachs an heimlichen Ermittlungsmethoden und eine erhebliche Zunahme von Ermittlungen gegen nicht verdächtige Personen, auch das gehört nicht zu unserer Tradition. Wir haben jetzt, und das halte ich nicht für Zufall, eine Diskussion über die Möglichkeit der Zulassung von Folter, der sogenannten Rettungsfolter, und wir haben eine Diskussion, die die Wissenschaft intensiv beschäftigt, über das sogenannte Feindstrafrecht."


Weblinks und Literatur

Nur die Unabhängigkeit der Dritten Gewalt kann im System der Gewaltenteilung ein rechtsstaatlichen Strafverfahren und eine Machtbegrenzung des Staates zu sichern. Aus dem rechtsstaatlichen Strafrecht entwickelt sich heute aber ein rechtlich anspruchsloses, opportunes und konsensorientiertes Präventionsparadigma. Dadurch kommt es zur Marginalisierung der Unabhängigkeit der Dritten Gewalt, denn das moderne Präventionsstrafrecht ist primär auf Effizienz und Flexibilisierung angelegt, nicht aber auf Prinzipienorientierung und Rechtsstaatlichkeit.
Materiell: Absolute Straftheorie (quia peccatum; poena absoluta ab effectu; Schuldprinzip (nulla poena sine culpa), materielle Wahrheit. Formell: strikte Bindung an Recht und Gesetz und die Befreiung von externen Einflüssen sind die Kennzeichen der Unabhängigkeit der Justiz und damit die Fortführung der Strafgesetzlichkeit ins Verfahren.

Siehe auch