Rechtsstaat

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Der Rechtsstaat ist die mittels Gesetzen organisierte Form politischer Herrschaft (John Adams: "rule of law, and not of men"). Der abstrakt-generelle Charakter von Gesetzen soll vor allem dafür sorgen, dass alle Rechtsunterworfenen gleiche Rechte und Pflichten haben - nach dem Motto: ob Bettler oder Millionär, vor dem Gesetz sind alle gleich. Um die Einhaltung der rechtlichen Grenzen der öffentlichen Gewalt zu überprüfen, bedarf es einer unabhängigen Justiz. Damit sind die Existenz einer in der Verfassung kulminierenden Normenhierarchie, das Prinzip der Gleichheit aller Rechtssubjekte vor dem Gesetz und die Unabhängigkeit der Justiz die drei Pfeiler eines Rechtsstaats.


Rechtsstaat = Legale Herrschaft, Herrschaft des Rechts (John Adams: rule of law, not of men). Zu den komplexen Traditionen, Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Rechtsstaat und rule of law und état de droit: Rosenfeld, Michel (2001) The Rule of Law and the Legitimacy of Constitutional Democracy, Southern California Law Review.

  • Staatliche Organe unterstellen sich unterschiedlichen Rechtsideen bzw. Ideologien. Diese werden verstanden als vorpositives Recht, also Recht, das unabhängig von einer spezifischen Gesetzgebung besteht. Hierbei handelt es sich um ein Verständnis im Sinne des état de droit.
  • Die staatlichen Organe sind den positiven Gesetzen des Gesetzgebers unterworfen (Verständnis als Rechtsstaat).
  • Ein von der Vernunft abgeleitetes, universelles, globales, vorpositives Recht, das von allen – inklusive des Gesetzgebers – einzuhalten ist (rule of law).

Rule of Law ist eng verknüpft mit dem Common Law, das die Rechtsprechung der Richter neben positivem Recht an vorher ergangenen Präzedenzfällen orientiert (hochgradig flexibles Richterrecht). Für den Rechtsstaat dagegen ist das positive Gesetz der Hauptbezugspunkt (Richter als la bouche de la loi). Der Rechtsstaat richtet sich an alle drei Gewalten (Exekutive, Legislative, Judikative). Zwar richten sich in Großbritannien ebenfalls alle Gewalten an der Rule of Law aus, aber zumindest die Legislative ist von der Theorie her betrachtet nicht an diese gebunden. - In Deutschland existiert das Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel, die Legislative zu kontrollieren, also festzustellen, ob Gesetze verfassungskonform sind. In Großbritannien ist die Legislative dagegen vollkommen souverän, richtet sich allerdings in der Praxis nach der Rule of Law (Kontrolle: Medien? Öffentlichkeit? Wahlniederlag?). - Im Gegensatz zur Rule of Law ist dem Rechtsstaat die Gewaltenteilung inhärent.

Das Word Justice Program/WJP (2016) versteht darunter ein durch folgende Phänomene gekennzeichnetes Rechtssystem:

  1. The government and its officials and agents as well as individuals and private entities are accountable under the law.
  2. The laws are clear, publicized, stable and just; are applied evenly; and protect fundamental rights, including the security of persons and property.
  3. The process by which the laws are enacted, administered, and enforced is accessible, fair, and efficient.
  4. Justice is delivered timely by competent, ethical, and independent representatives and neutrals who are of sufficient number, have adequate resources and reflect the makeup of the communities they serve.

Konkret bedeutet das für die Kriminalpolitik:

  1. Normative und faktische Garantie der Menschen- und Bürgerrechte gegenüber staatlichem Handeln (insbesondere von Polizei, Justiz und Militär)
  2. Normative Ächtung und faktische Verhinderung von Korruption und Machtmissbrauch durch Akteure in Legislative, Exekutive und Judikative (vom Präsidenten bis zum Polizisten)
  3. Zugang zum Recht für alle Bürger (von Beschwerdemöglichkeiten bis zu gerichtlicher Überprüfung staatlicher Akte und Entschädigungen)
  4. Gesetzliche und effektive Verfahren - also Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und Strafvollstreckungsverfahren (insbesondere ohne Einmischung von Politik, Polizei, Militär; due process) sowie eine erfolgreiche Kriminalitätskontrolle mit legalen Mitteln (geringe Kriminalitätsbelastung, geringe Homizidraten, keine gewaltsame Selbsthilfe)

Adressaten dieser Forderungen sind alle drei Staatsgewalten.


(1) Die Exekutive ist an die Gesetze und die Verfassung gebunden. Das schließt Korruption und außerrechtliche Eingriffe in Leib und Leben, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen der Bürger (in Gestalt von illegaler Polizeigewalt, Schutzgelderpressung etc.) aus. Sie kommen im funktionierenden Rechtsstaat nur als Skandale vor.

Die Polizei ist eine zivile Behörde. Sie hält sich auch gegenüber Unterprivilegierten, Verdächtigen und Kriminellen an die Gesetze. Sie diskriminiert niemanden. Als Organisation mit Gewaltlizenz, die einer besonders sorgfältigen Ausbildung und Aufsicht bedarf, existieren effektive interne und externe Kontrollen, die auch einen effektiven Beschwerdemechanismus einschließen. Bürgern steht der Rechtsweg zur gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungshandeln nicht nur in der Theorie offen.

(2) Die Judikative muss für Bürger zugänglich sein und qualifizierte und unabhängige Arbeit leisten. Urteile sind überprüfbar (Instanzenzug, Revision, Wiederaufnahme), Fehlurteile werden nicht vertuscht, sondern korrigiert und Justizopfer werden entschädigt (Fehlurteile, verfassungswidrige Straftatbestände).

Es gibt effiziente Ermittlungen ohne Ansehen der Person. Das Personal ist gut ausgebildet, unabhängig und respektiert. Es gibt keine willkürlichen Verhaftungen und/oder Verfahrenseinstellungen.

Die Sanktionen sind maßvoll und der Strafvollzug achtet die Menschenwürde. Grausame Behandlung ist ausgeschlossen und Gewalt zwischen Gefangenen wird verhindert. - Eine anspruchsvolle Konzeption von Rechtsstaatlichkeit könnte die Freiheitsstrafe, das Gefängnis als Ort ihres Vollzugs und die Institution der Kriminalstrafe selbst auf den Prüfstand stellen.

(3) Der Gesetzgeber hat bei der Strafgesetzgebung die Freiheitsrechte und Justizgrundrechte der Bürger zu respektieren. Das heißt: es dürfen nur Rechtsgüter geschützt werden, keine Weltanschauungen. Es gelten das Bestimmtheitsgebot, das Rückwirkungsverbot, das Ultima-Ratio-Prinzip, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

Ein "starkes" Rechtsstaatsverständnis würde die Strafgesetzgebung direkt in den Vergleich mit der Verfassung zwingen: für vorkonstitutionelle Strafgesetze gälte die Vermutung der Verfassungswidrigkeit. Es wäre in jedem Fall zu prüfen und zu begründen, warum welche Rechtsgüter überhaupt gegen welche Arten von Angriffen strafgesetzlich geschützt werden dürfen/müssen (Rechtsgutslehre) und bei welchen davon in concreto auch der strafrechtliche Schutz erforderlich, geeignet und verhältnismäßig ist; nicht notwendige Gesetze sind "überflüssige Herrschaft" und damit - so schon Tocqueville - "tyrannisch"; die Notwendigkeitsprüfung erfolgt schon im Gesetzgebungsprozess und ist nach Verabschiedung des Gesetzes auch verfassungsgerichtlicher Überprüfung zugänglich.

Essentiell für einen Rechtsstaat:

  1. Staatliche Organe müssen sich nach den Gesetzen richten Beispiel Reinhard Veser, Warum Spanien das Richtige tut. (2017): In dieser Konfrontation ist die spanische Regierung im Recht. Sie verteidigt in Katalonien eine der Grundlagen der Demokratie: Politiker haben sich Gesetzen und Gerichten unterzuordnen. Die Lage in Katalonien unterscheidet sich grundlegend von der im Baltikum oder auf dem Balkan in den achtziger und neunziger Jahren. Die Sowjetunion und Jugoslawien waren Diktaturen, Spanien dagegen ist ein demokratischer Rechtsstaat. (besser wäre: Spanien ist ein Rechtsstaat. Aber kein demokratischer, weil er - anders als London im Verhältnis zu Schottland - das demokratische Selbstbestimmungsrecht der Katalanen nicht achtet. Man könnte auch sagen: in Spanien gibt es den Rechtsstaat - auf der Insel the rule of law.)
  2. Die Legislative muss sich an die Verfassung halten und insbesondere die Grundrechte und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (in Bezug auf die Einschränkung von Rechten zum Wohle der Allgemeinheit) respektieren. Erforderlich sind auch Klarheit (Bestimmtheit) und Konsistenz von Gesetzen, Rückwirkungsverbot
  3. Rechtsschutz (Verfassungsgerichtsbarkeit und Sicherheit über den Rechtsweg), also Gewaltenteilung.

Ob darüber hinaus noch weitere Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um von einem Rechtsstaat sprechen zu können, und wenn ja: welche, ist umstritten. Es gibt "thick" und "thin", "starke" und "schwache" Konzepte. Die schwachen begnügen sich mit Regelgebundenheit und Erwartungssicherheit ("rule through law"), die starken fordern bestimmte Bürgerfreiheiten und demokratische Rückkopplungsmechanismen, um überhaupt von einem Rechtsstaat sprechen zu können. Schwache Konzepte sagen: wenn diese zusätzlichen Voraussetzungen vorliegen, um so besser: dann handelt es sich eben bei jenen Glücksfällen um freiheitliche demokratische Rechtsstaaten.

Obwohl sicherlich keine demokratischen Rechtsstaaten, werden z.B die arabischen Emirate (und Singapur) aufgrund ihrer hohen Rechtssicherheit gelegentlich durchaus als Rechtsstaaten eingestuft, obwohl dort jedenfalls nach den Weberschen Kriterien wohl eher von einer (dem Rechtsstaat geradezu entgegengesetzten) Form traditionaler Herrschaft zu sprechen wäre (Thiery, Sehring, Muno). Denn rechtsstaatliche Kriminalpolitik bedeutet "rule of law, and not of men" (John Adams). Sie kann definitionsgemäß weder durch Berufung auf bloße Tradition noch durch das persönliche Charisma einer Führerfigur, sondern allein durch die Autorität des in Gesetzesform niedergeschriebenen Rechts Geltung und Befolgung beanspruchen.

Das "gesatzte Recht" wiederum gewinnt seine Autorität durch die Verfassungsmäßigkeit der einfachen Gesetze und dadurch, dass die Verfassungsprinzipien fundamentale Gerechtigkeitskriterien anerkennen und bekräftigen (Menschenrechte).

Man kann auch sagen:

  1. Bindung der Verwaltung an die Gesetze (Bestimmtheit, Rückwirkungsverbot, Gleichheit)
  2. Gerichtliche Überprüfbarkeit hoheitlicher Eingriffe (unabhängige Justiz, Gewaltenteilung)
  3. Legitimität der Gesetze (Grundrechte, Regierung nicht über, sondern unter der Verfassung und unter dem Gesetz, Normenhierarchie, Bürger nicht Mittel zum Zweck, sondern Subjekt nach Kant. Selbst der Verbrecher hat ein Recht auf ein faires Verfahren.

Das Recht auf ein faires Verfahren (fair trial, due process) ist in Artikel 6 EMRK, Art. 18 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention und Art. 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der von den meisten Staaten der Welt ratifiziert wurde, verankert.

Artigo 18
Toda pessoa pode recorrer aos tribunais para fazer respeitar os seus direitos. Deve poder contar, outros

sim, com processo simples e breve, mediante o qual a justiça a proteja contra atos de autoridade que violem, em seu prejuízo, qualquer dos direitos fundamentais consagrados constitucionalmente.

Declaración Americana de los Derechos y Deberes del Hombre, Artículo XVIII:
Toda persona puede ocurrir a los tribunales para hacer valer sus derechos. Asimismo debe disponer de un procedimiento sencillo y breve por el cual la justicia lo ampare contra actos de la autoridad que violen, en perjuicio suyo, alguno de los derechos fundamentales consagrados constitucionalmente.

Während die ersten beiden Voraussetzungen auch in Nicht-Rechtsstaaten erfüllt sein können (rule by law), wird aus der Herrschaft durch Gesetze eine Herrschaft des Gesetzes (rule of law), wenn die Gesetze nach oben hin an eine Wertordnung und nach unten hin an die Freiheitsrechte der Bürger angebunden sind.



Rechtsgleichheit

Um die Grenzen der Gleichheit vor dem Gesetz gab es immer schon Kontroversen und Konflikte (George Orwell: "All animals are equal, but some animals are more equal than others").

Erstens war von Anfang an umstritten, inwieweit auch die Herrschenden selbst (die Kaiser und Könige, die Präsidenten, Premierminister und Kabinettsmitglieder usw.) zu den Rechtsunterworfenen zu zählen sind, inwieweit also auch sie zu den "allen" gehören, die vor dem Gesetz gleich sind (Gegenthese: princeps legibus solutus).
Zweitens zeigt der bekannte Brückenaphorismus von Anatole France, dass soziale Ungleichheit durch den abstrakt-generellen Charakter von Rechtsnormen nicht völlig neutralisiert werden kann ("Klassencharakter des Formalrechts").
Drittens gibt es - wesentlich befördert durch die Besonderheiten und Notwendigkeiten des Sozialstaats - auch eine Tendenz zur Relativierung des Ideals der formalen Rechtsgleichheit (Max Weber: antiformale Tendenzen in der Gesetzgebung; Materialisierung des Formalrechts).

Gewissen Einschränkungen zum Trotz verbleibt ein starker Aspekt der Rechtsgleichheit: alle Rechtsadressaten sollen sich darauf verlassen können, dass Polizei, Verwaltungsbehörden und Regierungen von ihnen nicht mehr verlangen dürfen - und in ihre Rechte nicht tiefer eingreifen - als es die Gesetze erlauben.

Daran schließt sich natürlich sofort die Frage an, was denn in einem Rechtsstaat passiert, wenn Polizei, Verwaltungsbehörden und/oder Regierungen von den Bürgern mehr verlangen als erlaubt. Wenn sie tiefer in die Rechte der Bürger eingreifen als erlaubt. Oder wenn die Bürger glauben, dass das der Fall sei - während die Exekutivorgane gar nicht dieser Ansicht sind (oder das für möglich halten, aber auf keinen Fall belangt werden wollen).

In einem Rechtsstaat muss für diesen Fall eine durch Gesetze gestaltete Vorsorge getroffen sein. Es bedarf einer unabhängigen Institution, die sich mit solchen Fragen befasst und verbindliche Urteile fällen darf (= Justiz).

Und es bedarf einer gesetzlichen Garantie, dass Bürger, die sich ungerecht behandelt fühlen, die in Frage stehenden Akte der Exekutive gerichtlich überprüfen lassen können (Rechtsweggarantie).

Freiheit

Es existiert mithin im Rechtsstaat eine Sphäre der Freiheit (= das, was die Gesetze den Individuen übrig lassen) und eine Sphäre der Staatskompetenzen (= die Rechte, die sich der Staat aufgrund der Gesetze herausnehmen darf, wie z.B. Steuern zu erheben, Schulpflicht, Befolgung der Verkehrsregeln etc.). Im Rechtsstaat sind die Bürger nicht völlig frei zu tun und zu lassen, was sie wollen, aber sie sind innerhalb der gesetzlichen Grenzen frei zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten.

Das Prinzip der Gesetzlichkeit würde aber nichts nützen, wenn es der Regierung (oder dem Parlament) möglich wäre, Gesetze jeden beliebigen Inhalts in Kraft zu setzen.

Grund- und Menschenrechte

Die Gesetzgebung darf deshalb die Menschenrechte (die Grundrechte, die Verfassung) nicht verletzen. Das Parlament ist nicht zum Erlass verfassungswidriger Gesetze befugt. Diese rechtsstaatliche Einschränkung des Mehrheitswillens dient, so wird gehofft, einer Zivilisierung der Demokratie (soweit von letzterer überhaupt die Rede sein kann).

Gegen (mutmaßlich) verfassungswidrige Gesetze gibt es im Rechtsstaat den Rechtsweg. Gerichte sind nicht befugt, verfassungswidrige Gesetze anzuwenden. Sind sie von der Verfassungswidrigkeit überzeugt, so haben sie das Recht und die Pflicht, das Gesetz von höheren Gerichten überprüfen zu lassen.

Damit Gerichte die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und die Rechtmäßigkeit von Verordnungen und Verwaltungsakten überhaupt unbefangen nach rechtlichen Kriterien beurteilen können, muss die Dritte Gewalt (möglichst) unabhängig sein, und zwar unabhängig von der Regierung (Exekutive) wie auch vom Parlament (Legislative).

Damit das Parlament als Volksvertretung und Gesetzgeber die Kompetenzen und das Handeln der Regierung kontrollieren kann, darf das Parlament auch nicht von der Regierung abhängig sein. Deshalb ist der Rechtsstaat auf ein (gewisses Maß) der Gewaltenteilung angewiesen. Die Gewaltenteilung selbst ist auch ihrerseits wieder rechtlich geregelt.

Die vollziehende Gewalt ist ebenso wie die Rechtsprechung an Recht und Gesetz gebunden. Das gilt für die Regierung wie für die Verwaltung. Die Bürger eines Rechtsstaats haben die Möglichkeit, Akte der vollziehenden Gewalt auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen.

Der Rechtsstaat entstand aus dem Widerstand gegen die Willkür unkontrollierter Machtkonzentrationen an der Spitze politischer Herrschaftssysteme und aus dem Bedürfnis der Machtunterworfenen nach Begrenzung und Berechenbarkeit der Herrschaft. Bürgerfreiheit und Rechtssicherheit erforderten - und erfordern - die Neutralisierung faktischer Machtunterschiede durch die Begrenzung der Einsetzbarkeit faktischer Übermacht.

Der Rechtsstaat hat zwei problematische Machtdifferenzen im Blick: erstens die von Bürgern untereinander (Reiche und Arme; Einflussreiche und Einflusslose ...) und zweitens die zwischen Herrschern und Herrschaftsunterworfenen.

Der Rechtsstaat neutralisiert die sozialen Differenzen durch die Allgemeinheit seiner Rechtsregeln ("gleiches Recht für alle"; Gleichheit vor dem Gesetz).

Der Rechtsstaat neutralisiert die politischen Differenzen zwischen Herrschaftsausübenden und Herrschaftsunterworfenen dadurch, dass er auch die Herrschaftsausübenden den Regeln des Rechts unterwirft. Die Herrschenden stehen nicht über dem Gesetz ("princeps legibus solutus"), sondern sind ihm wie alle anderen unterworfen.

Insofern legt der Rechtsstaat den Herrschenden Fesseln an. Zu diesen Fesseln gehören vor allem die Abwehrrechte der Bürger gegen Verletzungen ihrer Grundrechte.

Garantiert wird die Bürgerfreiheit durch bestimmte Verfahren, die eingehalten werden müssen, wenn staatliche Stellen etwas gegen einen Bürger unternehmen wollen.

Das sind vor allem die Justizgrundrechte, also die Rechtsweggarantie, die Ansprüche auf rechtliches Gehör und auf den gesetzlichen Richter sowie die Verbote der Analogie, der Rückwirkung und der Doppelbestrafung im Bereich des Strafrechts.

Auch das materielle Strafrecht unterliegt im Rechtsstaat bestimmten Restriktionen, die der Verteidigung der Freiheit des Bürgers dienen sollen.

Das Recht des Staates, Individuen zu bestrafen, darf weder der Willkür der Herrschenden noch politischen Zweckmäßigkeitserwägungen untergeordnet werden. Im Rechtsstaat dient das Strafrecht nur dem Rechtsgüterschutz - und nicht jedes beliebige staats- oder sozialpolitische Ziel darf zum Rechtsgut erklärt werden.

Politische Vorhaben, die z.B. der sozialen Gerechtigkeit oder "public health" dienen - wie etwa das Bestreben zur Zurückdrängung des Anteils der Zigarettenraucher in der Gesellschaft - dürfen im Rechtsstaat nicht mit dem Strafrecht verfolgt werden (so wie im 17. Jahrhundert in Russland und im Osmanischen Reich, wo man Raucher gelegentlich hinrichtete), sondern nur mit den allgemeinen Mitteln der Politik wie etwa der Besteuerung, der Aufklärung, der Erziehung und so weiter. Es können auch Regeln aufgestellt werden wie etwa das Verbot des Rauchens in bestimmten Räumen, doch die Verletzung dieser Regeln zieht im Rechtsstaat keine Kriminalstrafen nach sich, sondern moralisch indifferente Bußen für die Begehung von Ordnungswidrigkeiten.

Wo das Strafrecht eingreift, greift es nach bestimmten restriktiven Regeln ein: es muss verfassungsmäßig sein, es muss bestimmt sein, es muss besonders bei Gefährdungsdelikten einige Voraussetzungen erfüllen.

Wo das Strafrecht seine Grenzen überschreitet, gerät die Polizei außer Kontrolle.

Polizei im Rechtsstaat

Der Polizei kommt sowohl im Bereich der Strafverfolgung als auch im Bereich der Ordnungswidrigkeiten eine besondere Bedeutung zu. In der Polizei kristallisieren sich die Probleme des Rechtsstaats und in der Kontrolle der Polizei zeigt sich wie unter einer Lupe die normative und die rechtliche Verfasstheit des Staates. Ob ein Staat ein Rechtsstaat ist, zeigt sich bei der Analyse der Polizei.

Die Polizei ist im Rechtsstaat nicht souverän: sie entscheidet nicht über Leben und Tod, sondern ist verpflichtet, einen Verdächtigen einem geregelten Verfahren zur Feststellung von Normverletzungen zuzuführen. Nur wo dies nicht möglich ist und unmittelbare Gefahr für Leib und Leben besteht, die anders nicht abgewendet werden kann, ist die Polizei zur Verletzung oder Tötung von Verdächtigen befugt.

Ein Kriterium der Rechtsstaatlichkeit ist deshalb die normative und die faktische Einhegung polizeilicher Gewaltausübung.

Zitate

  • Im Gegensatz zu der ruhigen Entwicklung des britischen Rule of Law im neunzehnten Jahrhundert behielt der deutsche Rechtsstaatsbegriff etwas von einer Schlangenbeschwörung: er war ein Katalog teils erfüllter, teils offener Forderungen. - Otto Kirchheimer 1967: 121


  • Ein zu schwacher Rechtsstaat ist nicht in der Lage, Recht und Ordnung zu schützen. Ein zu starker kann Freiheit und Grundrechte gefährden. Die Ökonomik von Recht und Ordnung spricht somit für ein kluges Abwägen mit Augenmaß und Mitte. Die Ereignisse der letzten Monate lassen vermuten, dass sich die Gewichte verschoben haben und Korrekturbedarf besteht. Dabei geht es nicht um neue Gesetze, sondern eine konsequentere Durchsetzung bestehender.
Auch ohne im Geringsten zum Polizeistaat zu werden, sollte der Rechtsstaat wieder gestärkt werden – insbesondere beim Vollzug. Mit mehr und besser geschulten Polizeikräften könnte die innere Sicherheit verbessert werden. Mit mehr Richtern ließen sich Gerichtsverfahren beschleunigen. Mit mehr Personal wären Asylverfahren rascher abgearbeitet. Eine effektivere Durchsetzung gefällter Urteile und deren konsequenterer Vollzug sind wesentliche Schritte zur Rückgewinnung von Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat. - Thomas Straubhaar (2016): Der Rechtsstaat ist die deutsche Leitkultur

Empirie des Rechtsstaats

Interessanterweise wird das selten empirisch überprüft: die Selbst-Bezeichnung scheint zu genügen. Selbst Wikipedia hat keine Rubrik für empirische Überprüfung oder Kritische Stimmen.

Was bedeutet der Indikativ (Aktiv oder Passiv) in Gesetzestexten?

Welches sind die Kriterien des Rechtsstaats und inwiefern werden sie erfüllt?

Was würde alles auf eine Rechtsstaats-Checkliste gehören?

Quantitativ: mehr oder weniger rechtsstaatlich.

Qualitativ: welche Alternativen gibt es zur Klassifikation als Rechtsstaat, wenn die Kriterienerfüllung eine gewisse Schwelle nicht erreicht?

Unrechtsstaat? Diktatur? Autoritärer Staat?

Vorschlag: Doppelstaat. Begriffsproblematik: historisch/analytisch (Bezug auf eine exkludierte Gruppe...).

Für die gibt es dann keinen Rechtsstaat. Subjektiv, partiell. Aber ist die Gesamtheit dann noch Rechtsstaat oder nur noch Normenstaat?

Drogen und Terrorismus als Avantgarde der Transformation des Rechtsstaats. Karam. Albrecht.

Beispiele. Machiavelli als Gegenprinzip zum Rechtsstaat: der Zweck heiligt die Mittel. Beispiele für diese Haltung. (Todenhöfer).

Weblinks und Literatur

  • Immanuel Kant: Vom Wesen der Republik und Demokratie
  • Rechtsstaat, in: bpb
  • Bezeichnung für einen Staat, in dem Regierung und Verwaltung nur im Rahmen der bestehenden Gesetze handeln dürfen. Die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger müssen garantiert sein, staatliche Entscheidungen müssen von unabhängigen Gerichten überprüft werden können. Das Rechtsstaatsgebot gehört zu den grundlegenden Prinzipien unseres Staates.
  • Die Bundesrepublik Deutschland ist ein republikanischer, demokratischer und sozialer Rechtsstaat. So steht es im Grundgesetz [Art. 28 (1) GG]. Zu allererst bedeutet dies: Alles, was staatliche Behörden in Deutschland tun, ist an Recht und Gesetz gebunden. Staatliche Willkür ist ausgeschlossen [Art. 20 (3) GG].
  • Ein wesentliches Kennzeichen des Rechtsstaates ist die Gewaltenteilung, insbesondere die Unabhängigkeit der Gerichte.
  • Für die staatliche Verwaltung, also z.B. für eine staatliche Schule oder das Finanzamt, gilt: Sie muss gesetzmäßig sein, darf also nicht ohne gesetzliche Grundlage handeln oder gar mit ihrem Handeln gegen Verfassung und Gesetze verstoßen (Grundsatz der Gesetzmäßigkeit). Insbesondere muss sie auch die Grundrechte achten, die den Bürgerinnen und Bürger in der Verfassung garantiert sind. Alles staatliche Handeln muss ferner der Situation angemessen sein. Wenn der Staat eingreift, darf er nicht überreagieren. Ein Falschparker darf von der Polizei nicht gleich eingesperrt werden (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). Bürgerinnen und Bürger, die sich von staatlichem Handeln verletzt fühlen, können in unserem Rechtsstaat unabhängige Gerichte zu ihrem Schutz anrufen [Art. 19(4), Art. 93(4a) GG].Verwaltungsgericht, Verfassungsbeschwerde.
  • Zum Rechtsstaat gehört ferner die Rechtssicherheit. Der Einzelne muss sich auf die bestehenden Gesetze verlassen können, er muss vorhersehen können, welche rechtlichen Folgen sein Handeln hat. Im Rechtsstaat gibt es ferner umfangreiche Garantien bei einem Freiheitsentzug: Wer von der Polizei vorläufig festgenommen wird, muss unverzüglich, spätestens am folgenden Tage, einem Richter vorgeführt werden, und nur der darf eine weitere Freiheitsentziehung (=Haft) anordnen. Wer im Gefängnis sitzt, darf weder körperlich noch seelisch misshandelt werden [Art. 104 GG]. Kommt es zur Gerichtsverhandlung, so hat der Angeklagte Anspruch auf ein faires Verfahren und muss sich angemessen verteidigen können. Sondergerichte sind unzulässig [Art. 101, 103 GG].
Quelle: Thurich, Eckart: pocket politik. Demokratie in Deutschland. überarb. Neuaufl. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2011.

L’État de droit peut se définir comme un système institutionnel dans lequel la puissance publique est soumise au droit. Cette notion, d’origine allemande (Rechtsstaat), a été redéfinie au début du vingtième siècle par le juriste autrichien Hans Kelsen, comme un État dans lequel les normes juridiques sont hiérarchisées de telle sorte que sa puissance s’en trouve limitée. Dans ce modèle, chaque règle tire sa validité de sa conformité aux règles supérieures. Un tel système suppose, par ailleurs, l’égalité des sujets de droit devant les normes juridiques et l’existence de juridictions indépendantes.

  • Le respect de la hiérarchie des normes
L’existence d’une hiérarchie des normes constitue l’une des plus importantes garanties de l’État de droit. Dans ce cadre, les compétences des différents organes de l’État sont précisément définies et les normes qu’ils édictent ne sont valables qu’à condition de respecter l’ensemble des normes de droit supérieures. Au sommet de cet ensemble pyramidal figure la Constitution, suivie des engagements internationaux, de la loi, puis des règlements. A la base de la pyramide figurent les décisions administratives ou les conventions entre personnes de droit privé.
Cet ordonnancement juridique s’impose à l’ensemble des personnes juridiques. L’État, pas plus qu’un particulier, ne peut ainsi méconnaître le principe de légalité : toute norme, toute décision qui ne respecteraient pas un principe supérieur seraient en effet susceptible d’encourir une sanction juridique. L’État, qui a compétence pour édicter le droit, se trouve ainsi lui-même soumis aux règles juridiques, dont la fonction de régulation est ainsi affirmée et légitimée. Un tel modèle suppose donc la reconnaissance d’une égalité des différents sujets de droit soumis aux normes en vigueur.
  • L’égalité des sujets de droit
  • L’égalité des sujets de droit constitue la deuxième condition de l’existence d’un État de droit. Celui-ci implique en effet que tout individu, toute organisation, puissent contester l’application d’une norme juridique, dès lors que celle-ci n’est pas conforme à une norme supérieure. Les individus et les organisations reçoivent en conséquence la qualité de personne juridique : on parle de personne physique dans le premier cas, de personne morale, dans le second.
L’État est lui-même considéré comme une personne morale: ses décisions sont ainsi soumises au respect du principe de légalité, à l’instar des autres personnes juridiques. Ce principe permet d’encadrer l’action de la puissance publique en la soumettant au principe de légalité, qui suppose au premier chef le respect des principes constitutionnels. Dans ce cadre, les contraintes qui pèsent sur l’État sont fortes : les règlements qu’il édicte et les décisions qu’il prend doivent respecter l’ensemble des normes juridiques supérieures en vigueur (lois, conventions internationales et règles constitutionnelles), sans pouvoir bénéficier d’un quelconque privilège de juridiction, ni d’un régime dérogatoire au droit commun.

Les personnes physiques et morales de droit privé peuvent ainsi contester les décisions de la puissance publique en lui opposant les normes qu’elle a elle-même édictées. Dans ce cadre, le rôle des juridictions est primordial et leur indépendance est une nécessité incontournable.

  • L’indépendance de la Justice
Pour avoir une portée pratique, le principe de l’État de droit suppose l’existence de juridictions indépendantes, compétentes pour trancher les conflits entre les différentes personnes juridiques en appliquant à la fois le principe de légalité, qui découle de l’existence de la hiérarchie des normes, et le principe d’égalité, qui s’oppose à tout traitement différencié des personnes juridiques. Un tel modèle implique l’existence d’une séparation des pouvoirs et d’une justice indépendante. En effet, la Justice faisant partie de l’État, seule son indépendance à l’égard des pouvoirs législatif et exécutif est en mesure de garantir son impartialité dans l’application des normes de droit.
Par ailleurs, les juridictions doivent être en mesure de confronter les différentes normes, afin de juger de leur légalité, y compris s’il s’agit de règles ayant un rang élevé dans la hiérarchie. Une loi ou une convention internationale contraire à la Constitution doit ainsi être écartée par le juge et considérée comme non valide. L’État de droit suppose donc l’existence d’un contrôle de constitutionnalité. Compte tenu du caractère complexe d’un tel contentieux, Hans Kelsen a proposé de le confier à une juridiction unique et spécialisée, ayant la qualité de Cour constitutionnelle.
L’État de droit est avant tout un modèle théorique. Mais il est également devenu un thème politique, puisqu’il est aujourd’hui considéré comme la principale caractéristique des régimes démocratiques. En faisant du droit un instrument privilégié de régulation de l’organisation politique et sociale, il subordonne le principe de légitimité au respect de la légalité. Il justifie ainsi le rôle croissant des juridictions dans les pays qui se réclament de ce modèle.
O estado de direito é uma situação jurídica, ou um sistema institucional, no qual cada um é submetido ao respeito do direito, do simples indivíduo até a potência pública. O estado de direito é assim ligado ao respeito da hierarquia das normas, da separação dos poderes e dos direitos fundamentais.
Em outras palavras, o estado de direito é aquele no qual os mandatários políticos (na democracia: os eleitos) são submissos às leis promulgadas.
Considera-se o livro Die deutsche Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates (A Ciência Policial Alemã de acordo com os princípios do estado de Direito), do escritor alemão Robert von Mohl, como a obra seminal, inauguradora do pensamento teórico sobre o "império da lei". A obra foi escrita entre 1832 e 1834 e publicada em 1835. Além disso, existe corrente teórica do pensamento político alemão, que foi comandada pelo influente filósofo político Friedrich Hayek, que considera os escritos de Immanuel Kant como a base sobre a qual se construiria, mais tarde, o pensamento político de von Mohl.
Nach der Bill of Rights musste der König das Parlament in regelmäßigen Abständen einberufen und benötigte dessen Zustimmung zur Erhebung von Steuern und Abgaben, zur Anwendung der Folter sowie zum Unterhalt eines stehenden Heeres in Friedenszeiten. Darüber hinaus begründete das Gesetz die Immunität der Parlamentsabgeordneten: Sie genossen völlige Redefreiheit im Unterhaus und mussten sich für Vergehen künftig nur noch vor diesem selbst, aber nicht mehr vor dem König oder seinen Gerichten verantworten.
«Para as Nações Unidas, o conceito de «Estado de derecho» ocupa um lugar central no papel da Organización. Se refiere a un principio de gobierno según el cual todas las personas, instituciones y entidades, públicas y privadas, incluido el propio Estado, están sometidas a unas leyes que se promulgan públicamente, se hacen cumplir por igual y se aplican con independencia, además de ser compatibles con las normas y los principios internacionales de derechos humanos. Asimismo, exige que se adopten medidas para garantizar el respeto de los principios de primacía de la ley, igualdad ante la ley, rendición de cuentas ante la ley, equidad en la aplicación de la ley, separación de poderes, participación en la adopción de decisiones, legalidad, no arbitrariedad, y transparencia procesal y legal».


"For the United Nations, the rule of law refers to a principle of governance in which all persons, institutions and entities, public and private, including the State itself, are accountable to laws that are publicly promulgated, equally enforced and independently adjudicated, and which are consistent with international human rights norms and standards. It requires, as well, measures to ensure adherence to the principles of supremacy of law, equality before the law, accountability to the law, fairness in the application of the law, separation of powers, participation in decision-making, legal certainty, avoidance of arbitrariness and procedural and legal transparency."
Die Auflösung des rechtsstaatlichen Strafrechts in ein Bürgerstrafrecht einerseits und ein Feindstrafrecht andererseits ist der ständige Wegbegleiter des rechtsstaatlichen Strafrechts, der stets und immer wieder dessen Erosion betreibt. Der Rechtswissenschaftler Günther Jakobs hat diesen Prozess der rechtsstaatlichen Erosionen beschrieben und bezeichnet das trefflich als gefährliche „Durchmischung allen Strafrechts mit Einsprengseln feindstrafrechtlicher Regelungen“.
All das ist ein Ausdruck der Erosion und des Niedergangs rechtsstaatlicher Strafrechts-Standards. Diese Entwicklungen, die schon 1995 im 50. Band der Frankfurter kriminalwissenschaftlichen Studien als „unmöglicher Zustand des Strafrechts“ und später – 1999 – als „Irrwege der Strafgesetzgebung“ (Band 69) bezeichnet wurden, können nur noch mit Kapitelüberschriften wie Übergriffe, Versäumnisse, Verschärfungen, Verformungen und Zerstörungen rechtsstaatlicher Grundlagen beschrieben werden. Der jüngste, 100. Band trägt den Endzeit-Titel „Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts“, was sogar den Beifall des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts findet. Anstatt aber Unabwägbarkeiten und Unverfügbarkeiten – so wie er es noch als Wissenschaftler tat – anzumahnen, fordert der Richter Hassemer nunmehr ein „rechtsstaatliches Sicherheitsstrafrecht“, welches auf die „normative Desorientierung, Verbrechensfurcht und Kontrollbedürfnisse einer Risikogesellschaft“ antworten soll. Nicht mehr der Schutz des Bürgers vor dem machtvollen Zugriff des Staates wird als Aufgabe der Grundrechte gesehen, sondern „die ‚gefühlte’ Bedrohung, die Verbrechensfurcht der Wählerinnen und Wähler wird am Ende über die reale Kriminalpolitik entscheiden – und das, im demokratischen Staat, zu Recht“, so der Richter Hassemer. Eine derartige Position des ambivalenten Abwägens von Vor -und Nachteilen des Präventions- und Sicherheitsstaates ohne Ankoppelung an einen absoluten Schutz der Menschenwürde und andere verfassungsrechtliche Unabwägbarkeiten führt direkt hinein in das Jakobssche Bild einer dichotomisierten Gesellschaft von Wählern und Feinden. Bei einem Innenminister würde einen eine derartige Positionierung kaum noch verwundern. Aus der Feder eines Hüters der Verfassung ist die Position indes schon selbst Beleg für die fortschreitende Erosion des Rechtsstaates.
Jakobs bezeichnet diesen Prozess der Rechtserosion im materiellen und Verfahrensrecht als Weg des Gesetzgebers, gefährlichen Straftätern den Bürgerstatus abzusprechen und diesen nicht als Bürger zu behandeln, sondern als „Feind“ zu „bekriegen“. Legitimation hierfür sei das Recht der Bürger auf Sicherheit, davor müsse jeder Feind in die Knie gehen, habe damit auch nicht mehr das Recht auf eine strafrechtliche Behandlung als Person. Derartige Nichtpersonen seien nicht durch das Recht zu behandeln, „vielmehr ist der Feind exkludiert“. Der Prozess der Erosionen des rechtsstaatlichen Strafrechts wird von Jakobs so skizziert: „Der Staat hebt in rechtlich geordneter Weise Rechte auf“. Das Modell hierfür sind die Notverordnungen der späten Weimarer Republik.
Wie soll nun eine Gruppe bekämpft werden, die ihrerseits die Rechtsstaaten bekämpft und den gegebenen Grundrechtsschutz umkehrt, um nicht greifbar zu sein?
Entweder der Rechtsstaat gibt seine Prinzipien auf und läuft Gefahr, seine Identität zu verlieren. Mehr und mehr gerät er in die Rolle, in die er hineingezwängt werden soll.
Hält er an seinen Leitlinien fest, droht er, durch seine eigenen Waffen geschlagen zu werden. Sehr häufig endet die Terrorismusbekämpfung mit der Beendung der Existenz des jeweiligen einzelnen Gegners, unabhängig davon, ob die dahinter stehenden Netzwerke und realpolitischen Zusammenhänge weiterhin bestehen oder nicht. So ist die heutige Form des Terrors nicht nur ein simples Symptom einer menschenverachtenden Weltansicht, die mit dem Islam nur wenig gemeinsam hat. Schon angesichts der verschiedenen Strömungen des Islams, ob Schiismus, Schiitismus oder die ausgeprägte Form des Wahabismus, aus der sich der extremistische Fundamentalismus nährt, kann nicht von einem islamischen Fundamentalismus gesprochen werden. Wohl wird in Großteilen der Medien ein Bild geprägt, welches befürchten ließe, die gesamte arabische Welt stünde im „Kriege“ mit „unserer Welt“. Aber es kann definitiv nicht einfach so ein schwarzer Strich durch die Glaubensgemeinschaften gezogen werden, wo doch alle gleichermaßen von einem Phänomen betroffen sind, welches dem Tode näher ist als dem Leben. Es sind sowohl demokratisch ausgerichtete Staaten, autokratische Republiken, feudale Monarchien und totalitäre Regimes in ihren Grundfesten betroffen. Integrationspolitik, Sozialpolitik, Sicherheitspolitik sowie Außenpolitik sind hier gleichermaßen gefordert. Denn man darf nicht vergessen, daß der gegenüberstehende Gegner die Fehler und Lücken jeglicher Ressorts gnadenlos zu seinen Vorteilen ausnutzt und sich der religiösen Institutionen unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit zur Ressourcengewinnung bedient. Folge Dem Rechtsstaat bleibt angesichts der Gefahren nur sehr wenig Spielraum, will er eine Problematik beheben, die sich mit ihm gegen ihn richtet, sei es auch nur, wenn es sich um ein Kopftuch handelt. Er selbst muß in Dingen der Religion neutral bleiben, darf aber nicht selbst Religion werden, um keinerlei Angriffsfläche für Dritte zu bieten. Steht ihm verfassungsfeindliches Element entgegen, das ihn zu immobilisieren vermag, so muß er lang- und kurzfristig diejenigen schützen, die ihm anvertraut sind, ohne den zu treffen, der es nicht vermag.



Das Ideal des Rechtsstaats, wie es als Leitbild polemisch gegen den Absolutismus entwickelt wurde, enthielt die Freiheits- und Gleichheitsforderungen der Französischen Revolutio, und es setzte sich in allen europäischen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts durch.Es enthält zunächst die Zusage, dass bei der Verteilung von Gütern und Chancen, bei Bestrafung und Belohnung, Regeln eingehalten werden. Wenn es um Strafen geht, sollen sie vorher bekannt sein (nullum crimen, nulla poena sine lege). Diese Regeln sind die vom Parlament beschlossenen Gesetze, soweit es um Eingriffe in Grundrechte der Bürger geht. Das Parlament soll darüber wachen, dass in diese Rechte nur aus wohlerwogenen Gründen eingegriffen wird.Über dem Parlament wiederum wacht der 'Hüter der Verfassung', das Verfassungsgericht, bei dem schließlich die politischen und verfassungsrechtlichen Stränge zusammenlaufen" (539).

Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips durch Terrorismusbekämpfung

Siehe auch