Post-präventives Strafrecht

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Das StGB von 1871 beruht auf einer Theorie der Tat-und-Schuld-Vergeltung mit generalpräventiven Einschüben. Davon ist 120 Jahre später kaum noch etwas geblieben. Inzwischen gilt das Ziel einer Abschreckung tatgeneigter Täter als archaisch. Zweck des Strafgesetzes ist die Kriminalprävention. Und die Stärkung der Rechtstreue der Bevölkerung, jetzt geadelt als positive Generalprävention:

"Ein neuer strafrechtlicher Sprachgebrauch wird üblich. Strafrecht ist Kriminalprävention = positive Generalprävention und auch Spezialprävention = Beitrag zur Verbrechensbekämpfung = Stärkung der inneren Sicherheit" (339).

Präventionsstrafrecht

  1. Ständige Ausdehnung ("Normlawine"), es gibt also immer mehr Situationen, in denen man sich strafbar machen kann. "Die Paradebeispiele für eine sinnvolle Begrenzung des Strafrechts, für den fragmentarischen Charakter des Strafrechts (...) sind gestrichen." 341
  2. Ausdehnung der Strafrahmen und Verhärtung der Strafen: "Was die neuere Gesetzgebung 'Strafrahmenharmonisierung' nennt, ist überall Angleichung an das höhere Niveau" 341
  3. Ausbau des Ermittlungsverfahrens (Zunahme prozessualer Zwangsmittel, auch gegen Unverdächtige, damit man Verdächtige finden kann - Rasterfahndung, Gentests - Einschränkung von Rechtsmitteln und Begründungspflichten)
  4. Verlust der Selbständigkeit von Strafrecht und Strafprozessrecht: Ineinanderwachsen von Strafrecht und Polizeirecht. Unterscheidung von Repression und Prävention ist aufgegeben. Rudolphi im Systematischen Kommentar zum StGB über das Strafrecht: "Seine Aufgabe ist ähnlich wie die des Polizeirechts auf Gefahrenabwehr beschränkt." 342
  5. Herausbildung großflächiger informeller und gesetzlich nicht gebundener Parallelen zur justizförmigen und zumindest gesetzesgebundenen Kriminalprävention durch sog. Präventionsräte 343
  6. Auflösung der Tatbestandsgrenzen und damit eines Pfeilers rechtsstaatlichen Strafrechts
  7. Ausweitung der Ermessensspielräume bei den Rechtsfolgen der Straftat
  8. Bedeutung und Unabhängigkeit der Justiz gehen zurück
"Präventionsstrafrecht mit abgeschwächter Rechtsstaatlichkeit, das ist das Kennzeichen der aktuellen Kriminalpolitik." 345 - Doch es zeichnen sich bereits neue kriminalpolitische Linien ab ...

Post-präventives Strafrecht

Die Reise geht in Richtung auf ein situatives,nach Bedarf einsetzbares oder eben auch nicht eingesetztes Strafrecht mit folgenden Kennzeichen:

  1. weite, ungenau bleibende Strafbarkeitsvoraussetzungen
  2. hohe Strafdrohungen mit viel Ermessen und Ermöglichung formloser Beendigung von Verfahren in großem Umfange und mit vielen Alternativen.

Beispiele:

  1. Theorie und Praxis der Strafbarkeit des unerlaubten Entfernens vom Unfallort. So unbestimmter Tatbestand, dass dauernd seine Verfassungswidrigkeit vermutet wird; kein Rechtsgut im herkömmlichen Sinne; Rechtsfolgen zwischen harter Strafe und formloser Beendigung zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens (345 f.)
  2. Geldwäschegesetzgebung
  3. Betrug (§§ 263 ff. StGB)
  4. Diebstahl (§ 248a StGB)
  5. Umweltdelikte
  6. besonders klar beim BtMG

Die Informalisierung des Strafverfahrens mit den §§ 153 ff StPO stellt "sicher, dass diese Kennzeichen auch in die Bestimmungen eindringen, die nicht so modern formuliert sind wie §§ 142, 261 StGB." 347

Am klarsten: Absprachen, Vereinbarungen, Vergleich, Vertrag im Strafprozess: "Dieses Institut ist nirgendwo geregelt. Seine praktische Bedeutung ist groß" 347

In eine Absprache können eingehen: der Sachverhalt, das materielle Recht, vor allem das Rechtsfolgenrecht, das Verfahrensrecht, das Vollstreckungs- und Vollzugsrecht bis hin zum Gnadenrecht:

"Diese Gegenstände und ihre Folgen für das Verfahren werden so lange als Masse gestaltet und umgerstaltet, bis ein für alle notwendig Beteiligten hinnehmbares Ergebnis erreicht ist." 347
"Es handelt sich um etwas prinzipiell Neues, um die mehr oder weniger großräumige Gestaltung einer Situation, veranlasst durch ein Strafverfahren. Die Erwägungen über die Restdauer des Verfahrens, die Rechtsfolgen und die Vollzugsgestaltung sind die Grundlage für die Bereinigung einer Situation: die Stiftung von Forschungsgeldern als Ergebnis von Absprachen dient der Aufhellung von naturwissenschaftlich ungeklärten Verläufen; Absprachen können zweifelhafte Produkte vom Markt entfernen und Produktionsverläufe umorganisieren. Das ist ein neues strafrechtliches Denken. Die neue Professionalität besteht darin, dass die beteiligten Juristen das gesamte Strafrecht zusammennehmen, um ein Verfahren beenden zu können. Das hat mit Gesetzesanwendung nicht mehr zu tun. Strafrechtlich genügt eine 'Plausibilitätsprüfung' - bei offenen Plausibilitätskriterien. Neu ist, dass das Strafrecht nur ein Mittel ist, ein im Grundsatz offenes Ziel der Verfahrensbeendigung zu bestimmen. Prävention spielt bei dieser Zielbestimmung eine untergeordnete Rolle. 'Situationsbereinigung' wird angestrebt. Die Bestimmung der Situation und die Art der Bereinigung bleibt der Phantasie und dem rhetorischen Geschick der Beteiligten überlassen." 347 f.

Kritik

Wolfgang Naucke behauptet, "dass man an den meisten Reformen im materiellen und formellen Strafrecht seit etwa 1980 feststellen kann, dass sie sich aus dem Grundsatz 'prozessökonomische Prävention bei großzügigem Umgang mit dem Rechtsstaat' nicht mehr erklären lassen" (349) und kritisiert den Verlust an Rechtsstaatlichkeit:

"Der Sachverhalt wird künstlich abgesteckt. Die Anwendung des materiellen Rechts ist pauschal und nicht einmal sonderlich plausibel. ... Dem Täter wird eine unspürbare Strafe angeboten; von Prävention kann keine Rede sein. Die Revision wird zum Spielmaterial in der Absprache. ..." 349

Im (mittlerweile weitgehend verselbständigten) Ermittlungsverfahren gibt es zahllose Parallelen zur Absprache im Hauptverfahren.

Die Opferrolle wird komplexer und widersprüchlicher (349 f.).

An die Stelle einer präventionsorientierten Kriminalpolitik ist eine "phantasievolle Kriminalpolitik ohne festes Ziel" getreten. 350

"Dass es ein einheitliches präventives, dabei rechtsstaatlich großzügiges Strafrecht nicht mehr gibt, zeigt sich auch an (...) der Debatte über das mehrspurige Strafrecht." 352

Achtspuriges Strafrecht

  1. Traditionelles rechtsstaatliches Schuldstrafrecht
  2. Schuldunabhängiges, rechtsstaatlich nicht mehr anspruchsvolles spezialpräventiv gerichtetes Maßregelrecht
  3. Strafrecht um den Wiedergutmachungsgedanken herum: innovative Rechtsfolgen, theorielos und ohne den Maßstab der Rechtsstaatlichkeit
  4. Opportune Diversion (§§ 153 ff. StPO, 45, 47 JGG) durch unübersichtliche und rechtsstaatlich kaum fassbare formelle und informelle Regeln
  5. Verfolgung und Bestrafung organisierter Kriminalität:L flexible Mitgestaltung einer unübersichtlichen sozialen Situation ... - Spur 5a: das rechtsstaatlich nicht einzuordnende BtMG
  6. Verfolgung und Bestrafung der Staatskriminalität ("gemessen an einem kraftvollen Rechtsstaat, der der Politik das strafrechtliche Risiko ihres Handelns vorführt, ist das beispielhafter Rechtsstaat")
  7. Recht der Schwangerschaftsunterbrechung (Mischung aus Versicherungsrecht und Sozialrecht mit weitem staatsanwaltlichen und richterlichem Ermessen)
  8. Internationales Strafrecht, europäisches Strafrecht mit neuen materiellrechtlichen, verfahrensrechtlichen und gerichtsverfassungsrechtlichen Profilen, Weltstrafrecht

Weblinks und Literatur

  • Naucke, Wolfgang (1999) Konturen eines nach-präventiven Strafrechts, in: KritV 82, H 3, 336-354.