Der Rechtsstaat bröckelt

Phänomene

Was tun?

in: Rechtsbruch und sozialer Wandel

Weblinks und Literatur

Der Verfassungsrechtler Erhard Denninger beklagt, dass sich Recht und Gewalt immer weiter voneinander entfernten. Die seit dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs (1648) geltende Friedensordnung, die sich über das Recht definierte, gelte nicht mehr. Stattdessen etabliere sich eine „Weltgewaltordnung“ einer einzelnen Macht.
Als sich im Frühjahr 2003 eine militärische Intervention der Vereinigten Staaten von Amerika samt der von ihnen geführten „Koalition der Willigen“ im Irak abzeichnete, erreichte die seit langem schwelende Diskussion über die Rolle der Vereinten Nationen und ihre notwendige Reform als Instrument der internationalen Friedens- und Völkerrechtsordnung einen neuen Höhepunkt. So klar einerseits eine tiefgreifende Reform der mit der UN-Charta von 1945 geschaffenen institutionellen Ordnung erforderlich erschien, so unzweifelhaft erschien auch die Notwendigkeit, an dem damals formulierten grundlegenden Ziel der Organisation festzuhalten, nämlich „Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“. ( Art. 1 , Nr. 1 UN-Charta). Vollkommen eingesponnen in Probleme und Kategorien des staatlichen und internationalen Rechts, traute ich deshalb meinen Augen kaum, als ich unmittelbar nach Kriegsausbruch eine Schlagzeile der Neuen Zürcher Zeitung wahrnahm: „Auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung“. Weltgewaltordnung, nicht Weltrechtsordnung, stand da. Und: „Ohne eine Hegemonialmacht kann es keinen Weltfrieden geben“. Frieden und Friedenssicherung also durch Gewalt, nicht durch Recht ?
Das neue strategische Konzept
Ich verstärkte meine Beobachtungen und konnte bald feststellen, dass das uralte Thema des Verhältnisses von Recht und Gewalt auf ganz verschiedenen Feldern eine neue Bedeutung gewonnen hat. (…) Das erste Beispiel entstammt dem Völkerrecht, das seit der Kosovo-Intervention, dem Afghanistan-Einsatz und dem Irak-Krieg eine Fülle höchst streitiger Probleme präsentiert. Schon im April 1999, also lange vor dem 11. September 2001, verkündeten die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten ein „Neues Strategisches Konzept“, dessen hervorstechendes Merkmal die Entschlossenheit zur frühzeitigen, präventiven Krisenbewältigung war. Der ursprüngliche Nato-Vertrag vom 4. April 1949 war als klassisches Verteidigungsbündnis konzipiert: Ein „bewaffneter Angriff“ auf einen oder mehrere Mitgliedstaaten löste die Bündnisverpflichtung aus, Art. 5. Die Maßnahmen wurden ausdrücklich in den Rahmen des von der UN-Charta, Art.51, garantierten „Rechtes zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ gestellt. Dem Sicherheitsrat war Mitteilung zu machen; sobald dieser die notwendigen Schritte zur Wiederherstellung des internationalen Friedens und der Sicherheit unternommen hätte, wären die Nato-Maßnahmen einzustellen. Auch in räumlicher Hinsicht gab es eine leidlich scharfe Begrenzung, (Art. 6): Der bewaffnete Angriff musste auf das Gebiet eines Mitgliedsstaates in Europa oder Nordamerika erfolgen; Inseln, Schiffe und Flugzeuge im nordatlantischen Raum „nördlich des Wendekreises des Krebses“ wurden ausdrücklich einbezogen.
In der Washingtoner Erklärung von 1999 liest sich das alles anders. Jetzt soll nicht ein „bewaffneter Angriff“ abgewartet, sondern eine möglichst frühzeitige „Krisenbewältigung“ erreicht werden. Zwar ist von Krisen-Reaktion die Rede, aber die ein Eingreifen möglicherweise auslösenden Krisen und Risiken sind außerordentlich weit umschrieben. „Ungewissheit und Instabilität im und um den euroatlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses“ fallen darunter. Die Sicherheitsinteressen der Nato werden nicht mehr nur durch militärische bewaffnete Konflikte berührt, vielmehr auch von „anderen Risiken umfassenderer Natur“ einschließlich Terrorakten, Sabotagehandlungen, organisiertem Verbrechen oder der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen (Nr. 24).
Die nachwestfälische Konzeption
Vergleicht man die alte, sozusagen noch „westfälische“, mit der neuen „nachwestfälischen“ Bündniskonzeption, so kann man Folgendes festhalten:
1)Zunächst ein Wort zur merkwürdig anmutenden (aber mittlerweile international gebräuchlichen) Terminologie: Sie knüpft an den territorialstaatlich geprägten Souveränitätsbegriff an, wie er seit dem Westfälischen Frieden 1648 für drei Jahrhunderte die internationalen Beziehungen und das Völkerrechts-Denken beherrscht hat. Höhe- und Kulminationspunkt dieser Epoche des internationalen Rechts ist die Charta der Vereinten Nationen mit ihren Grundsätzen
– der souveränen Gleichheit aller Mitglieder, wobei die Völkerrechtssubjektivität im wesentlichen nur Staaten zukommt; – des Gewaltverbotes ( mit Ausnahme eben des Rechts zur Selbstverteidigung); – sowie des Interventionsverbotes (Gebotes der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten).
Das Völkerrecht dieser Epoche ist universalistisch, heute sagt man auch: multilateralistisch, es ist konsensorientiert und kommunikativ: Es verpflichtet die Parteien einer internationalen Streitigkeit, sich „zunächst um eine Beilegung durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl“ zu bemühen, Art. 33 Abs. 1 UN-Charta. Das internationale Recht kann so und soll seine Rolle als „Gentle Civilizer of Nations“ (als freundlich-sanfter Zivilisierer der Nationen) wahrnehmen. (…)
Auch das Grundgesetz spiegelt diesen Entwicklungsstand des Völkerrechts wider, wenn es einerseits den „Angriffskrieg“ verbietet und seine Pönalisierung fordert (Art. 26 Abs. 1 GG), und andererseits den „Verteidigungsfall“ ( in Art. 115 a) als Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt definiert.
2) In der „nachwestfälischen“ Perspektive des internationalen Rechts, die spätestens seit dem Kosovokonflikt auch das europäische Bewusstsein erreicht hat, erleiden diese tragenden Grundsätze des „klassischen“ Völkerrechts folgenreiche Relativierungen. Das „Interventionsverbot“ musste einer Rechtfertigung aus Gründen „humanitärer Intervention“ weichen, einer menschenrechtlich begründeten „Nothilfeaktion“, weshalb man vielfach gar nicht von einem regulären „Krieg“, sondern nur von „Luftschlägen“ im Rahmen einer „Militäraktion“ sprechen wollte. Und das Gewaltverbot, verstanden als Beschränkung der Zulässigkeit der Verteidigung auf Abwehr von Angriffen auf das eigene Territorium, wurde gegenüber der Bekämpfung eines drohenden und schon in Ausführung begriffenen Verbrechens des Völkermords zurückgesetzt.
3)Was in dem „Neuen Strategischen Konzept“ der Nato mit der praktisch weltweit einsetzbaren Krisenreaktionsstrategie vorgezeichnet wird, nämlich die Entterritorialisierung und zugleich begrifflich-tatbestandliche Entgrenzung der Zulässigkeit der Anwendung von Waffengewalt in internationalen Konflikten, kommt in der nach den Terrorakten vom 11. September 2001 und schon im Hinblick auf den geplanten Irak-Krieg mit dem Dokument vom 17. September 2002 verkündeten „National Security Strategy“ der USA voll zur Entfaltung.
Militärische Überlegenheit
Diese neue Sicherheitsstrategie ist durch die folgenden Momente gekennzeichnet:
(1) Nur eine permanente, unanfechtbare militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten von Amerika kann den Weltfrieden dauerhaft sichern. (2) Der Einsatz bewaffneter Gewalt muss zeitlich und räumlich unbegrenzt möglich, aber auch legitimierbar sein. (3) Er sei insbesondere legitimierbar als Gewalt gegen so genannte „Schurkenstaaten“, „rouge States“, welche zusammen die „Achse des Bösen“ bilden. (Irak, Iran, Nordkorea werden hierzu gezählt.) Schon die bloße Vermutung, dass ein solcher Staat im Besitz von atomaren, biologischen oder chemischen Massenvernichtungswaffen sein könnte oder an ihrer Herstellung arbeitet, soll einen präventiven Erstschlag, einen Angriff mit Waffengewalt rechtfertigen. Dabei ist in den Verlautbarungen der so genannten Bush-Doktrin von der „preemptive self defense“ die Rede, wodurch der Eindruck erweckt wird, es handele sich um die „zuvorkommende“ Abwehr unmittelbar bevorstehender feindlicher Angriffe. Solche „preemptive measures“ sollen nach Auffassung einiger Völkerrechtler sogar mit dem in Art. 51 UN-Charta garantierten, „naturgegebenen“ Recht der Selbstverteidigung noch in Einklang stehen. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung der Waffentechnik, auch der so genannten konventionellen Waffen, so wird gesagt, sei es unrealistisch und keinem Staat zuzumuten, dass er die Zerstörungen durch einen feindlichen Erstschlag hinnehmen müsse, bevor er sich seinerseits mit Waffengewalt zur Wehr setzen dürfe. Es liegt auf der Hand, dass sich bei hochgerüsteten oder im Rüstungswettlauf gegeneinander stehenden Staaten kaum eine begriffliche Grenze darüber ausmachen lässt, wo die noch zulässige „preemptive“ Selbstverteidigung verläuft und wo der völkerrechtswidrige „bewaffnete Angriff“ beginnt. Tatsächlich folgt die offizielle amerikanische Sicherheitspolitik, worauf mehrfach, u.a. auch von Jimmy Carter aufmerksam gemacht wurde, auch gar nicht dem engeren Konzept der „Präemption“, sondern dem viel weiteren, noch weniger bestimmten und begrenzbaren der „Prävention“, wie es auch in der neuen Aufgabenbeschreibung der Nato als frühzeitige Krisenreaktion zu Ausdruck kommt.
Eigenes Recht anmaßen
Diese Notwendigkeit einer präventiven, vorbeugenden Verteidigung aus eigenem Recht, das heißt, auch ohne Auftrag des Sicherheitsrates, bildet den Kern der Begründung für den Irak-Krieg, die Präsident George W. Bush, am Vorabend des Kriegsbeginns im März 2003 verkündete. „The United States of America“, heißt es da, „has the sovereign authority to use force in assuring its own national security“. Der präventive Charakter sofortigen Eingreifens wird mit den größeren Risiken längeren Zuwartens begründet: „In one year, or five years, the power of Iraq to inflict harm on all free nations would be multiplied many times over…Responding to such enemies only after they have struck first is not self-defense, it is suicide.“ Die maßgebliche Risiko-Prognose kann sich also über ein Jahr, ja über fünf Jahre erstrecken. Für diese US-amerikanische Position kann es auf die berühmten 45 Minuten bis zum befürchteten, möglichen Schlag mit Massenvernichtungswaffen, auf die Tony Blair bei seinem Rechtfertigungsversuch abstellte, überhaupt nicht ankommen.
Das Sicherheitsbedürfnis, die Bedrohungsintensität und die Angriffswahrscheinlichkeit sind nicht die einzigen Faktoren, welche die Verteidigungsstrategie steuern und zugleich rechtfertigen sollen. Hinzu kommt ihre Einbettung in ein moralisches Programm, welches den Handelnden innere Festigkeit und nach außen Überzeugungskraft verleihen soll. Man kann sogar die These wagen, dass die moralische Selbstsicherheit um so größer sein muss, je geringer die Bedrohungsgewissheit ist und je schwächer damit die herkömmliche völkerrechtliche Rechtfertigung eines präventiven Waffeneinsatzes ausfallen muss. Oder anders gewendet: Je stärker die eigene moralische Überlegenheit über den Gegner, den Feind angesetzt wird, desto geringere Anforderungen werden an die Rechtsgründe für die Befreiung vom allgemeinen Gewaltverbot gestellt. Nach dieser Logik dürften „absolute“ Schurkenstaaten, die in ihrer bloßen Existenz schlechthin das Böse verkörpern und damit eine Bedrohung für die friedlichen Nachbarn darstellen, eigentlich jederzeit präventiv angegriffen werden. Ein entsprechend weit gefasstes Verständnis von „Prävention“, verbunden mit der militärischen Überlegenheit zu ihrer Durchsetzung und verknüpft mit der moralischen Gewissheit, dass die eigene Sache die Sache des Guten ist, lässt das rechtliche Gewaltverbot, lässt überhaupt alle rechtlichen Regeln zur Eindämmung internationaler Gewaltanwendung leer laufen.
Ein solcher moralisch abgestützter machtrealistischer Unilateralismus tendiert dazu, die ganze Welt moralisch binär zu codieren, und er entwickelt entsprechend missionarische Züge. Entweder man bekennt sich zur Sache des „Guten“ oder man gehört schon zur Seite des „Bösen“; es gibt keinen Pluralismus der Gerechtigkeitskonzeptionen, auch keinen „überlappenden Konsens“. John Rawls, der die Frage nach den Grenzen der Toleranz gegenüber nichtliberalen Gesellschaften auslotet, meint: „Natürlich können tyrannische und diktatorische Regime nicht als ordentliche Mitglieder einer vernünftigen Völkergemeinschaft anerkannt werden.“ (…)


Das Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (StraftVVG k.a.Abk.) von 2009 dient weniger der Bestrafung unrechten Verhaltens als vielmehr der Erweiterung der Ermittlungsmöglichkeiten zum Zwecke der Gefahrenabwehr. Damit handele es sich letztlich um polizeirechtliche Eingriffe, die unter dem „Deckmantel des Strafrechts“ legitimiert würden. Vereinzelt wird auch die Verfassungsmäßigkeit der Normen unter Hinweis auf die fehlende Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Gefahrenabwehrrecht angezweifelt. Eine solche Bündelung präventiver Elemente in der Strafverfolgung sei dem deutschen Strafrecht sowohl im zeitlichen Ausmaß als auch in der Anzahl der sanktionierten Handlungen bisher fremd. Viele Autoren hegen den Verdacht, dass das GVVG als bloßes Einfallstor für grundrechtsintensive Ermittlungsmaßnahmen (für § 89a StGB vor allem die strafprozessualen Maßnahmen gem. §§ 100a, 100c, 103, 111, 112a StPO und für §§ 89a, 89b, 91 StGB: §§ 100f, 100g, 100i, 110 StPO) geschaffen worden sei. Fischer vermutet hierin die wichtigste praktische Wirkung der neuen Vorschriften.
Insbesondere die Aufnahme des § 89a StGB in den Katalog der Sicherungshaft (§ 112a StPO) belege den Hauptzweck, der darin liege, vermeintliche „Gefährder“ für längere Zeit festnehmen zu können, als es der polizeiliche Unterbindungsgewahrsam (bisher) zulasse. Es wird von einer Fortsetzung der „Verpolizeilichung des Strafprozesses“ gesprochen. In ähnliche Richtung argumentiert Sieber, der darauf hinweist, dass einzelne Bereiche der neuen Tatbestände kein strafrechtliches Unrecht mehr beschreiben, sondern bereits Grundlage für freiheitsentziehende polizeirechtliche Maßnahmen oder eine vorbeugende Sicherungsverwahrung unter dem falschen Etikett des Strafrechts sind. Walter sieht in diesem von vielen identifizierten primären Zweck des Gesetzes – der Erweiterung der Ermittlungsbefugnisse – auch den Grund dafür, warum es den Verfassern letztlich gleichgültig sein könne, wenn der erforderliche subjektive Tatbestand (der Vorsatz einen Anschlag zu begehen) den Tätern letztlich nicht nachweisbar sein werde. Auch Radtke und Steinsiek sind der Ansicht, der Gesetzgeber verfolge mit den neuen Gesetzen das Ziel der „Erhöhung des Fahndungsdrucks“. Diese Zwecksetzung kollidiere in grundlegender Weise mit den straftheoretischen Wirkungsweisen des Strafrechts. Sofern das Strafrecht auch präventiven Zwecken dient, beschränke es sich insoweit aber auf die präventiven Wirkungen des ggf. zu erwartenden Urteils und dürfe nicht bloß der Schaffung neuer Ermittlungsbefugnisse dienen. Zudem könne das Strafrecht präventive Wirkung nur bei Personen entfalten, die sich durch die strafrechtlich angedrohte Rechtsfolge überhaupt abschrecken lassen. Dies sei gerade bei religiös motivierten Selbstmordattentätern nicht der Fall. Schließlich sei auch die Effektivität solcher Ermittlungen fraglich, da in vielen Fällen die den Angeklagten belastenden „Beweise“ solche ausländischer (Geheimdienst-)Behörden seien, die im deutschen Strafprozess nicht verwertbar sein werden.
Kritisiert wird eine „Vernachrichtendienstlichung“ des Strafprozesses, nach der zunehmend weitreichende informationelle Masseneingriffe in die Rechte Unbeteiligter ermöglicht werden. Gefahr, dass sich angeblich vom Gesetzgeber „klar umschriebene Tathandlungen“ des § 89a II StGB in Wirklichkeit "im Nebel grenzenloser Unbestimmtheit“ verlören. Insbesondere § 89a I StGB sei derart vage und konturenlos, dass er dem verfassungsrechtlichen Gebot der Tatbestandsbestimmtheit weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht genüge.

Das Strafrecht hat (...) seinen Charakter gefährlich gewandelt. (...) Das Pendel schlug um von bewusstem rechtsstaatlichen Zähmen des Strafens hin zu anhaltender, hektischer, das Gesamtgefüge verändernder Ausweitung, Verhärtung und struktureller Veränderung von Straf- und Strafverfahrensrecht, von Polizei-, Ausländer-, Asyl-, Vereins- und Versammlungsrecht. Kein Zweifel: Unser Rechtssystem hat heute ein anderes Gesicht.

(1) 1974 die Möglichkeit, Verteidiger auszuschließen, wenn sie im Verdacht stehen, an Straftaten von Mandanten beteiligt zu sein (2) 1976 die Strafbarkeit der Bildung, des Förderns oder Unterstützens terroristischer Vereinigungen im Paragrafen 129a (3) 1977 das Kontaktsperregesetz, wonach jeglicher Kontakt zwischen inhaftierten Terrorverdächtigen und Verteidigern vorübergehend unterbunden werden darf. (4) die Kronzeugenregelung von 1989, mit der man den harten Kern der RAF aufbrechen wollte, indem man aussagebereite Überläufer von Strafe verschonte. Die aber meldeten sich nicht. Das Gesetz lief 1999 aus. Demnächst wird es, verändert, wieder eingeführt.

• Seit den 1970er Jahren schwappt die "get tough on crime"-Welle von den USA auf Westeuropa über. Teils wird über internationale Abkommen Einfluss ausgeübt. Frühes und anhaltendes Beispiel dafür sind die Verschärfungen des Betäubungsmittelrechts. Drastisch hat man die Straftatbestände und prozessualen Eingriffsinstrumente ausgeweitet und verschärft samt einer eigenen Kronzeugenregelung, der Legitimation verdeckter Ermittler, Telefonüberwachung, Vorbeugehaft usw. Vieles davon wirkt sich auf andere Verbrechensbereiche und auch die Terrorbekämpfung aus.

• Ähnliches gilt für einen weiteren Fixpunkt kriminalpolitischer Diskussion, die "Organisierte Kriminalität". Ihretwegen wurden u. a. der "Große Lauschangriff" im Strafverfahren verankert und "Organisationsdelikte" geschaffen, mit der seitdem schon der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung bestraft werden kann. Dieser Tatbestand ist zugleich Grundlage für den genannten Paragrafen 129a. Ohnehin sind "O.K." und terroristische Vereinigung teils deckungsgleich.

• Zuletzt hat das "9/11"-Syndrom mit dem islamistischen Terror einen nicht enden wollenden Gesetzesschub ausgelöst. "Patriot-Acts" drüben und "Sicherheits-Pakete" hüben. Allein durch die beiden deutschen "Pakete" sind 100 Gesetze verändert und verschärft worden. Scheinbar Undenkbares schleicht sich in Gesetze ein. Markantestes Zeugnis ist die Legitimation des Abschusses eines mit unschuldigen Passagieren besetzten, vermutlich von Terroristen gekaperten Flugzeugs im Luftsicherheitsgesetz. Das Verfassungsgericht erst musste den Gesetzgeber zur Raison rufen. Laut nachgedacht wird sogar über die Inhaftierung von "Gefährdern" ohne jeden Tatverdacht.

Bislang im rechtsstaatlich-liberalen Strafrecht für unverzichtbar erachtete Wesens- und Strukturmerkmale werden zunehmend außer acht gelassen oder bewusst zumindest im politischen Strafrecht aufgegeben. Diese Haltung und einzelne Maßnahmen strahlen auf andere Kriminalitätsbereiche aus. An manchen Beispielen, vor allem der Schlüsselnorm des Paragrafen 129a, lässt sich dies skizzieren:

• Das Tatstrafrecht verändert sich in Richtung eines Täterstrafrechts. Nicht mehr die in einer konkreten, gesetzlich genau umschriebenen Tat manifestierte Beeinträchtigung eines klar konturierten Schutzguts wird unter Strafe gestellt. Kriminalisiert werden vielmehr ein angeblich für gefährliche Menschen symptomatisches Verhalten, bloße Gesinnung oder Lebenshaltung im Vorfeld einer Tat. Die Zugehörigkeit zu einer inkriminierten Gruppe, das Unterstützen und Werben sollen genügen. So überrascht es nicht, dass die nach Paragraf 129a geführten Verfahren fast nur Unterstützertaten aufgreifen. Sie werden zumeist ohne Urteil eingestellt.

• Solche Verwässerung des Tatbegriffs wird von der Rechtsprechung verstärkt: Bei der terroristischen Vereinigung reicht sogenannte Sympathiewerbung, selbst wenn sie erfolglos bleibt. Sinn ist es zum einen, gefährliche Personen lückenlos zu erfassen. Zum anderen gilt es, kriminalistisch leichter eingreifen und Beweis führen zu können, wenn keine Tat vorliegt, also auf einen eigentlichen Tat-Verdacht verzichten zu können. Vorläufer solchen Denkens waren etwa die Bestrafung bloßen Besitzes verbotener Drogen oder der "vermummten" Teilnahme an Demonstrationen; dort müssen Schädigungen anderer oder Gewaltaktionen nicht mehr nachgewiesen werden.

• Mit der Vorfeldbestrafung wird zugleich ein Bereich erfasst, der bislang zu strafloser Tatvorbereitung gehörte. Vorbereitung wird aufgewertet zu "vollendeter Tat". Jeder Beteiligte wird zum Täter.

• Solche Strafbarkeit vor einer eigentlichen Tat dehnt außerdem die Strafverfolgung weit hinein in die vorgelagerte polizeiliche Prävention von Straftaten. An die Stelle von Vorbeugung tritt vorweggenommene Repression gegen mutmaßliche "Gefährder". Überdeutlich wird dies an jüngsten Vorschlägen, Ausbildung in ausländischen Trainingslagern als Straftat zu fassen.

• Offenkundiger Strukturfehler des Paragrafen 129a ist, dass sich im Gewande eines Straftatbestandes Strafprozessrecht verbirgt. Die in dem neuen Tatbestand katalogartig aufgeführten zahlreichen Verbrechen rechtfertigten für sich eigentlich schon konkrete Strafverfahren. Sie sollen über den Katalog jedoch eine Reihe strafprozessualer außergewöhnlicher Eingriffsbefugnisse eröffnen: Rasterfahndung, verdeckte Ermittler, Lauschangriff mit elektronischen Wanzen in Wohnungen Verdächtiger, erleichterte Verhaftung usw.

• Dies wiederum verleitet überdies zum Draufsatteln bei Gelegenheit neuer Vorfälle. So werden dem Terrorismus durch die Aufnahme von gemeingefährlichen Straftaten in den Katalog des § 129a Milieus militanter Umweltschützer gleichgeordnet. Gleiches gilt für entsprechende Kataloge in der Strafprozessordnung.

• Mit der Ausweitung des Paragrafen 129a auf terroristische Vereinigungen außerhalb Deutschlands 2002 durch den Paragrafen 192b erhalten deutsche Behörden die Definitions- und Verfolgungsmacht gegenüber jedweder politischer oder religiöser Organisation im Ausland, mag sie sich dort als Befreiungsbewegung geben oder tatsächlich terroristisch agieren. Wiewohl durch die Europäische Union gefordert, geht die Vorschrift doch weit darüber hinaus und erweckt Bedenken.

• Mit dem Terrorismusstrafrecht einher geht eine Verlagerung der Machtbalance zwischen Strafverfolgung und Verteidigung. Das Kontaktsperregesetz und der mögliche Verteidigerausschluss sind "geprägt von einem tiefen Misstrauen gegen den anwaltlichen Berufsstand", sagt der Prozesswissenschaftler Kühne.

Auch eine kritische Analyse kann nicht die Notwendigkeit verkennen, liberales Strafrecht und neuere Sicherheitslage miteinander in Einklang zu bringen. Es ist ja wahr: Anwälte haben Waffen in Haftanstalten geschmuggelt; die RAF gibt es nicht mehr, aber neue, ungleich größere, global agierende terroristische Gruppierungen; Präventivmaßnahmen unserer Sicherheitsbehörden haben vor Kurzem eine mutmaßliche Katastrophe durch geplante Sprengstoffanschläge vereitelt.

(...) Wissenschaft und Praxis sind nicht dem törichten Vorschlag des Strafrechtlers Günther Jakobs gefolgt, solchen Verdächtigen den üblichen Rechtsschutz mit einem "Feindstrafrecht" zu entziehen und Guantánamo-Praktiken zu legitimieren. Sein Freund-Feind-Denken erinnert an das Carl Schmitts, einem geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus. Wer "Feind" des Rechtsstaats ist, steht für Jakobs offenbar schon am Anfang eines Strafverfahrens fest, so dass er sich nicht der rechtsstaatlichen Mittel bedienen können soll, den Verdacht zu entkräften.

Dennoch sind Mahnungen am Platze, mit unseren rechtskulturellen Errungenschaften und Prinzipien sorgsam umzugehen. (...) Nicht zuletzt müssen sich die Kriminalwissenschaften dem politischen Strafrecht in Forschung, Lehre und Prüfungswesen zuwenden. Diese Gebiete werden sträflich vernachlässigt. Aber gerade hier verändert sich unser Strafrecht nachhaltig.

Siehe auch