Kriminalpolitik außerhalb des Rechtsstaats

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Eines der grundlegenden Prinzipien jeder Demokratie ist die Herrschaft des Gesetzes. Die meisten Menschen auf der Welt können davon allerdings nur träumen. Die Liste der Länder, in denen Gewalt, Korruption und Willkür herrschen, ist immer noch weitaus länger als diejenige der Rechtsstaaten. Die Menschen, die - von Angola und Aserbaidschan über Saudi-Arabien, Singapur und Usbekistan bis Zimbabwe - darunter leiden, haben mit der Idee des Rechtsstaats immerhin ein fernes, aber Hoffnung vermittelndes Ideal.

Gut also, dass es eine Reihe von Ländern gibt, in denen man jedenfalls dem Grundsatz nach von rechtsstaatlichen Verhältnissen sprechen kann - die meisten davon wohl in Europa und Nordamerika, bzw. dem sog. westlichen Kulturkreis. Wer in diesen privilegierten Zonen lebt, gönnt oft auch anderen Gesellschaften denselben Wohlstand, dieselbe Sicherheit und dasselbe Maß persönlicher Freiheit - und hofft auf den Zivilisationsprozess, in dem der Westen die Rolle der positiven Kraft in der Geschichte übernimmt. Wirtschaftliche Entwicklung und institutionelle Stabilität sollten Hand in Hand gehen mit moderner Bildung und demokratischen Werten, um so allmählich allen Menschen die Vorteile einer rule of law, not of men zuteil werden zu lassen.

Im Jahre 1989, als der Kalte Krieg in einem Moment des geteilten Glücks in Frieden zu Ende ging, schien die Erfüllung eines Menschheitstraums zum Greifen nah. Von nun an würden sich freiheitliche Demokratie und rechtsstaatlicher Parteienpluralismus über kurz oder lang über die ganze Welt verbreiten.

Ein Dutzend Jahre vergingen, bis die Führungsmacht der freien Welt von äußeren Störenfrieden irritiert und von einer schwer zu definierenden inneren Unruhe um die Rolle der USA in der Welt erfasst wurde, von einer Unruhe, die sich im Zerfall der amerikanischen Gesellschaft in zwei sich unerbittlich befehdende Lager manifestierte. Am Ende des Konflikts zwischen Demokraten und Republikanern, Kooperations- und Dominanzideologen, Tauben und Falken stand die Entscheidung zu einem einzigartigen War on Terror, der weder geografisch noch zeitlich auf irgendeine Begrenzung hin ausgelegt war.

Damit drehte sich der Wind der Geschichte von einem Mehr zu einem Weniger an Rechtsstaatlichkeit. Es waren die USA selbst, in denen das Vertrauen des Staates in seine Bürger und das Vertrauen der Bürger in ihren Staat nicht mehr zu-, sondern abnahmen. Und es war die ganze westliche Welt, in der man einen zunehmenden Verlust an Sicherheit und an Freiheit mit bloßem Auge wahrnehmen konnte. Und auch wenn heute vieles immer noch genau so zu funktionieren scheint wie es immer funktionierte. So ungebrochen wie früher spricht heute kaum noch jemand von der Herrschaft des Gesetzes. Der Rechtsstaat bröckelt, der Putz fällt von der Fassade, es knirscht bedenklich im Gebälk.

Ganz unbestreitbar hat sich etwas neben dem Rechtsstaat etabliert. Eine Sphäre der puren Macht. In der Sphäre des Rechts hat jeder Eingriff in die Rechte der Bürger eine öffentlich bekannt gemachte Rechtsgrundlage und jeder Bürger kann gegen jeden Eingriff in seine Rechts vor Gericht ziehen. In der Sphäre der Macht ist das nicht der Fall.

In der Welt von heute existieren zum Beispiel regelrechte Tötungslisten, die von Regierungen ohne gesetzliche Grundlage und ohne richterliche Kontrollmöglichkeit aufgestellt und abgearbeitet werden. Die Kill List wird dienstags vom US-Präsidenten in kleinster Runde fertiggestellt - und führen dann in einem anderen Land zum nächstmöglichen Zeitpunkt meist ohne Wissen der Zielpersonen (und oft auch ohne Zustimmung der Regierungen der betreffenden Staaten) zum Einsatz von Killer-Drohnen. Es werden nicht einmal die Legislative und die Judikative der USA selbst beteiligt.

Die Todeslisten sind nur die Spitze des Eisbergs. Darunter befinden sich die No-Fly- und die Überwachungslisten aller Art. Die Dokumentarfilmerin und Oscar-Preisträgerin Laura Poitras wurde jahrelang schikaniert. Jetzt - 2015 - will sie wissen, was los ist. Wenn sie an die US-Grenze kommt, wird sie verhört, ihre Unterlagen werden fotokopiert, man greift auf ihre Kamera und ihr Filmmaterial zu; sie hat inzwischen an verschiedenen Orten der Welt Festplatten deponiert, sie kann nicht mehr frei reisen und ungehindert ihrem Beruf nachgehen. Allem Anschein nach steht ihr Name auf einer Beobachtungsliste. Diese Liste ist geheim und ohne rechtliche Grundlage zustandegekommen. Niemand erklärt ihr den Grund für die seit Jahren andauernden und ihren Beruf und ihre Nerven bedrohenden Schikanen. Gegen diese kafkaeske Situation zieht sie jetzt vor Gericht.

Sie ist weiß, prominent und gut vernetzt. Sie klagt auch im Interesse all derer, die nicht weiß, nicht prominent und nicht gut vernetzt sind. Sie selbst verwies auf den Fall Khaled el-Masri: er, mit einem anderen Namen, einer anderen Staatsangehörigkeit, einem anderen Status, war ein unschuldiger deutscher Staatsbürger, der von der CIA falsch identifiziert wurde. Er wurde entführt und gefoltert. Wie zahllose weitere fälschlich als Terroristen identifizierte Muslime in der ganzen Welt. Für ihn gab und gibt es keine Gesetz, keinen Rechtsweg. Das us-amerikanische State Secret Privilege spricht ihm das Recht ab, die amerikanische Regierung zu verklagen.

Gegen rechtswidrige Akte von Regierung und Verwaltung müssen die betroffenen Personen jedoch klagen können. In den Sphären, in denen das nicht erlaubt ist, herrscht nicht mehr das Gesetz, sondern die drückende Schwüle der Vorhölle.

Es ist auch nicht mehr die Macht des Rechts, sondern das Recht der Macht, das in Guantánamo herrscht oder bei den immer häufiger werdenden gezielten Tötungen mit Hilfe von Drohnen, bei der Erstellung und Verwendung geheimer Beobachtungslisten, bei den Tötungslisten der Terroristenbekämpfer und bei den aus strategischen Gründen vom Zaun gebrochenen Kriegen.

Diese Politik bricht internationales Recht. Sie verletzt Menschenrechte. Sie untergräbt auf fundamentale Weise die Werte der Gesellschaft und damit die Gesellschaft selbst, die sie zu schützen vorgibt.

Das sind ungewollte Folgen der Terrorismus-Bekämpfung: der Instabilität und der von westlichen Militäraktionen hervorgerufenen Gewalt. Viel ist heute vom Islamischen Staat die Rede - wenig aber davon, dass seine Wurzeln in der gescheiterten Okkupation des Iraks zu suchen sind. Die Flüchtlingswellen aus Libyen, Somalia und Syrien sind Folge der mutwilligen Zerstörung dieser Länder. Wie Laura Poitras erklärt:

"Die Zerstörung rechtsstaatlicher Prinzipien und juristischer Rahmenbedingungen steht in keinem Verhältnis zu der Gefahr, der wir uns gegenübersehen. Es ist das Gegenteil dessen, was wir tun sollten. Die gegenwärtige amerikanische Politik schafft mehr Terror und mehr Chaos in der Welt, nicht weniger. Demokratien sollten ein Beispiel geben und den Buchstaben des Gesetzes folgen. Die willkürliche und tiefgreifende Bespitzelung von Regierungschefs und führenden Politikern befreundeter und verbündeter Staaten unterminiert die Fähigkeit der Demokratien, den vielen Gefahren zu begegnen, denen die Freiheit in der heutigen Welt ausgesetzt ist. Eine effektive, koordinierte Antwort erfordert ein hohes Maß an Vertrauen – genau jenen Wert, den die Überwachungsprogramme zerstören. Die Vereinigten Staaten benutzen die Angst, um einen Sicherheitsapparat zu rechtfertigen, der nicht mehr Teil des demokratischen Prozesses oder einer demokratischen Kontrolle ist. Diese Art von im Geheimen operierender Macht ist gefährlich. (...) Es ist eine nationale Schande, dass die Vereinigten Staaten nach dem 11.September Entführungen und die Folterprogramme ins Werk gesetzt haben. Es ist eine nationale Schande, dass Guantánamo immer noch nicht geschlossen wurde und dass die Menschen, die dort inhaftiert sind, seit dreizehn Jahren auf ihre Anklage warten. Die Vereinigten Staaten sind auf der falschen Seite der Geschichte gelandet (...)."

Es hieße die Augen vor der Realität zu verschließen, weiter vom Rechtsstaat zu sprechen wie noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Die westlichen Staaten haben sich längst in unterschiedlichem Maße in gespaltene Staaten verwandelt, gespalten in eine Normal- und eine Spezial-Sphäre, in einen Bereich, in dem der Staat sich an seine eigenen Normen hält, und einen anderen, in dem die Exekutive ganz selbstherrlich je nach politischem Vorteilskalkül vorgeht und sich ungern hineinreden lässt: vom Gesetzgeber nicht und von der Dritten Gewalt erst recht nicht.

Dass wir heute immer mehr wissen über die Existenz dieser beiden Sphären, dass wir die Konturen dieses neuen Doppelstaats erkennen können - hie der Normenstaat, in dem alles so zu laufen scheint wie immer, da aber der Maßnahmenstaat (vgl. Ernst Fraenkel) - das ist nicht zuletzt das Verdienst von Whistleblowern wie Edward Snowden und Chelsea Manning. Sie haben ihr Leben riskiert, um illegales Regierungshandeln und Kriegsverbrechen ans Licht zu bringen.

Welch arme Welt, die Helden nötig hat. Besser wäre, wir Bürger würden unsere Amtsinhaber zur Verantwortung ziehen. Wir Bürger in den freien Sphären unserer Gesellschaften haben das Recht, die Gesetzgebung an Verfassung und die Exekutive und die Judikative an Gesetz und Recht gebunden zu wissen.

Der Weg vom Rechts- zum Doppelstaat ist nicht unumkehrbar. Es wäre gut, wenn der Westen selbst wieder auf den richtigen Weg zurückkäme. Wenn wir, seine Bürger, ihn zur Räson brächten. Das ist immer noch denkbar. Noch ist die Sphäre des Normenstaates groß genug für die legale Organisation von Opposition und Aufklärung. Aber eine Garantie gibt es nicht. Vielleicht lernen die westlichen Staaten erst durch äußeren Zwang. Oder nie. Das wäre das Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen. Oder eine Pause. So wie nach dem Untergang des Römischen Reiches.


Weblinks und Literatur

Die zweifelhaften Praktiken der US-Regierung und ihrer Streitkräfte und Geheimdienste schwächen insgesamt die Geltung des Völkerrechts und der Menschenrechte. Die Verharm-losung der Folter durch deren Umdefinition, die Anwendung von Folter- und Misshand-lungspraktiken durch US-Personal und befreundete Folterregime, das Verschwindenlassen von Verdächtigen, die Missachtung der Genfer Konvention und der UNO-Charta und die offensiven Erklärungen, dass man an diese nicht gebunden sei, stellen aus sich selbst heraus schwere zivilisatorische Rückschläge dar, sie schwächen und untergraben nicht allein das humanitäre Kriegsvölkerrecht, sondern auch die Menschenrechte. Darüber hinaus stellen solche Praktiken und Erklärungen aber auch Präzedenzfälle mit bedauerlichem Vorbildcharakter für andere Regierungen dar. Wenn ausgerechnet die dominierende Weltmacht eine systematische Politik der Relativierung völkerrechtlicher Schutzrechte betreibt und sie nur noch selektiv nach den eigenen Bedürfnissen anwendet, stellt dies eine Versuchung anderer Staaten dar, diesem Vorbild zu folgen. Die russischen Menschenrechtsverletzungen etwa in Tschetschenien (etwa das verbreitete Verschwindenlassen missliebiger Personen), die nach dem 11. September 2001 verschärfte Repression Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten und die Zerstörung zahlreicher Wohnhäuser (allein 10 Prozent der Einwohner der Stadt Rafa haben ihre Wohnhäuser verloren), illegale Verhaftungen, Folter und Misshandlungen von Gefangenen im Irak durch die Kräfte der provisorischen Regierung, Massenverhaftungen und Folter in Ägypten, pakistanische und afghanische Menschenrechtsverletzungen (dort insbesondere durch lokale Machthaber), Folter und andere Menschenrechtsverletzungen in Indonesien, illegale Verhaftungen und Gewalt gegen Häftlinge in Malaysia, die verschärfte Unterdrückung in Ländern wie Usbekistan und Kirgisien, aber auch eine Einschränkung der Freiheits- und Menschenrechte in Ländern wie Indien sind Beispiele dafür, dass sich die Menschenrechtslage in den letzten Jahren in vielen Ländern verschlechtert hat. Und nur zu oft wird die bisherige Repression nun mit dem Kampf gegen den Terrorismus gerechtfertigt, häufig wurden neue Sicherheitsgesetze verabschiedet, die repressiven Charakter tragen und mit terroristischen Bedrohungen gerechtfertigt wurden. Die Selektivität US-amerikanischer Menschenrechtspolitik hat solche Bestrebungen oft befördert und ermutigt, und die US-Regierung hat sich nur in solchen Fällen gegen die verschärfte Unterdrückung im Namen der Sicherheit gewand, wo ihr dies politisch genehm erschien. Durch ihre eigenen Missbräuche ist ihre Glaubwürdigkeit auch deutlich gesunken, wenn es um das Drängen auf die Einhaltung der Menschenrechte geht. Wie will man denn Ägypten oder Syrien von einem Verzicht auf Folterpraktiken überzeugen, wenn man zugleich Gefangene dorthin exportiert, um sie unter Folter verhören zu lassen?
The matters I have raised tonight lead to a fundamental issue. Ultimately, are we any better than those who seek to harm us, than those we oppose? The United States Administration complained bitterly this week about Iraqi treatment of US prisoners but it has shown absolutely no commitment whatsoever to international law in its own actions in relation to Taliban, Al Qaida and Iraqi prisoners. The War on Terrorism has killed many more people than the terrorist attacks of 11 September 2001. The War against Iraq will kill many times that number again. Our side, “the goodies”, might not be appalling dictators of the ilk of Saddam Hussein, our leaders are not his immoral equivalent, but fundamentally are we any better?
Human security is a major pre-occupation in today’s world. That is understandable. The horrific attacks of 11 September 2001 on the United States and their aftermath raised levels of anxiety and insecurity worldwide. This was reinforced for Australians and others in this region by the Bali bombing on 12 October 2002. Ensuring security for every human being around the world is one of the major challenges facing us. In addressing these concerns we need to enhance the search for common ground. Human rights provides that common ground. We need to build commitment to observing human rights law, not to violating it. We need to build commitment to addressing causes, not only symptoms and consequences.
One has to ask whether the judicial process has not been characterized by undue constitutional avoidance, as well as excessive judicial deference to the executive and congressional decision-making role, in the refusal to address the constitutional question at an earlier stage. Unfortunately, the political organs did not repay the democratic compliment and react to judicial suggestions about the need to bring policy into line with law.
Whether this was a miscalculation as to how the political branches would respond, or a strict approach to the judicial doctrine of constitutional avoidance, is open to question. But the somewhat anomalous result is a decision six years down the line that the right to habeas corpus applies, theoretically guaranteeing access to a court within hours or days of arrest and detention. One must question the extent to which this constitutes a meaningful a judicial response for this sort of emergency remedy.
The same day that the US Supreme Court handed down its judgment in Boumediene it also handed down Munaf v.Geren in which it acknowledged that persons detained in Iraq also have the right to habeas corpus. It found that in the Iraqi context it was Iraqi courts that should exercise jurisdiction, and it therefore denied the jurisdiction of US courts on that basis. But the case is significant in reinforcing the principle that the right of habeas corpus applies to persons detained by US personnel beyond US jurisdiction. This may become particularly important.
While President Bush’s immediate response to the judgment was equivocal, US President Barak Obama indicated shortly upon taking office that the Guantanamo facility would be closed. (Obama plans executive order to close Guantanamo Bay ’ CNN on-line, 22 January 2009, http://edition.cnn.com/2009/ POLITICS/01/21/guantanamo.hearings/index.html.
This was graphically demonstrated by the tone and content of some of the dissents, notably Scalia J’s assertion of the ‘ disastrous conse-quences ’ of the majority judgment which he claimed ‘ will almost certainly cause more Americans to be killed ’.