Kriminologie der Menschenwürde

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Eine Kriminologie der Menschenwürde gibt es (noch) nicht. Dass die Kriminologie es bislang verabsäumt hat, sich systematisch um die Entstehungsbedingungen, Formen, Funktionen, Folgen und damit auch um Präventionsmöglichkeiten von (strafbaren) Verletzungen der Menschenwürde zu bemühen, hat mit dem Autoritäts-Bias zu tun, der die Disziplin von Anfang an begleitete und begrenzte. In dem Maße, in dem sich die Kriminologie neben der inneren Sicherheit auch der menschlichen Sicherheit annähme, würde sie sich künftig der Frage zuwenden, wie eine Kriminologie der Menschenwürde denn aussehen und was sie zur Verhinderung von deren Verletzung beitragen könnte. Immerhin verfügt die Kriminologie als empirische Wissenschaft der Erklärung von Normbrüchen über die konzeptionellen Instrumente, um die Konturen der Menschenwürde von ihren Verletzungen her zu bestimmen. Beschreibungen und Analysen gewaltsamer Brechung der leiblichen Souveränität mittels Vergewaltigung oder Folter könnten ex negativo das Wesen der Würde als eines achtenswerten Habitus leiblicher Souveränität veranschaulichen und mit der Erforschung des Zustandekommens von Würdeverletzungen auch einen Beitrag zu deren Verhinderung leisten.


Konturen der Würde

Der Begriff der Menschenwürde scheint sich wie jedes essentially contested concept (Gallie 1956) einer Festlegung zu entziehen. Wie Franz Josef Wetz (2011) überzeugend dargestellt hat, wird darunter einerseits ein Wesensmerkmal des Menschen als Mensch verstanden - danach ist sie angeboren und unverlierbar und jeder Mensch besitzt sie allein schon aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Spezies des homo sapiens - andererseits aber auch ein Gestaltungsauftrag. Im letztgenannten Sinne ist die Würde dann gewissermaßen ein Distinktionsmerkmal, das den, der sie besitzt, von denen abhebt, die sie nicht oder nicht in demselben Maße ihr eigen nennen. Versteht man die Würde in diesem Sinne als Gestaltungsauftrag, dann wäre in einem weiteren Schritt nach dem oder den Adressaten dieses Auftrags zu fragen. Hier kämen - alternativ oder kumulativ - in Betracht:

  1. jedes einzelne menschliche Individuum: jeder Mensch ist aufgefordert, durch Übung zur Selbstbeherrschung Würde zu erlangen und zu bewahren und sie nicht durch "unwürdiges" Verhalten aufs Spiel zu setzen
  2. die gesellschaftlichen Einheiten (Familie, Vereine, weltanschauliche Gemeinschaften, ökonomische Interessensvertretungen, soziale Bewegungen usw.): sie sind aufgefordert, ihre Kommunikationen und Interaktionen in eine Kultur des Respekts vor allen Menschen einzubetten
  3. der Sozialstaat: er ist aufgefordert, die Bedingungen für ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen
  4. der Rechtsstaat: er ist aufgefordert, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, indem er (a) sich selbst jedes Eingriffs in die menschliche Würde enthält und (b) Verletzungen der Menschenwürde durch Dritte präventiv und reaktiv entgegentritt.

Es ist offensichtlich, dass zwischen diesen beiden Grund-Verständnissen menschlicher Würde kein widerspruchsfreies Verhältnis herzustellen ist. Doch die Antinomien sind damit noch nicht erschöpft. Man denke nur an die Abgründe, die sich zwischen den divergierenden Ansichten über den staats- und verfassungstheoretischen Stellenwert der Menschenwürde auftun.

Während die einen in ihr das Fundament jeder freiheitlichen Ordnung sehen, verweisen die anderen darauf, dass sich die Grund- und Menschenrechte auch ganz ohne Bezug auf das Konzept der menschlichen Würde, in dem sie nicht mehr als eine Leerformel sehen, begründen ließen. Auf der einen Seite finden wir etwa Wolfgang Deppert (2011: 146), für den die Menschenwürde "der fundamentale Wert überhaupt" und nicht weniger als die "Bedingung der Möglichkeit für die Ableitung von Grund- oder Menschenrechten" darstellt, mithin also "das grundlegendste Recht, das es überhaupt geben kann." Auf der anderen Seite gibt es die Ahnenreihe der Skeptiker (von Schopenhauer bis Nietzsche und Luhmann), als deren aktueller Vertreter wohl Norbert Hoerster (2011: 306) zu gelten hat, der in dem Begriff nicht mehr erblickt als entweder einen ideologischen (Selbst-) Betrug oder aber allenfalls "ein normativ besetztes Schlagwort ohne jeden deskriptiven Gehalt".

Der Kriminologie kommt es sicherlich nicht zu, die seit langem diskutierten philosophischen Streitfragen zu lösen. Andererseits benötigt eine Kriminologie der Menschenwürde aber einen heuristischen Zugang zum Begriff der Würde, will sie den Gegenstand ihres Interesses nicht im Nebel völliger Beliebigkeit verlieren. Gesucht ist also ein Ansatz, der ohne religiöse oder weltanschauliche Vorannahmen auskommt und zugleich einen überzeugenden Bezug zum Alltagsverständnis des Begriffs wie auch zu rechtlichen Dimensionen und Gewährleistungen aufweist.

Das heute dominierende Verständnis von Art. 1 Abs. 1 GG füllt den Begriff der Menschenwürde von der Verletzung her mit Inhalt. Bild: Auschwitz 1944, Der Vernichtung der nackten Existenz geht der Angriff auf die Menschenwürde voraus

In dieser Situation kann es helfen, auf ambitionierte Definitionsversuche zunächst einmal ganz zu verzichten und stattdessen mit der Beschreibung "gefühlter Würdeverletzungen" (Wolfgang Deppert) zu beginnen. Nichts anderes tut im Grunde auch die heute dominierende Tendenz in der verfassungsrechtlichen Diskussion, die sich bemüht, den Begriff der Menschenwürde Schritt für Schritt "von der Verletzung her" mit Inhalt zu füllen (Herdegen 2011: 258). Ungeachtet ihrer Grenzen birgt diese Methode immerhin die Möglichkeit der Konstruktion einer weltanschaulich neutralen Grundlage für die angestrebte Kriminologie der Menschenwürde. Mit den Worten von Franz Josef Wetz (2011: 20):

Als Anspruch meldet sich die Idee überall dort lautstark zu Wort, wo sie verletzt wird. Jedenfalls behält der Ausdruck Würde so lange eine Bedeutung, wie wir uns noch etwas unter menschlicher Erniedrigung und Demütigung vorstellen können.

Verletzungen der Menschenwürde

Im kollektiven Gedächtnis ist die Verletzung der Menschenwürde vor allem mit dem Nationalsozialismus assoziiert: wie wehrlose Menschen durch die Straßen gejagt und verprügelt, zum Säubern der Bürgersteige mit Zahnbürsten oder zum Tragen demütigender Schilder gezwungen wurden ("Ich bin am Ort das größte Schwein und lass mich nur mit Juden ein") - und wie noch der Tötungsprozess selbst voller Demütigungen war.

Es waren keine abstrakten Definitionen der Menschenwürde, die den Vätern und Müttern des Grundgesetzes vor Augen standen, als sie sich entschlossen, die Verpflichtung aller staatlicher Gewalt zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde zum Leitmotiv der neuen Republik zu erklären und diese Staatsaufgabe an der prominentesten denkbaren Stelle - in Artikel 1 des Grundgesetzes zu verankern, sondern solcherart Erinnerungsbilder an die gerade überstandene Diktatur.

Verletzungen der menschlichen Würde können besonders durch die Einbindung der Täter in hierarchische Organisationen (und insbesondere in solche "mit Gewaltlizenz", also Polizei, Strafvollzug, Militär und Geheimdienste) unvorstellbare Dimensionen erreichen. Neben - und vor - den Verletzungen der Menschenwürde im Kontext von Makrokriminalität (Jäger 1989) verlangt aber auch die soziale Mikro-Ebene interpersoneller Beziehungen nach eingehender Analyse, zumal die einzelnen Akteure in der konkreten Situation auch einen Bestandteil der Großverbrechen darstellen.

Archetypische Formen der Würdeverletzung innerhalb kleiner Gruppen werden gewissermaßen intuitiv immer wieder neu erfunden. Dabei spielt die Brechung der leiblichen Souveränität, der Angriff auf die Identitätsausrüstung des Opfers und seine verbale und physische Erniedrigung im Rahmen einer ad hoc erschaffenen und zeitlich gestreckten Inszenierung die zentrale Rolle.

Beispiele für die jeweilige Neu-Erfindung ganz ähnlicher Rituale in diesem Sinne sind die Mordfälle James Byrd Jr. im amerikanischen Bundesstaat Texas aus dem Jahre 1998 und Marinus Schöberl im deutschen Bundesland Brandenburg aus dem Jahre 2002.

In beiden Fällen ging der Tötung eine stundenlange Phase der Demütigung des isolierten Opfers durch drei Täter voraus. In beiden Fällen war es der älteste der drei Täter, der den Ton angab. Und in beiden Fälle war dieser Hauptakteur in früherer Zeit Opfer tiefer Demütigung gewesen - einer Demütigung, die er vielleicht durch die nun begangene Grausamkeit spiegelverkehrt noch einmal erlebte: eben nicht als Opfer, sondern als Täter (im Fall Byrd: Lawrence Russell Brewer, im Fall Schöberl: Marco Schönfeld).

In den Beispielsfällen lassen sich sechs Phasen der Tat unterscheiden:

  1. Prodromalphase: es braut sich etwas zusammen; Fokussierung auf das zukünftige Opfer; Provokationen erleichtern die Zuweisung der Rolle; meist gehört dazu eine räumliche Absonderung: das künftige Opfer wird durch Täuschung oder Gewalt isoliert und von Hilfe abgeschnitten (Vorspiegelung einer Hilfeleistung; gemeinsamer Unternehmung; Überwältigung); gewöhnlich ist eine Übermacht von Tätern gegeben (in unseren Fällen: drei zu eins); die Täter initiieren einen Eskalationsprozess, aus dem das künftige Opfer nicht entkommen kann; es schälen sich die Rollen von Anführer und Gefolgsleuten unter den Tätern und die Rolle des Opfers bei der isolierten Person heraus. Ansätze zu einem Eskalationsprozess durch verbale Definitionen: "das wirst Du noch bereuen" ...
  2. Beleidigung: in dieser Prodromalphase kommt es zur Fokussierung auf die verbale Exklusion und Degradierung (verbale Zuweisung eines in den Augen der Täter verächtlichen Status wie "Nigger" oder "Jude"; häufig auch nichthumane Identifizierung: "Schwein"); in diesem Prozess wird zugleich die Neutralisierung von Hemmungen betrieben; es kommt zur gedanklichen Rechtfertigung der Tat; man konstruiert eine Legitimation (Projektion der Provokation/Aggression auf das Opfer)
  3. Demütigung: Erzwingung des Verlustes der aufrechten Haltung (Bücken oder Liegen, evtl. in Embryonalhaltung zur Abwehr von Schlägen); die symbolische Umkehr des aufrechten Gangs: das wehrlose Erdulden von Schlägen und Misshandlungen; Opfer wird durch Körperausscheidungen der Täter erniedrigt (Urinieren auf das Opfer); das Opfer wird u.U. provoziert; seine Reaktion wird als Aggression gewertet und dient als Rechtfertigung für physische Angriffe.
  4. Verletzung: Überschreiten der Schwelle zur physischen Misshandlung; ein zeitlich gestreckter Abschnitt etabliert einen selbstzweckhaften Rhythmus von verbalen und physischen Verletzungen, Atempausen und erneuten Attacken; das völlig wehrlose Opfer wird immer wieder demonstrativ entwürdigt, u.U. durch Entfernen der Kleidung, Provokation von Ekel, gewaltsames Durchbrechen der Schamschranken.das bereits liegende Opfer wird getreten oder geschlagen; in völliger Hilflosigkeit wird das Opfer über eine längere Zeit gequält, verletzt, bis es wimmert und fleht und damit in seine nackte Kreatürlichkeit zurückgedrängt ist; es wird körperlich misshandelt (Schläge, Tritte); intermittierende verbale und physische Misshandlungen bilden eine emotional aufwühlende und von Hoffnungsschimmern durchblitzte, insgesamt aber auf den gewaltsamen Tod vorbereitende Atmosphäre: die Täter arbeiten sich gleichsam über die Hemmschwelle zur Tötung; symbolische Entmenschlichung: Täter behandeln das Opfer demonstrativ wie einen Gegenstand ohne Wert, über den man nach Belieben verfügen kann
  5. Ritual der Tötung: in beiden Fällen folgte als fünfter Akt (auch ihrerseits mit drastischer Abwertungs-Symbolik aufgeladene) Tötungsprozedur: was diesen Teil der Tat anging, so musst sich Marinus Schöberl an einen Schweinetrog knien und in dessen Rand beißen, so dass man ihm durch einen Sprung auf das Genick (und die anschließende Versenkung in einer Jauchegrube) das Leben nehmen und die Leiche verschwinden lassen konnte; bei James Byrd Jr. wurden seine Fußgelenke mit Eisenketten an den Stoßdämpfer eines Pritschenwagens gefesselt und drei Meilen weit über die Straße geschleift; nachdem er zunächst versucht hatte, seinen Kopf vor Kontakt mit der Fahrbahn zu bewahren, wurden ihm Kopf, Schulterteile und rechter Arm beim Schleudern des Körpers an eine Betonkante vom Rumpf getrennt
  6. Entsorgung der Leiche: die sterblichen Überreste der Opfer werden entsorgt (Schöberl: Jauchegrube; Byrd Jr.: mit den Ketten abgelegt vor Kirche und Friedhof der afro-amerikanischen Gemeinde).

Angriffe auf die Menschenwürde zielen auf die Degradierung des Opfers: ihm sollen sein niederer sozialer Status und sein Unwert vorgeführt und gleichsam eingebrannt werden. Deshalb greifen sie folgende Ziele an:

  1. die äußeren Zeichen personaler Identität (= Identitätsausrüstung nach Erving Goffman; das sind häufig Kopfbedeckungen und Frisuren, Sehhilfen und Gehhilfen, Schmuck und Handtaschen mit persönlichen Gegenständen und ähnliches)
  2. die Schamschranken, die dem Schutz der Person vor Entblößung, Demütigung und Erniedrigung dienen; hier geht es um die Usurpation der leiblichen Souveränität des Opfers durch die Täter
  3. den Selbstbehauptungswillen des Opfers: zeitlich gestreckte Würdeverletzungen gehen tief, demonstrieren die Radikalität und die intendierte Unumkehrbarkeit des oktroyierten Statusverlustes: deshalb prasseln die Schläge auf das bereits wehrlos wimmernde Opfer immer weiter nieder, mit kleinen unvorhersehbaren Pausen, um dann ebenso unvorhersehbar und anlasslos wieder fortgesetzt zu werden.

Individuen

Wer wird Opfer von Verletzungen der Menschenwürde? Jede/r kann es werden, aber das Risiko steigt mit der sozialen Vulnerabilität (Außenseiter, Ausländer, Behinderte, ethnische Minderheiten, Homosexuelle ...).

Wer wird Täter von Menschenwürde-Verletzungen? Jede/r kann es werden, aber das Risiko steigt bei Mitgliedern von Kollektiven, die:

  1. sich in einem Konflikt mit verhassten anderen Kollektiven wähnen (Konflikt)
  2. über Gewaltmittel verfügen (Gewaltmittel)
  3. über eine Berechtigung zur Anwendung von Gewalt verfügen (Gewaltlizenz)
  4. davon ausgehen, für ihre Gewaltaktionen entweder belohnt oder jedenfalls nicht negativ sanktioniert zu werden (Impunitätserwartung).

Situationen

Als Verletzung der Menschenwürde werden offenbar Situationen empfunden, in denen Menschen in eine Lage gezwungen werden, in der sie tun oder erdulden müssen, was ihrer "inneren Existen" (Immanuel Kant), d.h. ihrer Sittlichkeit, ihrem Scham- und Ehrgefühl, ihrem Selbstbild und ihrer Selbstachtung widerspricht. Dabei geht es weniger um die Gewalt selbst als vielmehr um bestimmte szenische Elemente, die allerdings der Tötung vorausgehen und sie gegebenenfalls auch noch begleiten können. Wo dem Opfer die aufrechte Haltung genommen, wo seine Schamschranke aggressiv überwältigt und sein Körper wie eine wertlose Sache behandelt wird, da wird die "leibliche Souveränität" des Menschen auf demütigende Weise vernichtet. Es wird ihm jede Möglichkeit genommen, "seine Würde in seinem Leib darzustellen" (Fuchs 2008: 210).

Zur Situation der Verletzung der Menschenwürde gehören: motivierte Täter, geeignete Opfer und die Abwesenheit effektiver Beschützer der potentiellen Opfer. Motivierte Täter müssen nicht pathologische Typen sein: es genügen "ganz normale Männer" oder Frauen, solange sie sich in einer Situation hierarchischer Erwartungen der Begehung solcher Taten einerseits und der Kameradschaft andererseits befinden.

Durch die hierarchischen Strukturen werden sie beschützt und vor Sanktionserwartungen bewahrt. Sie sind quantitativ und waffentechnisch im Zweifel überlegen; sie verfügen über besondere Möglichkeiten der Isolation des Opfers, aber auch über verführerische Möglichkeiten der Rationalisierung ihres Handelns (Legitimation) sowohl in der Vertikalen als auch in der durch Kameradschaftsnormen gekennzeichneten Horizontalen.

Deshalb sind Verletzungen von menschlicher Würde bei Gehorsamsdelikten (sog. crimes of obedience) besonders häufig und gravierend. Je größer ein Staatssicherheits-Apparat und je geringer die Kontrolle über ihn, desto höher das Risiko systematischer Verletzungen der menschlichen Würde durch dessen Funktionäre. Wenn die Autoritäten dann noch einen Ausnahmezustand definieren, in dem es um die Existenz des Ganzen geht, ist auch die Wahrscheinlichkeit entsprechender Ausnahme-Erlaubnisse zu Vorgehensweisen besonders hoch, die eine Verletzung der menschlichen Würde bei den Feinden implizieren: auf der Makro-Ebene in der Form von abstrakt-allgemeinen Verfügungen, auf der Mikro-Ebene in der Form von Toleranz gegenüber solchen Verhaltensweisen (vgl. Kelman 1975, 2005).

Das alles unterstreicht einige Merkmale der Würde: ihre Leibgebundenheit, ihre prekäre, verletzliche Natur, die Mühe und die Leistungen, die für jede Person in der Erschaffung und Aufrechterhaltung von Würde liegen - und die Plötzlichkeit, mit der der Mensch auf seine kreatürliche Verletzbarkeit und "Würdelosigkeit" zurückgeworfen werden kann. Alles, was zum Habitus leiblicher Souveränität gehört, erweckt die Angriffslust von Tätern, die es auf die Würde des Opfers abgesehen haben - also dessen zur "zweiten Natur" gewordene Selbstbeherrschung, sein aufrechtes und prinzipientreues Auftreten, auch eine gewisse Großzügigkeit und Gelassenheit im Umgang: "Wer Würde besitzt, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, er verliert nicht die Geduld oder gar die Fassung. Über kleinlichen Streit ist er erhaben. Momentane Impulse oder Triebe haben keine Macht über ihn. Der Ausdruck von Würde hat auch eine bestimmte zeitliche Gestalt: das Bedächtige, Gemessene, womöglich auch das Feierliche des Schritts, der Rede, der Handlung" (Fuchs 2008: 204).

Vergleiche mit den Bildern von Abu Ghraib - insbesondere denen, auf denen die Soldatin Lynndie England sich gut gelaunt neben nackten Gefangenen fotografieren ließ, die zur Einnahme sexueller Posen oder zu sexuellen Handlungen gezwungen wurden - zeigen die Diskrepanz zwischen der Würde des Menschen als Haltung einerseits und der massiven Überwindung der Schamschranken durch Akteure mit Gewaltlizenz und Impunitätserwartung andererseits. Und sie zeigen zugleich die Bedeutung einer Situation, in die aufgrund der strukturellen und hierarchischen Vorgaben solche Vorkommnisse gleichsam eingebaut waren (Zimbardo).

Wo Menschen ohne Einhaltung rechtlicher Prozeduren gewissermaßen wie Schädlinge ausgemerzt werden, gehen solchen extralegalen Tötungen oftmals erniedrigende Behandlungsweisen voraus. Nicht zuletzt beglaubigen die Täter gegenüber ihren eigenen affektiven und kognitiven Tötungshemmungen, dass das Opfer absolut wertlos, keine Person und letztlich kein richtiger Mensch sei - und deshalb auch umstandslos eliminierbar. Solche Vorbereitungs-Demütigungen umfassen oft folgende Elemente:

Dazu kann das Element der Inszenierung und des sadistischen Spiels mit Emotionen kommen: die zeitliche Streckung mit Intervallen zur Schaffung einer kreatürlichen Dynamik durch die Abfolge von Schlägen, Angst, Pause, Hoffnung, Schlägen, Angst etc. (Spiel mit und Genuss von Existenzangst des Opfers). Viele Fällen weisen Regelmäßigkeiten auf: in einer Aufwärmphase (oder Prodromalphase) braut sich etwas zusammen; das künftige Opfer rückt in den Fokus; es wird durch Hänseln oder Beleidigen provoziert, damit man auf seine Reaktionen, die man als Beleidigung wertet, mit neuen Eskalationsstufen antworten kann.

Organisationen

Risiko-Organisationen sind in erster Linie alle Organisationen mit offizieller und rechtlich abgesicherter Gewaltlizenz, also Polizei, Militär, Strafvollzug, Geheimdienste und andere. In zweiter Linie Organisationen informeller Art mit abgeleiteten, halboffiziellen und durch quasi-rechtliche Normen abgesicherten gewaltlegitimierenden Normen und Werten (Paramilitärs, Todesschwadronen, Vigilanten). Nehmen wir nur die Polizei als Beispiel, so finden wir eine Organisation mit Gewaltlizenz, deren Arbeit in der direkten Durchsetzung obrigkeitlicher Normen und Befehle gegenüber den Bürgern besteht. Die Gewaltanwendung hat rechtliche Grundlagen und Legitimationen. Dieser Legitimitätsbonus kommt der Polizei über die behördliche Fürsorgepflicht des Dienstherrn auch dann zum Zuge, wenn die Polizei die rechtlichen Grenzen überschreitet und ihre Macht missbraucht. Das ist einer der Gründe, warum es hier in besonderer Häufigkeit und Schwere zu Verletzungen der Menschenwürde kommt. Man denke an folgende Beispielsfälle:

  1. Officer Pogan
  2. The Guardian: South African Police Polizei fährt los, nachdem sie Kopf eines Bürgers im hochgekurbelten Seitenfenster des Polizeiwagens einklemmte
  3. Systematische Folter durch Spezialpolizei BOPE in Rio de Janeiro, Brasilien
  4. Rodney King in den USA
  5. Mido Macia in Südafrika.

Die Polizei steht nur pars pro toto für die staatlichen Zwangsstäbe. Auch die Justiz ist zu Verletzungen der Menschenwürde in der Lage. Man denke an die Durchführung der Nürnberger Rassegesetze und die Behandlung der Angeklagten durch den Volksgerichtshof. Ganz zu schweigen vom Militär und von Geheimdiensten.

Prävention

Was lässt sich daraus für die Prävention von Menschenwürde-Verletzungen lernen?

Deklamatorisch

Zunächst, dass die Menschenwürde am besten über die praktizierten Menschenrechte geschützt wird. Die Menschenrechte sind kodifiziert. Sie bestehen zunächst einmal aus Abwehrrechten. Man denke an das Recht auf Leben und individuelle Selbstbestimmung (die allgemeine Handlungsfreiheit), auf körperliche Unversehrtheit, und auf ein faires Verfahren. Zwar stehen die Abwehrrechte nicht allein: sie werden einerseits flankiert durch die Teilhabe-, Leistungs- und Wohlfahrtsrechte; andererseits werden sie relativiert durch die Grundpflichten des Bürgers (auch wenn das Grundgesetz in der Beziehung verschwiegener ist als z.B. die Weimarer Reichsverfassung). Aus den Grundpflichten ergibt sich die Berechtigung des Staates, in die Grundrechte des Bürgers einzugreifen, wenn dieser sich als Straftäter erweist. Der Straftäter kann sein Recht auf Freiheit und auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf die freie Wahl seines Aufenthaltsortes und viele andere Recht verlieren. Was er freilich nicht verliert - nicht verlieren darf (oder kann?) - ist seine Würde. Wollte man dem Straftäter, der durch seine Straftaten die Würde anderer Menschen verletzt hat, auch seine eigene Würde nehmen, so legte man den Zivilisationsgrad der Gesellschaft indirekt in dessen Hände: je brutaler ein Verbrecher vorgeht, desto stärker würde sich die Gesellschaft brutalisieren. Damit hätte es jeder Verbrecher in der Hand, durch den Grad seiner Selbst-Barbarisierung auch die Gesellschaft zu barbarisieren.

Deshalb bleiben auch dem (mutmaßlichen) Verbrecher noch gut definierte Rechte, die ihm eine subjektive Rechtsposition auch für den Fall der Verhaftung oder eines Gerichtsverfahrens gewähren. Kriminologisch relevant sind vor allem: der Anspruch auf rechtliches Gehör (nach Art. 103) und die Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung nach Art. 104. Dieser lautet:

Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden. - Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden. Bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Die Polizei darf aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten. ...
Jeder wegen des Verdachtes einer strafbaren Handlung vorläufig Festgenommene ist spätestens am Tage nach der Festnahme dem Richter vorzuführen, der ihm die Gründe der Festnahme mitzuteilen, ihn zu vernehmen und ihm Gelegenheit zu Einwendungen zu geben hat. Der Richter hat unverzüglich entweder einen mit Gründen versehenen schriftlichen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen.
Von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung ist unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen.

In der Praxis ist der Umgang mit Verdächtigen - also mit Personen, gegen die ein Anfangsverdacht einer Straftat besteht (§ 152 Abs. 2 StPO) - noch relevanter als derjenige mit Beschuldigten (= Verdächtigen, gegen die ein Ermittlungsverfahren betrieben wird). Aktenkundigkeit ist eine Art Lebensversicherung. Stufenweise verbessern sich die Chancen, wenn das Ermittlungsverfahren beendet und eine Anklage erhoben wird (= Angeschuldigter), bzw. wenn die Anklage zugelassen wird (= Angeklagter). Freilich sind Menschenrechtsverletzungen während des Prozesses und dann insbesondere wieder während der Strafhaft im globalen Maßstab keineswegs Raritäten.

Empirisch

Besonders hoch ist das Risiko von Verletzungen der Menschenwürde in gewaltaffinen staatlichen und/oder parastaatlichen Organisationen. Dazu zählen Militär, Polizei und Justiz, in manchen Weltgegenden aber auch Geheimdienste, paramilitärische Einheiten, Todesschwadronen und andere mehr.

Prävention hieße bei den letztgenannten Organisationen mit endemischen Würde-Verletzungen schlicht: Auflösung der Organisation. Prävention ist hier keine Frage der Kenntnis von Methoden der Prävention, sondern des politischen Willens und der Machtverhältnisse. Dieser Weg wurde zum Beispiel in Bezug auf das Bataillon BOPE der Militärpolizei von Rio de Janeiro vorgeschlagen, fand aber politisch keine Unterstützung.

Der Ersatz von Militär, Polizei und Justiz durch weniger verletzungsgeneigte funktionale Äquivalente wird nur selten überhaupt gedacht (Ausnahme: Clifford Shearing). Meist geht es um die Verbesserung der Institutionen durch die Erhaltung oder Wiederherstellung ihrer Integrität. Auch das ist eine politische Willensfrage: immerhin gibt es herrschaftstechnische Vorteile einer Terroratio (Reemtsma). Bei vorhandenem politischen Willen geht es um entsprechende Regeln der (a) Personalauswahl, (b) Verhaltensrichtlinien und (c) der Kontrolle der Regeleinhaltung und (d) ggf. Sanktionierung von Fehlverhalten.

Die Verhaltensrichtlinien sollen klare Grenzen schon im Vorfeld von Würdeverletzungen setzen: Verbot von unnecessary force, von abuse of authority, discourtesy und offensive language (New York). Die Einhaltung der Regeln sollte organisationsintern überprüft werden, dazu aber auf jeden Fall auch durch eine responsive Beschwerde-Annahme-Struktur. Beispiel New York:

"Das Entscheidungsgremium im Civilian Complaint Review Board besteht aus 13 Mitgliedern, 5 werden vom Bürgermeister, 5 von der Stadtverordnetenversammlung und 3 vom Police Commissioner ernannt. Ihnen ist ein Stab von rund 200 Mitarbeitern zugeordnet. Die Behörde untersucht die Beschwerden mittels Vorladungen und Aktenstudium und befindet dann in jedem einzelnen Fall darüber, ob die Beschwerde als unbegründet abgelehnt oder als mit ausreichender Wahrscheinlichkeit begründet weiterverfolgt wird. Begründete Beschwerden werden an den Police Commissioner weitergereicht mit Sanktionsempfehlungen, die von Belehrungen über Disziplinarmaßnahmen, d.h. meistens Urlaubsentzug, bis zu beamtenrechtlichen Verfahren mit Geldstrafen und Entlassung reichen. Schon vor 1993 begann die Zahl der Beschwerden zu steigen, vor allem wohl, weil rund 5.000 unerfahrene Beamte neu eingestellt worden waren (...) Fälle von kriminellem Polizeiverhalten gegen Außenstehende werden vor ordentlichen Gerichten verhandelt, wobei die hohen Entschädigungssummen und punitive damages u. a. ganz explizit Entschädigungssummen und punitive damages u. a. ganz explizit zur Abschreckung eingesetzt werden. In den Jahren 1994-1997 hat die Stadt insgesamt fast 97 Millionen $ an Polizeiopfer zahlen müssen, eine Steigerung von 60% gegenüber der vorherigen 4-Jahres-Periode. Auch diese Zahlen sind aber mit Vorsicht zu interpretieren, denn solche Erhöhungen der punitive damages finden sich in den letzten Jahren auch in nichtpolizeibezogenen Verfahren gegen die Stadt. Zu diesen formellen, behördlichen und gerichtlichen Kontrollen der Polizei kommen noch informelle der Öffentlichkeit. Eine große Rolle spielen z.B. die Medien, einige Bürgerrechtsgruppen wie Human Rights Watch, Justice Watch, die erwähnte New York Civil Liberties Union usw., die über Skandalisierungen wiederum formelle Kontrollen auslösen können. Indirekter, aber auch nicht unerheblich ist die Wirkung von Institutionen, die durch wissenschaftliche Untersuchungen Einfluss nehmen. Hier wäre vor allem das Vera Institute of Justice zu nennen. Aus Image- und aus finanziellen Gründen sind Stadt und Police Department daran interessiert, Beschwerden und Gerichtsverfahren möglichst zu reduzieren. Während Bürgermeister und Polizeiführung zwar externe Kontrollen abzuwerten, abzuwehren und zu unterlaufen suchen, werden intern zahlreiche Maßnahmen getroffen, deren Anlässen vorzubeugen. Das reicht von der Einübung deeskalierender Interaktionsfähigkeiten (verbal judo) bis zu Institutionen wie dem Civilian Complaint Reduction Program, das sich mit mehrfach auffälligen Polizeibeamten, oder dem Force Profile Assessment Program, das sich mit Gewaltbeschwerden beschäftigt. In den Compstat Meetings werden seit einigen Jahren regelmäßig auch die Beschwerden, die gegen Beamte des gerade zur Debatte stehenden Reviers vorgebracht wurden, analysiert. Der Precinct Commander muss sich dafür genauso verantworten wie für Maßnahmen gegen die Kriminalität. Sowohl Revierleiter wie einfache Beamte fürchten Beschwerden, denn sie sind karriereschädlich - wie besonders der einfache Beamte ja überhaupt mit seiner Verpflichtung, gegen Ordnungswidrigkeiten strenger vorzugehen, in der Regel keineswegs glücklich ist, weil das Arbeit und Konflikte schafft!" (Hess 2000: ).

Auf vielfache Weise können gewaltberechtigte Organisationen wie z.B. die Polizei lassen ässt sich das Verhalten einzelner Akteure durch den Erlass und die Umsetzungskontrolle von Anordnungen (Befehl; Zielvorgaben; Evaluation; Sanktion) einer- und durch Aufstiegshoffnungen andererseits (Motivation) beeinflussen.

Aus den Forschungen des Psychologen Philip Zimbardo ist inzwischen bekannt, welche Bedingungen zur Verletzung von Menschenwürde führen - und wie man sie verhindern könnte.

In einer hierarchischen Organisation kann man Menschenwürde-Verletzungen entweder befehlen oder verbieten. Ein klares Verbot ist eine sehr gute Prävention. Wenn man aber ein Ziel vorgibt (Informationsbeschaffung, Anschlagsverhinderung, Neutralisierung der Gegner o.ä.) und die Mittel, die dazu angewandt werden dürfen, mehr oder minder offenlässt - und wenn man Impunitätserwartungen weckt oder toleriert - dann ist das for all practical purposes so gut wie ein Befehl zur Verletzung der Menschenwürde. Dies besonders dann, wenn zwischen Tätern und Opfern eine große soziale Distanz (sprachliche, ethnische, kulturelle Fremdheit; negative Charakterzuschreibungen wie Verschlagenheit, Verstocktheit usw.) besteht. Kriege; Besatzungen; besondere Gewaltverhältnisse wie z.B. Gefängnisse, Lager u.v.a.m.

Thesen zu einer künftigen Kriminologie der Menschenwürde

  1. Als empirische Wissenschaft von der Kriminalität kann die Kriminologie dazu beitragen, die Konturen der Menschenwürde von ihren Verletzungen her zu bestimmen.
  2. In einem anschaulichen Sinne wird die Würde dort verletzt, wo die leibliche Selbstbestimmung eines Menschen gebrochen und der Anspruch der Person auf eine frei gewählte Haltung durch die Brechung seiner körperlichen Souveränität gedemütigt wird
  3. Wo es keine Verletzung der Menschenrechte gibt, da geht es der Menschenwürde gut. Also dort, wo der Staat die körperliche Unversehrtheit auch derjenigen respektiert und schützt, deren Selbstbestimmung in sexueller, in religiöser, in weltanschaulicher oder anderer Hinsicht nicht dem Mainstream entspricht, ohne aber die Rechtsgüter Dritter zu verletzen. Wo der Staat dieses Wächteramt ernst nimmt, da wird auch die Gesellschaft dazu bereit sein (und anders herum). Und dort, wo in sozialer Gerechtigkeit und in individueller Freiheit die Rechte der Menschen verwirklicht werden, da wird auch ihre Würde florieren.

Zitate

Allein der Mensch, als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über jeden Preis erhaben, denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt ein Würde (einen absoluten inneren Werth), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem Anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.

Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (in der Tugendlehre im Kapitel über die Kriecherei) Akademieausgabe Band VI: 434f.

Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.

Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten ... Reclam-Ausgab 1972: 87.

Das allgemeinste Zeichen der modernen Zeit: der Mensch hat in seinen eigenen Augen unglaublich an Würde eingebüßt.

Friedrich Nietzsche (Der Wille zur Wahrheit), in: F.N., Sämtliche Werke, Krit. Studienausg. in 15 Bdn, Hrg. v. G. colli und M. Montinari, Bd. 12, Nachgel. Fragmente 1885-1887, München: dtv 1980: 254.

Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung

Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde. In: Sämtliche Werke, hg. v. G. Fricke, .G. Göpfert, 9. Aufl. Bd. 5, München: 475.

Wenn man denn überhaupt früge, worauf denn diese angebliche Würde des Menschen beruhe; so würde die Antwort bald dahin gehn, daß es auf seiner Moralität sei - also die Moralität auf der Würde, und die Würde auf der Moralität. - Aber hievon auch abgesehn, scheint mir der Begriff der Würde auf ein am Willen so sündliches, am Geiste so beschränktes, am Körper so verletzbartes und hinfälliges Wesen, wie der Mensch ist, nur ironisch anwendbar zu sein (...) Daher möchte ich im Gegensatz zu besagter Form des Kantischen Moralprinzips folgende Regel aufstellen: bei jedem Menschen, mit dem man in Berührung kommt, unternehme man nichteine objektive Abswchätzung desselben nach Wert und Würde (...) sondern man fasst allein seine Leiden, seine Not, seine Angst, seine Schmerzen ins Auge - da wird man sich stets mit ihm verwandt fühlen, mit ihm sympathisieren und statt Haß oder Verachtung jenes Mitleid mit ihm empfinden, welches allein die agapé ist, zu der das Evangelium aufruft. Um keinen Haß, keine Verachtung gegen ihn aufkommen zu lassen, ist wahrlich nicht die Aufsuchung seiner angeblichen 'Würde', sondern umgekehrt der Standpunkt des Mitleids der allein geeignete.

Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften II, in: A. Sch.: Sämtliche Werke, Hrsg. v. W. Frhr. v. Löhneysen, Bd. 3 Stuttgart: Cotta, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978: 239.

Literatur

  • Agamben, Giorgio (2001) Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Freiburg/ Berlin (Kapitel: Souveräne Polizei).
  • Ainslie, Ricardo. Long Dark Road: Bill King and Murder in Jasper, Texas. University of Texas Press, 2004.
  • Brugger, Winfried (2008) Die Würde des Menschen im Licht des anthropologischen Kreuzes der Entscheidung, in: Härle & Vogel, 49-94.
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