Verletzung der Menschenwürde

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die Menschenwürde wird heute in erster Linie von ihrer Verletzung her gedacht. Verletzungen der Menschenwürde sind

  1. die demütigende Brechung der leiblichen Souveränität, weil dadurch
  2. die Barrieren der Intimität durchbrochen und
  3. die Opfer auf ihre nackte Körperlichkeit reduziert werden,
  4. ohne ihnen eine Chance zu lassen, ihre Würde in ihrem Leib darzustellen und dadurch
  5. in besonderer Weise beschämend und deshalb auch in der Tendenz
  6. nachhaltig traumatisierend wirken.

Beispiele für diese massivste Form der Würdeverletzung sind

  1. Vergewaltigung
  2. Folter
  3. sadistische Misshandlung.

Ein Beispiel für Verletzung der Menschenwürde: Zwang zur Einnahme sexueller Posen (Abu Ghraib).

Es ist also nicht die Gewaltanwendung als solche, die zu den massivsten Verletzungen der Würde gehört, sondern

die demütigende Brechung der leiblichen Souveränität, wie sie vor allem durch Vergewaltigung oder durch die Folter erreicht wird. Solche Würdeverletzungen wirken in besonderer Weise beschämend und nahhaltig traumatisierend. Sie durchbrechen die Barrieren der Intimität und reduzieren das Opfer auf seine nackte Körperlichkeit, ohne ihm eine Möglichkeit zu lassen, seine Würde in seinem Leib darzustellen. Ähnlich entwürdigende Wirkung hatten frühere Strafen wie der Pranger oder die Kreuzigung, die den Delinquenten in beschämender Weise zur Schau stellten. Aus jüngster Zeit ist die Folger durch erzwungene Einnahme sexueller Posen zu trauriger Berühmtheit gelangt. Solche Verfahren berauben die Opfer ihrer leiblichen Souveränität und zwingen sie auf demütigende Weise in ihre Körperlichkeit zurück (Fuchs 2008: 210).

Kasuistik

Verletzung der Intimität durch Gleiche (peer-group). Schüler, Heiminsassen, Gefangene unter sich.

Verletzung der Intimität durch Inhaber privilegierter Positionen (Staatsorgane)


Bedingungen, die Würdeverletzungen begünstigen

Die Würde des Menschen - von ihrer Verletzung her gedacht

Eine praktikable Sichtweise kann sich aus der Mitleidsethik Schopenhauers ergeben - man könnte sie auch pathozentrisch nennen. Jedenfalls stünde im Mittelpunkt die Frage nach der Würde derjenigen, die sich an anderen vergehen, und nach ihrem Würdeverlust durch die Verletzung des Anerkennungs- und Respektsanspruchs der Anderen. Vielleicht muss man ja auch nicht wissen, was die Würde des Menschen ist, solange man weiß, wann eine Verletzung der Würde des anderen, also seines Anerkennungsanspruchs, vorliegt.

So wird der Verstoß gegen die Menschenwürde in dem Moment offenkundig, in dem man die Filmaufnahmen der Prozesse gegen die Verschwörer des 20. Juli vor dem Volksgerichtshof sieht. Es gibt Erniedrigungen, die den Anspruch des Gegenübers auf die Respektierung seiner Würde verletzen. Das heißt nicht, dass der Betroffene tatsächlich seiner Würde verlustig geht. Auch das zeigen diese Aufnahmen. Aber eines bleibt dennoch klar: so darf man mit einem Menschen - egal, wie dieser Mensch beschaffen ist und was er getan oder nicht getan hat - nie umgehen.

Das heute dominierende Verständnis von Art. 1 Abs. 1 GG füllt den Begriff der Menschenwürde von der Verletzung her mit Inhalt. Bild: Auschwitz 1944, Der Vernichtung der nackten Existenz geht der Angriff auf die Menschenwürde voraus

Deshalb ist es nicht verwunderlich und auch nicht zu kritisieren, dass die Menschenwürde heutzutage ihre Konturen hauptsächlich über die Thematisierung ihrer (krassen) Verletzung gewinnt. Wie es Matthias Herdegen (2011: 258) ausdrückt:

"Das heute dominierende Verständnis von Art. 1 Abs. 1 GG füllt den Begriff der Menschenwürde von der Verletzung her mit Inhalt."


Beispiele

Insofern hängt das Verständnis von der Menschenwürde als Wesensmerkmal eng mit dem Verständnis der Menschenwürde im Sinne eines Gestaltungsanspruchs an den Staat zusammen (vgl. Wetz 2011). Die beiden letztgenannten Perspektiven sind es, die dem Parlamentarischen Rat zur Aufnahme von Artikel 1 Absatz 1 in das Grundgesetz bewogen:

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Sucht man nach Beispielen für eindeutige Menschenwürde-Verletzungen, so ist der sicherste Weg das Aufspüren von Ereignissen, in denen diejenigen, die ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde aufgerufen sind, diese prima facie verletzen: am ehesten wird man solche Fälle dort finden, wo Staatsorgane und Bürger typischerweise unmittelbar in Zwangsverhältnissen aufeinander treffen - also dort, wo die Polizei mit unmittelbarem Zwang gegen Bürger vorgeht. Sie hat dieses Recht in jedem Staat der Welt, aber in jedem Staat der Welt gibt es auch Gesetze, die diese prekären Begegnungen durch rechtliche Kanalisierung zu steuern und in gewisse Formen zu gießen suchen: es gibt nur bestimmte Gründe und Situationen, in denen die Polizei berechtigt ist, Gewalt anzuwenden - und auch dann nur die erlaubten Formen der Gewalt und jeweils situationsangemessen nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

Was sie bedeutet

Wolfgang Deppert (2011: 142) schlägt vor, "die Würde eines Menschen als die Sicherungsfähigkeit der eigenen inneren Existenz zu kennzeichnen, die sich vor allem in dem Willen zur Erhaltung der eigenen inneren Existenz äußert. Weil die innere Existenz an die Vergänglichkeit der äußeren Existenz geknüpft ist, so können die innere Existenz und ihre Existenzsicherung von außen verletzt werden, und sind somit schutzbedürftig."

Wenn man Menschen in "menschenunwürdigen" Behausungen unterbringt, ihnen die Minimalvoraussetzungen für ein würdiges Leben verweigert oder sie so misshandelt, dass sie ihre Persönlichkeit nicht mehr wahren können, dann verfehlen Staat und/oder Gesellschaft ihren freiheitsphilosophisch und anthropologisch (und natürlich auch rechts- und sozialstaatlich) begründeten Gestaltungsauftrag, jedem Menschen die Bedingungen der Möglichkeit für sein "menschenwürdiges Dasein" zu schaffen oder zumindest nicht aktiv zu verweigern (näher: Brugger 2008).

Wie sie verletzt werden kann

Auf unendlich viele Art kann die Menschenwürde verletzt werden, indem einem Menschen die ihm gebührende Anerkennung in entwürdigender Absicht verweigert wird.

Besonders gravierend ist diese Verletzung, wenn sie von Staatsorganen kommt.

Denn die Würde des Menschen "zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" (Art. 1 Abs. I, Satz 2 Grundgesetz).

Wenn daher ein Beamter die Menschenwürde mit Füßen tritt, dann ist das zugleich eine Verletzung seiner Schutzpflicht.

Und ein Beleg dafür, dass er nicht die für das Beamtenverhältnis erforderliche "Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt» (so z.B. § 4 Abs. 1 Nr. 2 des Beamtenrechtsrahmengesetzes), bzw. dafür, dass er die (sich aus den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums ergebende) besondere politische Treuepflicht gegenüber dem Staat und seiner Verfassung verletzt.

Denn: diese Loyalität erfordert mehr als nur eine formal-korrekte Amtsausübung. Sie verlangt von dem Beamten insbesondere, dass er die Verfassung als einen hohen Wert anerkennt, für den es einzutreten gilt." Wer den Wert der menschlichen Würde nicht nur nicht anerkennt, sondern aktiv mit Füßen tritt, wäre demnäch kein geeigneter Staatsdiener.

Kasuistik

Hier einige potentielle Fälle der Verletzung der Menschenwürde durch Polizisten:

Mobbing (Dorner, CA)

Taxifahrer-Fall (Südafrika)

Minenarbeiterstreik (Südafrika)

Officer Pogan (NY)

Benno Ohnesorg (Berlin)


Bedingungen der Möglichkeit von Menschenwürde-Verletzungen

Bedingungen der Verhinderung

Was lässt sich gegen Verletzungen der Menschenwürde machen? Zimbardo, Nils Christie und John Braithwaite.(next: lit., 5 conditions, braithwaite standards txt; beispiele: south africa case mozambique taxi driver; officer pogan; drohnen).

Eine individual-psychologische Orientierung: protektive Faktoren; Resilienz; lernen, mit Angriffen auf die Menschenwürde umzugehen und selber intakt zu bleiben.

"Nach Dworkins Auffassung gibt es zwei Grundbedingungen für ein gelungenes Leben. Das erste Prinzip ist das der Selbstachtung, wonach wir unser eigenes Leben ernst nehmen müssen. Das zweite Prinzip ist Authentizität, also die persönliche Verantwortung für die eigene Lebensführung. Beide Prinzipien zusammen ergeben die Dworkin'sche Konzep0tion von Menschenwürde. Diese Würde und Selbstachtung können wir laut Dworkin aber nur erreichen, wenn wir die Menschheit 'in all ihren Formen' achten. Aus diesem 'Kant'schen Prinzip' ergeben sich unsere moralischen Verpflichtungen gegenüber anderen" (Vašek & Vašek 2012: 31).

  • Selbstachtung (= das eigene Leben ernst nehmen; "Wir haben die Verantwortung, aus unserem Leben etwas zu machen, das einen Wert hat. Das schulden wir unserer Würde, unserem Selbstrespekt")
  • Authentizität (= die persönliche Verantwortung für die eigene Lebensführung).

Zitate

Jede Persönlichkeit besitzt ein einzigartiges zusammenhangstiftendes Vermögen, das sie kennzeichnet und ihre besonderen Neigungen, Fähigkeiten, Wünsche und schließlich sogar ihre Würde bestimmt. Überdies besitzt das zusammenhangstiftende Vermögen die Eigenschaft, sich über die Lebensjahre verändern zu können, und auch dies charakterisiert eine Persönlichkeit durchaus in dem Sinne, wie bereits Aristoteles von einer Entelechie sprach, die für jedes Lebewesen die gesamte Entwicklung mit beeinflußt oder gar bestimmt. Darum werden in unseren Wertesystemen Änderungen eintreten. Und je mehr die Idee der Aufklärung an Boden gewinnt, daß jeder Mensch in sich selbst orientierende Fähigkeiten besitzt und somit in die Selbstbestimmung entlassen werden kann, umso mehr werden auch die überkommenen nur noch scheinbar festgefügten autoritär zu vermittelnden Wertsysteme an Bedeutung verlieren, was oft in sehr oberflächlicher Weise als Werteverlust beklagt wird. In den meisten Fällen zeigt der sogenannte Werteverfall oder Werteverlust das Gegenteil davon an, da es gerade die Fülle der eigenen Wertvorstellungen ist, die einen Wertewandel bewirkt, der sich nach außen /40/ durch eine Abkehr von den autoritären Wertsystemen manifestiert, die immer noch von überkommenen Konfessionen zum Schaden sehr vieler Menschen vertreten werden (Deppert 2011: 39 f.).

So wie Kant der Meinung war, daß der von ihm neu eingeführte Rechtsbegriff des auf dingliche Art persönlichen Rechts längst stillschweigend im Gebrauch gewesen sei, so können wir heute feststellen, daß auch der Rechtsbegriff des auf persönliche Art dinglichen Rechtes in Form der Rechtslehre des Naturschutzes seit langem im Gebrauch ist; denn darin wird so getan, als ob den Naturdingen ein 50 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1. Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Friedrich Nicolovius, Königsberg 1797, 2. Hauptstück, 1. bis 3. Abschnitt, § 22. 73 Rechtsanspruch einer Person zukäme. Damit werden aus den Naturdingen keine Personen, sie bleiben Naturdinge, aber ihnen wird ein auf persönliche Art dingliches Recht zugesprochen, und sie lassen sich im Sinne von Wirtschaftsgütern als auf persönliche Art dingliche Güter begreifen, denen durchaus eine besondere Behandlung zukommen sollte, etwa, wenn es sich dabei um Tiere handelt, denen wir auch eine eigene Würde zuzusprechen haben (Deppert 2011: 72f.).

Der dritte Bereich betrifft entsprechend den Umgang des Menschen mit Naturwesen, die zwar keine Menschen sind, denen aber dennoch eine bestimmte Achtung entgegengebracht werden sollte, wenn wir davon überzeugt sind, daß auch ihnen eine Würde zuzusprechen ist, weil wir davon auszugehen haben, daß sich in ihnen bereits so etwas wie eine innere Existenz ausgebildet hat (Deppert 2011: 73).

Außerdem aber ruht das gesamte Rechtssystem, das durch das Grundgesetz bestimmt ist, auf dem Begriff der Würde des Menschen. Daraus folgt aber, daß die Grundrechte eine Konsequenz des Begriffes der Würde des Menschen sein müßten, d.h., die Grundrechte sollten aus der Explikation des Begriffes der Würde des Menschen folgen und mithin ableitbar sein. - Nun ist es leider ein schwerwiegendes Versäumnis der Verfasser des Grundgesetzes und aller späteren Volksvertreter der Legislative, daß sie den Begriff der Würde des Menschen unbestimmt gelassen haben, so daß eine Ableitung der Grundrechte aus dem Würdebegriff bislang nicht geschehen konnte und man sich damit behalf, die Würde des Menschen so zu verstehen, daß sie zusammenfassend das bedeute, was in den Grundrechten ausgesagt sei. Nur gibt es da eine große Anzahl von Grundrechten, die durch Gesetze eingeschränkt werden können, so daß dann die Würde des Menschen verletzt würde, was nach Art. 1 GG verboten ist. Um dieses Dilemma in unserem Verfassungsprovisorium, welches ja 87 Vgl. etwa Deppert (1996) oder Deppert (1997a). 140 das Grundgesetz darstellt, zu reparieren, müßten der Begriff der Würde des Menschen möglichst genau gefaßt und aus ihm die Menschenrechte abgeleitet werden.88 Die Erfüllung dieser Forderung könnte die innere Existenz der Bundesrepublik Deutschland stützen, die zur Zeit sehr angeschlagen zu sein scheint. Aus den Formulierungen des Grundgesetzes, in denen über den Würdebegriff gesprochen wird, ist ersichtlich, daß ein Begriff von Würde gemeint ist, der es zuläßt, daß die Würde verletzt werden kann und darum als oberstes Schutzgut des ganzen Grundgesetzes gilt. Denn der Art. 1 Abs.1 GG lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Wenn der Begriff der Würde das definierende Merkmal des Menschen ist, dann läßt sich mit einem solchen Begriff keine Verletzlichkeit verbinden; denn das würde ja bedeuten, daß jemand mit verletzter Würde auch nicht mehr ganz Mensch wäre. Könnte es darum vielleicht sein, daß gerade eine verletzliche Würde das definierende Merkmal des Menschen ist? Dem scheint entgegenzustehen, daß der erste Satz des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Etwas, das unantastbar ist, kann gewiß auch nicht verletzt werden. Wenn dies aber die Grundgesetzautoren gemeint hätten, dann wäre ihr zweiter Satz des Art.1 GG ohne Sinn, der da heißt: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Der erste Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ kann darum nur sinnvoll als folgender Imperativ interpretiert werden: „Die Würde des Menschen darf unter keinen Umständen angetastet werden!“ Dies bedeutet, daß der Begriff der Würde des Menschen die Verletzlichkeit der Würde zulassen muß, denn sonst wäre es ja unnötig, sie schützen zu wollen. Der Würdebegriff der rechtsphilosophischen Literatur stammt meistens von Immanuel Kant. Er spricht in seiner ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ von „der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt".89 Erläuternd führt er aus: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d.i. einem bloßen Wohlgefallen am zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Zweck, d.i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d.i. Würde. Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.“ Und hier spricht Kant tatsächlich auch bereits von einem „inneren Wert“. Dabei geht Kant sogar so weit, zumindest anzudeuten, daß alles, was einen inneren Wert hat, auch Würde habe. In der hier 88 Die weitaus beste Zusammenfassung und Diskussion der Probleme um die Definition des Würdebegriffs findet sich in Franz Josef Wetz, Illusion Menschenwürde – Aufstieg und Fall eines Grundwerts, Klett-Cotta, Stuttgart 2005. 89 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785/86, A77/B76. 141 verwendeten Begrifflichkeit, geht das zu weit; denn ein Gegenstand, der einen Erinnerungswert für einen Menschen hat, hat für diesen Menschen einen inneren Wert, aber doch wohl keine Würde. Da für Kant Sittlichkeit niemals Fremdbestimmung durch die Sinne, sondern nur Selbstbestimmung durch die Vernunft bedeuten kann, kommt er zu dem Schluß: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“90 Eine Würde haben demgemäß Lebewesen, die zur Selbstbestimmung fähig sind.91 Nach diesem Kantischen Begriff der Würde kann der Mensch seine Würde nur selbst verletzen, indem er unmoralisch handelt. Für Kant gibt es aber keinen möglichen Zwang, sich unmoralisch zu verhalten. Die Würde des Menschen kann danach nicht durch äußere Einwirkungen verletzt werden. Also ist der Würde-Begriff des Grundgesetzes nicht mit dem Würde-Begriff Kants zu identifizieren, um auf ihn das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland zu stützen. Denn eine Würde, die sich von außen nicht angreifen läßt, kann man nicht antasten, und sie bedarf deshalb nicht des Schutzes „aller staatlichen Gewalt“. Die Ableitung der einzelnen Grundsätze der individualistischen Ethik zeigte, daß einige von ihnen als Verallgemeinerungen von Kants ethischen Prinzipien zu verstehen sind. So ist z.B. das Ordnungsprinzip eine Folge des Kantischen Autonomieprinzips und das Stimmigkeitsprinzip eine Verallgemeinerung des Kategorischen Imperativs, während man das Verstehensprinzip als eine allgemeinere Form des Kantischen Publizitätsprinzips begreifen kann. Es könnte darum möglich sein, durch eine Verallgemeinerung des Kantischen Begriffs der Würde zu einem Begriff von Menschenwürde vorzustoßen, der sich als ein Begriff von menschlicher Würde im Rahmen einer individualistischen Ethik begreifen läßt. Hierzu eignen sich Kants Formulierungen, daß die Autonomie der „Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ sei und daß Würde „die Bedingung ausmacht, unter der allein“ Zwecke gesetzt werden können, die zugleich von der Art der Unersetzbarkeit sind (Deppert 2011: 139 ff.).

Demnach besitzt die innere Existenz eines Lebewesens selbst auch die Bestimmungen eines Lebewesens, das seine eigene Existenz zu sichern hat. Damit ist die innere Existenz auch verletzlich und kann in Existenznot geraten. So entsteht die Orientierungsnot durch die Bedrohung der inneren Existenz durch Sinnlosigkeit. Diese Bedrohung der inneren Existenz des einzelnen Menschen kann von inneren Zuständen aber auch von äußeren Zuständen ausgehen, d.h., die innere Existenz besitzt die Eigenschaft, die wir bei der Würde des Menschen gesucht haben. Und so wie Kant die Würde durch die Selbstbestimmung durch die Vernunft gekennzeichnet hat, so sollten wir nun die Würde des Menschen mit der Selbstbestimmung durch seine eigene Vernunft verbinden. Da die innere Existenz die Eigenschaften eines Lebewesens besitzt, schlage ich vor, die Würde eines Menschen als die Sicherungsfähigkeit der eigenen inneren Existenz zu kennzeichnen, die sich vor allem in dem Willen zur Erhaltung der eigenen inneren Existenz äußert. Weil die innere Existenz an die Vergänglichkeit der äußeren Existenz geknüpft ist, so können die innere Existenz und ihre Existenzsicherung von außen verletzt werden, und sind somit schutzbedürftig Mit der Bestimmung des Würdebegriffs scheint seine Ableitung aus unserer im Laufe der Vorlesung deutlicher gewordenen Vorstellung von der inneren Existenz möglich geworden zu sein, und wir könnten nun fragen, ob das, was wir bisher als „innere Existenz“ gekennzeichnet haben, gar die Bedingungen für eine mythogene Idee erfüllt. Demnach müßte sie in einer Vorstellungseinheit Einzelnes und Allgemeines untrennbar miteinander verbinden. Tatsächlich ist die innere Existenz eines Lebewesens ein Einzelnes, welches sogar das Charakteristikum dieses Lebewesens ausmacht, und außerdem ist sie das Allgemeine für alle Sinnvorstellungen dieses Lebewesens bezüglich der eigenen 143 Lebensgestaltung. Die „innere Existenz“ ist mithin eine mythogene Idee und damit dazu tauglich, so wie in der Naturwissenschaft, eine große begriffliche Mannigfaltigkeit aus ihr heraus zu entwickeln. Insbesondere sollte sie gestatten, eine Systematik zur Ableitung der Menschenrechte zu entwickeln (Deppert 2011: 142 f).

Durch die Definition der Menschenwürde mit Hilfe der mythogenen Idee der inneren Existenz des Menschen als den Erhaltungswillen der inneren Existenz läßt sich auch die Mehrdeutigkeit in der Verwendung des Wortes ‚Würde‘ etwas reduzieren; denn wenn wir etwa einen Menschen als würdig bezeichnen, dann meinen wir damit einen Menschen, der sich über sich selbst im klaren ist, der sich selbst nichts vormacht, der also seine eigene innere Existenz weitgehend gesichert hat und seinen Willen zu sinnvollem Handeln dadurch bestimmt oder wenn wir von der Würde des Alters sprechen, dann stellen wir uns alte Menschen vor, die auf dem Wege, sich und die Welt zu durchschauen, schon erheblich weiter gekommen sind als junge Menschen und die deshalb nicht mehr in Zwietracht mit sich selbst leben, sondern mit sich im reinen sind und wissen, was für sie sinnvoll ist und was nicht. Von einem würdelosen Verhalten aber sprechen wir, wenn wir damit ein Verhalten kennzeichnen wollen, von dem wir vermuten, daß es der handelnde Mensch nicht vor sich selbst rechtfertigen kann, d.h., daß dieser Mensch seine eigene innere Existenz gefährdet und seinen Willen zu sinnvollem Handeln jedenfalls nicht auf Langfristigkeit hin bestimmt hat. - Bei einem Rechtssystem, das alle Lebensbereiche des Menschen umfaßt, wird es Rechte geben müssen,durch die die Menschen selbst als agierende Subjekte und als betroffene Objekte möglichst umfassend geschützt werden. Diese Schutzrechte sind Bedingungen dafür, daß sich ein Rechtssystem selbst erhalten kann und ebenso dafür, daß Menschen ein eigenes Interesse daran haben können, freiwillig einem derartigen Rechtssystem beizutreten und sich den darin bestehenden Regeln zu unterwerfen. Damit lassen sich Menschenrechte als grundlegende Schutzzusagen eines alle menschlichen Lebensbereiche umfassenden Rechtssystems begreifen, durch die die Menschen vor ungerechtfertigten Beeinträchtigungen ihrer Möglichkeiten des selbständigen Tuns und Lassens gesichert werden. Dieser sehr allgemeine Begriff von Menschenrechten kann bereits auf alle vertragstheoretischen Staatskonzeptionen angewandt werden, selbst auf die des Hobbesschen Unterwerfungsvertrages. Darum trifft diese allgemeine Konzeption von Menschenrechten aber noch nicht unsere heutigen speziellen 145 Vorstellungen von Menschenrechten. Dies liegt daran, daß der Begriff der Würde des Menschen darin noch keine Berücksichtigung gefunden hat. Die Würde des Menschen ist ein Begriff, der nicht von irgendeinem Rechtssystem abhängig ist. Sie ist ein Begriff, der grundsätzlich auf die innere Existenz von Lebewesen angewandt werden kann, unabhängig davon, in welchem speziellen Rechtssystem sie sich befinden. Da aber einzelne Rechte, wie es die Menschenrechte sind, nur durch ihre Bindung an bestimmte Rechtssysteme garantiert werden können, gibt es ein Problem, wenn von Menschenrechten überhaupt ohne eine Bindung an ein Rechtssystem gesprochen wird. Dieses Problem ist allen internationalen Menschenrechtsorganisationen wohlbekannt, da es äußerst schwierig ist, in den Staaten ein Unrechtsbewußtsein bei Menschenrechtsverletzungen zu bewirken, in denen sich kein oder ein ganz anderes Bewußtsein von der Würde des Menschen ausgebildet hat. Um international anerkannte und abgesicherte Menschenrechte wenigstens im Bewußtsein der staatstragenden Persönlichkeiten zu etablieren, bedarf es einer Argumentation für ein internationales Rechtssystem, durch das bestimmte Menschenrechte in Form von internationalen Schutzzusagen abgesichert werden. Wie könnte dies geschehen? (Deppert 2011: 144 f.).

Da die Sicherung der inneren Existenz des Menschen selbst eine notwendige Bedingung für den Erhalt seiner äußeren Existenz ist und weil der Staat seine eigene äußere und innere Existenz auf die Existenz von Menschen gründet, ist die Würde des Menschen für den Staat selbst der fundamentale Wert überhaupt. Ferner stellt der staatliche Schutz der Würde des Menschen die Bedingung der Möglichkeit für die Ableitung von Grund- oder Menschenrechten dar. Damit ist das Recht auf den Schutz der Menschenwürde das grundlegendste Recht, das es überhaupt geben kann, es sei darum als das fundamentale Menschenrecht bezeichnet. Es findet bereits seinen Ausdruck im Art. 1, Abs.1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (GG): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Aufgrund der im GG nicht vorhandenen aber der hier angegebenen Definition des Würdebegriffs muß für mein Dafürhalten das gesamte Strafrecht neu überdacht werden, und alle Zwangsmaßnahmen, die ausschließlich dazu gedacht sind, den Willen eines Menschen zu brechen, wie sie z.B. als Beugehaftmaßnahmen, wie sie etwa in der ZPO vorgesehen sind, verletzen die Würde des Menschen, wie sie hier definiert ist und mithin können schon jetzt als grundgesetzwidrig festgestellt werden; denn bei diesen Maßnahmen geht es nicht um den Versuch einer Willensänderung durch die Vermittlung besserer Einsichten auf dem Wege des sinnvollen Argumentierens, sondern um pure, brutale Gewalt, die einzusetzen für einen Staat zum Zwecke der Willensbrechung unwürdig ist, da dieser damit seine eigenen Grundlagen zerstört und mithin seine eigene innere Existenz in höchstem Maße gefährdet. Das Entsprechende gilt für die Gesetzgebung zur Abschiebung und zur Abschiebehaft von Ausländern, da schon der Begriff der ‚Abschiebung‘ bereits die hier definierte Würde des Menschen verletzt (Deppert 2011: 146).

Wir haben bereits gefunden, daß es Aktions- und Reaktionsgrundrechte geben sollte und zwar jeweils zur Sicherung der äußeren und der inneren Existenz. Und daraus ergeben sich vier elementare Grund- oder Menschenrechte, durch die die Bedingungen der Möglichkeit individualistischer Ethik erfüllt werden. Diese vier elementaren Grund- oder Menschenrechte lauten:

1. Das Recht auf Leben. (Aktionsgrundrecht zum Aufbau und zur Sicherung der äußeren Existenz) 2. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit. (Reaktionsgrundrecht zur Sicherung der äußeren Existenz) 3. Das Recht auf die Entwicklung und Ausbildung der Sinnstiftungsfähigkeit. (Aktionsgrundrecht zum Aufbau, zur Sicherung der inneren Existenz und zur Ausbildung des Willens zu sinnvollem Handeln) 4. Das Recht auf seelische Unversehrtheit. (Reaktionsgrundrecht zur Sicherung der inneren Existenz)

Die Formulierung der ersten beiden elementaren Grund- oder Menschenrechte ist identisch mit der historisch gewachsenen Formulierung wie sie sich im Art. 2 (2) GG finden. Dennoch ist hier mit der Formulierung des Aktionsgrundrechts zum Aufbau und zur Sicherung der äußeren Existenz sehr viel mehr gemeint als nur das bloße Recht, vor absichtlicher Tötung geschützt zu werden. Das Aktionsgrundrecht bezeichnet mit dem Wort ‚Leben‘ ein aktives Leben, das die Gesamtheit der Lebensgestaltung einschließt (Deppert 2011: ).

Um ein solches Unrecht zu vermeiden, ist nach Art. 20 Abs. 4 Widerstand zu leisten; denn die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen ist“ nach Art.1 Abs. 1 „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ und „gegen jeden, der es unternimmt,“ – und sei es auch ein Verhaftungsbeamter – „diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

3. Wenn Bürger in Haft genommen werden, so ist dies für den Staat in jedem Falle sehr kostspielig. Und wenn Bürger in Haft genommen werden, von denen wirtschaftliche Aktivitäten ausgegangen sind, die aber aufgrund der Inhaftierung unterbleiben, dann bedeutet dies für den Staat eine weitere wirtschaftliche Schädigung. Dies bedeutet, daß wir sehr genau hinsehen müssen, unter welchen Umständen sich für Inhaftierungen überhaupt Begründungen finden lassen, die so schwer wiegen, daß man die damit verbundenen Staatsschädigungen in Kauf nehmen darf. Da gibt es z.B. inzwischen eine große Anzahl von Inhaftierungen aufgrund von Verkehrsdelikten, wie etwa wiederholtes Fahren ohne Führerschein oder auch aktive oder passive Verkehrsteilnahme unter Alkoholeinfluß. Selbst dann, wenn keine Personenschäden zu beklagen sind, werden nach der Gesetzeslage lange Inhaftierungen vorgenommen, die für alle Beteiligten und insbesondere für den Staat große Schädigungen herbeiführen. Jeder Autofahrer weiß, wieviel übertriebene Geschwindigkeitsbegrenzungen z.B. im Autobahnbereich aufgestellt werden, besonders in den neuen Bundesländern verbunden mit vielen Radarfallen, so daß wohl jeder aktiv am Wirtschaftsleben teilnehmende Autofahrer schon einmal in Terminnot geraten ist, was ihm dann mit dem Verlust des Führerscheines für mindestens einen Monat „gedankt“ wurde. Welche staatlichen Selbstschädigungen allein im Verkehrsrecht zu beklagen sind, ist gewiß nicht statistisch erfaßt, es sind hier aber Größenordnungen zu vermuten, die als Verluste in den Haushaltsplänen empfindlich zu Buche schlagen und das Entsprechende gilt für die anderen erwähnten Beispiele von Autoimmunerkrankungen des Staates (Deppert 2011: 165).

Literatur

  • Agamben, Giorgio (2001) Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Freiburg/ Berlin (Kapitel: Souveräne Polizei).
  • Ainslie, Ricardo. Long Dark Road: Bill King and Murder in Jasper, Texas. University of Texas Press, 2004.
  • Brugger, Winfried (2008) Die Würde des Menschen im Licht des anthropologischen Kreuzes der Entscheidung, in: Härle & vogel, 49-94.
  • Deppert, Wolfgang (2011) Einführung in die Wirtschafts- und Unternehmensethik. Eine aufrührerische Vorlesung. WISO-Fakultät, UNI Kiel SS 2011 (unv. Ms.)
  • Fuchs, Thomas (2008) Die Würde des menschlichen Leibes. In: Wilfried Härle, Bernhard Vogel, Hg.: Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten. Freiburg i.Br.: Herder, 202-219.
  • Fuchs, Thomas (2000) Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Gallie, Walter Bryce (1956) Essentially Contested Concepts. In: Proceedings of the Aristotelian Society. 56, 1956: 167–198.
  • Härle, Winfried & Bernhard Vogel, Hg. (2008) Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten. Freiburg: Herder.
  • Herdegen, Matthias (2011) Menschenwürde und Menschenbild des Grundgesetzes, in: Wetz 2011: 256-268.
  • Hoerster, Norbert (2004) Haben Tiere eine Würde? Grundfragen der Tierethik. München: C. H. Beck.
  • Schwendinger, Herman, & Julia Schwendinger (1970) Defenders of order or guardians of human rights? Issues in Criminology 5:123–157.
  • Singer, Peter; Cavalieri, Paola, Hg. (1993) The Great Ape Project: Equality beyond humanity. London: Fourth Estate.
  • Temple-Raston, Dina. A Death in Texas: A Story of Race, Murder, and a Small Town's Struggle for Redemption. Henry Holt and Co., January 6, 2002.
  • Vašek, Markus; Thomas Vašek (2012) Die Sache des Igels. Interview mit Ronald Dworkin. Hohe Luft. Philosophie-Zeitschrift. Heft 4: 28-38.
  • Wetz, Franz Josef (2008) Menschenwürde - eine Illusion? In: Härle & Vogel (2008) 27-48.
  • Wetz, Franz Josef (2005) Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundrechts. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Wetz, Franz Josef (1998) Die Würde des Menschen ist antastbar. Eine Provokation. Stuttgart.

Weblinks

Videos

Zimbardo

Bedingungen, die Würdeverletzungen behindern

Altruismus, Helden. Klare Befehle in Bezug auf die erlaubten Mittel. Maximale Entdeckungs- und Sanktionswahrscheinlichkeit. Reintegrative Beschämung der Täter.