Individuelle Kriminalrückfallprognosen

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Artikel wird erstellt von Ellen Z.

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung betrifft eine geringe Anzahl von Gewalt- und Sexualstraftätern, die sich nach der offiziellen Haftstrafe und nach der Sicherungsverwahrung weiterhin und wegen ihrer Gefährlichkeit in Haft befinden. Es handelt sich um die Ultissima-ratio-Sanktion des deutschen Strafrechts, die höchst selten angeordnet wird. Eine nachträglich angeordnete Verwahrung ist sowohl aus rechtsstaatlicher als auch aus ethischer Sicht bedenklich: Sie verstößt gegen Menschen- und Grundrechte (vgl. EGMR-Urteil vom 17. 12. 2009). Zum anderen ist die Begründung für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung – die Gefährlichkeit des Täters hätte sich nachträglich ergeben – weder wissenschaftlich noch strafrechtlich haltbar.

Rechtsgrundlagen

Die Kriminalprognostik hat durch die Gesetzesnovellierung vom 26. 01. 1998 – nämlich durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen Straftaten § 454 (2) StPO i. V. mit § 66 (3) StGB – an Bedeutung gewonnen. Daraus folgend haben Kriminalprognosen im deutschen Strafrecht für den Jugend-, Straf- und Maßregelvollzug und für die Auswahl sowie für die Bemessung von strafrechtlichen Sanktionen (Sicherung und Maßnahmen) weitreichende Folgen: Sie steuern die Modalitäten des Vollzugs (z. B. Lockerungsentscheidungen) und den Zeitpunkt ihrer Beendigung (z. B. Entlassungen), indem sie zukünftige Gefährlichkeits- bzw. Rückfälligkeitsrisiken bei Gewalt- und Sexualdelikten nach der Entlassung von Straftätern oder bei Lockerungsmaßnahmen während des Vollzugs begutachten und einschätzen.

Kriminalprognosen sind nicht irrtumsfrei. So sind strafrechtliche Entscheidungen auf der Grundlage von Prognosen stets auch Risikoentscheidungen, die im Falle der Anordnung einer strafrechtlichen Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus (§ 63 StGB) oder der Anordnung der Sicherungsverwahrung (§§ 66 ff. StGB) gravierende Eingriffe in Grund- und Menschenrechte sind. Für die davon Betroffenen können diese strafrechtlichen Anordnungen, die auf der Basis von Erwartungen an ihre zukünftigen Verhaltensweisen getroffen werden, einen lebenslangen Freiheitsentzug bedeuten. Manche Gutachten sind gesetzlich vorgeschrieben, andere stehen im Ermessen der Gerichte. So ist zum Beispiel für die „Ablehnung der Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung ein Gutachten nicht vorgeschrieben [...], obwohl sich daran viele Jahre weiterer Freiheitsentzug anschließen können“ (Nedopil 2005: 19).

Phänomen (Gemein-)Gefährlichkeit

Kriminalprognosen im Rahmen strafrechtlicher Anordnungen zur (nachträglichen) Sicherungsverwahrung setzen sich mit der (Gemein-)Gefährlichkeit von Rechtsbrechern auseinander (geregelt in den §§ 306–323c StGB; beim Jugendstrafverfahrens entfällt § 316a). Im Gegensatz zur Gemeingefahr, die nach ihrer Wirkung beurteilt wird und „ein Zustand“ [...] ist, „der die Verletzung von Rechtsgütern [...] in einem nicht zum voraus bestimmten und abgegrenzten Umfang wahrscheinlich macht [...]“ (Sollberger 2000: 19) – wie z. B. bei der Brandstiftung –, geht es bei der (Gemein-)Gefährlichkeit um die Gefahr, die in einer Person begründet liegt. Die gemeingefährliche Tat ist also nicht losgelöst von der Person des Täters, so wie es bei der Tat, die eine Gemeingefahr darstellt, der Fall ist. Wenn es um die Gemeingefahr geht, gibt es eine Reihe von technischen Sicherheitsvorkehrungen, z. B. Brandlöschgeräte. Geht es um die Gefahr, die in der Persönlichkeit einer Person begründet ist, stoßen Sachverständige in der Beurteilung von Menschen an Grenzen, die aus ihrer Persönlichkeit heraus Rechtsgüter und andere Menschen in Gefahr bringen, zerstören und vernichten. Auch Ultissima-ratio-Sanktionen, welche den lebenslangen Ausschluss oder die totale Überwachung von Tätern zur Folge haben, machen diesen Umstand nicht leichter: 1. Vorhersagen und das Vorhersehen einer möglichen zukünftigen Tat sind zuweilen mit geringer Treffsicherheit verbunden. 2. Öffentlich aufgebaute Erwartungshaltungen an die totale Sicherheit erhöhen zwar den Druck auf die Gerichte und dennoch können sie diesen nicht umfassend gerecht werden. Die Gerichte haben den Auftrag, sich zunächst im konkreten Fall mit den Tätern und den Taten auseinanderzusetzen, und im Prozess der Urteilsbildung haben sie den Schutz der Gesellschaft einzubeziehen. Schlussendlich soll der Urteilsspruch dafür Sorge tragen, Rechtsbrecher vor weiteren Gefährdungen anderer abzuhalten.

Bei dem Begriff Gemeingefährlichkeit handelt es sich um ein dynamisch-soziales Konstrukt, wie manche postulieren. Entsprechend dynamisch sind Prognosegrundlagenforschungen, die Anforderungen an Prognosemethoden und an die forensischen Prognostiker, die sich im Übrigen einig sind, dass es sich bei der „Gefährlichkeit“ zwar um das Resultat einer umfassenden Kriminalprognose handelt, jedoch um keinen medizinischen Befund und um keine dem Täter innewohnende Eigenschaft. Gefährlichkeit ist „[...] das Ergebnis eines komplexen Zusammenwirkens von Persönlichkeitsmerkmalen, Lebensumständen und Umweltbedingungen“ (Saluz 2000: 259).

Anforderungen an Prognostiker und Prognoseverfahren

Prognostiker sind Sachverständige aus den Fachgebieten der psychiatrischen- bzw. psychologischen Forensik. Sie sollen Richter nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundesgerichtshofs (BGH) in ihren Entscheidungen beraten und ihnen Fachwissen vermitteln, wodurch diese in die Lage versetzt werden, eigene normative Entscheidungen – ohne Bindungswirkung an die jeweiligen Gutachter und Gutachten – zu fällen.

Kriminalrückfallprognosen sollen transparent, nachvollziehbar und reproduzierbar sein. Die Gutachten müssen sich zur Frage äußern, ob und welche Gefahr bei den zu Begutachtenden besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht (vgl. Prognosegüte). Sie „[...] hängen aber nicht nur von der klinisch-praktischen Erfahrung des forensischen Sachverständigen und von der Gutachtenerstellung ab, sondern wesentlich auch von der Berücksichtigung empirisch gesicherter Grundlagen der Rückfallforschung und der [...] Rückfallstatistik“ (Egg 2003: 10). Eine Vielzahl der heute zur Verfügung stehenden Prognosemethoden und -instrumente (u. a. SVR-20, PCL-R, MIVEA) zur Einschätzung individueller Rückfallrisiken von (sexueller) Gewalt wurden in den letzten zehn Jahren in Kanada, aber auch in Deutschland entwickelt. Sie beruhen auf zwei methodischen Grundlagen: dem 1. statistisch-aktuarischen Prognoseverfahren, bei dem es um die Einschätzung der statistischen Rückfallwahrscheinlichkeit geht und dem 2. klinisch-idiographischen Prognoseverfahren, bei dem es um ein auf den Einzelfall zugeschnittenes Erklärungsmodell für die Anlasstat und ihre Hintergründe geht.

Im englischsprachigen Raum wird das statistisch-aktuarische Prognoseverfahren favorisiert, das auf empirisch gesicherten Risikofaktoren beruht. Das deutsche Strafrecht hingegen verbietet die alleinige Anwendung dieses Verfahrens und fordert eine auf den Einzelfall zugeschnittene Kriminalrückfallprognose. Die Erwartungen an Kriminalprognosen werden in § 57 StGB formuliert, die in Gesetzesvorschriften der Rechtssprechung präzisiert werden: Prognostiker werden darin aufgefordert, sich mit der Vorgeschichte des Täters, der Anlasstat, seiner Persönlichkeitsentwicklung, seinen sozialen Netzwerken und Zukunftsperspektiven auseinanderzusetzen. Im Weiteren sollen sie die Ursachen und Dynamiken von Straftaten herausarbeiten und die Entwicklung der jeweiligen Täter während der Inhaftierung bzw. Unterbringung darlegen. Auf dieser Basis sollen schließlich Wahrscheinlichkeitsaussagen über bestehende Rückfallrisiken getroffen werden.

Obwohl sich das statistisch-aktuarische Prognoseverfahren international verbreitet hat, werden seit Jahrzehnten in Deutschland Debatten um den Wert von statistisch-aktuarischen und klinisch-idographischen Prognosen geführt. Da sich statistische Aussagen nicht unmittelbar auf den Einzelfall anwenden lassen, wird ausdrücklich empfohlen, die beiden Verfahren miteinander zu kombinieren.

Prognosechecklisten

Zur Bestimmung der individuellen Gefährlichkeit eines Rechtsbrechers sind Risiko- bzw. Prognosechecklisten (siehe Nedopil 1992, 1995, 2000, Rasch 1999, Webster et al.1997) auf der Basis von statistischen und klinischen Erfahrungen entwickelt worden. Sie sind zwar den erwähnten Prognoseverfahren nicht eindeutig zuzuordnen, bauen aber Brücken zwischen ihnen. Einige Ansätze verkürzen die Merkmalsbereiche und bevorzugen eine quantifizierende Bewertung, um zu einem Risiko-Quotienten zu gelangen, aufgrund dessen der Grad der Psychopathy eingeschätzt werden soll. Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei den Punktemargen des Cut-off-Wert-Instrumentariums um subjektive Festlegungen der Erfinder handelt. Ein umsichtiger Umgang mit dieser Konstruktion ist infolgedessen ratsam. Andere Ansätze verzichten auf den Cut-off-Wert und erweitern den Kriterienkatalog. Im deutschsprachigen Raum hat sich die sogenannte „Dittmannliste“ verbreitet, die auf der Basis eines breiten Spektrums von Merkmalsbereichen sowohl günstige als auch ungünstige Risiko- und Schutzmerkmale bewertet. Analysiert werden Anlasstat, bisherige Kriminalitätsentwicklung, Persönlichkeit und psychische Störung, Einsicht des Täters in seine Störung, soziale Kompetenz, spezifisches Konfliktverhalten, Auseinandersetzung mit der Tat, allgemeine und reale Therapiemöglichkeiten und -bereitschaft, soziale Netzwerke und Strukturen, bisheriger Verlauf nach der Tat. Unter optimalen Bedingungen schätzt Dittmann die Erfolgstrefferquote auf 90 %, wobei er auf den Begriff „optimale Bedingungen“ nicht näher eingeht und die Frage, wann Gutachter unter optimalen Bedingungen arbeiten, weitestgehend offen lässt.

Prognosegüte

Nicht nur, dass Kriminalprognosen in einem gut lesbaren Schreibstil verfasst werden sollten, wesentlichere Mindestanforderungen wurden unlängst von Psychiatern, Psychologen und Juristen vorgestellt. Dieser Katalog umfasst die Übersetzung relevanter Rechtsbegriffe in diagnostisch handhabbare Konstrukte, die nachgewiesene Validität der Methode(n), den systematischen Einbezug wissenschaftlich gesicherter Kenntnisse und eine individuelle Beurteilung. Die Anforderung an die Übersetzung relevanter Rechtsbegriffe basiert auf der Fülle juristischer Formulierungen in den meisten Gesetzestexten, so z. B. in § 454 II StPO mit der Frage nach dem zukünftigen Rückfallrisiko „[...], dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht [...]“. Konkrete Prognosegütekriterien sind: die Würdigung der bisherigen Biografie, die Auseinandersetzung mit der gesamten Vorgeschichte, persönliche Explorationen, aktuelle Befunde über physische, neurologische Untersuchungen, transparente Darstellungen der Rückfallrisiken, die Herausarbeitung von statischen wie dynamischen Risikoaspekten, Maßnahmen, die das Rückfallrisiko beeinflussen bzw. minimieren könnten, der genaue Zeitraum, auf den sich die Begutachtung bezieht.

Die Berliner CRIME-Studie nimmt ausführlich zur Frage nach der Prognosegüte Stellung, besonders im Vergleich zu statistisch-aktuarischen Prognoseverfahren.

Prognoseproblematiken und Kritik

Menschen unterscheiden sich in der Wahrnehmung von Dingen und in ihrer Interpretation. Vor allem unterscheiden sie sich darin, welche Bedeutung sie den Dingen zumessen. Menschliches Verhalten lässt sich nicht standardisieren, es wird multikonditional bestimmt und behält sich Handlungsspielräume und -alternativen vor. Wie sollen also unter diesen Umständen seriöse Prognostiker von einem Zeitpunkt X alle zukünftigen Bedingungen jemals vorhersehen können? Hinzu kommt, dass für eine Prognoseerstellung Kenntnisse über individuelle Handlungstheorien des menschlichen Verhaltens zwar vorausgesetzt sind, die Psychologie hierzu aber keine einheitliche Handlungstheorie anbietet. Das Problem der Prognoseunsicherheit im zeitlichen Verlauf auf einer geringen Datenbasis ist nicht minder ein Mangel im Hinblick auf das Ziel: Treffsicherheit! Das aber wird vom Strafrecht eingefordert, was Juristen wie Gutachter gleichermaßen herausfordert.

Ein weiteres Problem ist, dass der Erwartung des Gesetzgebers an die Prognostiker, die (Verhaltens-)Entwicklung des Täters / der Täter während der Inhaftierung bzw. Unterbringung zu evaluieren, häufig eine zu große prognostische Bedeutung zugemessen wird. In diesem Zusammenhang ist auf die künstliche Diziplinarwelt einer Anstalt hinzuweisen und die Annahme kriminologisch zurückzuweisen, dass sich eine Prognosesicherheit in Bezug auf die Einschätzung der Rückfallentwicklung und -gefährdung am Ende des Vollzugs ergibt, denn: „Die Situation des Vollzugs ist vielmehr eine Kunstwelt, die keine Verhaltensprognosen bezüglich des Verhaltens außerhalb ihrer selbst erlaubt“ (Graebsch 2009: S. 732). Auch der Gedanke, dass sich „eine Gefährlichkeit eines Straftäters erst während des Strafvollzugs herausstellen könnte, geht [...] weit an der prognostischen Realität vorbei“ (Leygraf 2008: 489). Kriminalprognosen mit Blick auf das zukünftig zu erwartete Verhalten sollten sich von daher weniger auf Kriterien des Vollzugsverhaltens und mehr auf den Umgang mit Konflikt- und Belastungssituationen außerhalb dieser Kunstwelt konzentrieren (z. B. im Rahmen von Lockerungsmaßnahmen). Die Betroffenen könnten so aus ihren eigenen Fehlern lernen und ihre Lernfortschritte selbst evaluieren. Andererseits ist mit der Theorien- und Hypothesenbildung am Anfang der Inhaftierung zu beginnen, um sie im Laufe des Vollzugs zu überprüfen, zu ergänzen bzw. zu erneuern. Auch wäre es sinnvoll, die Qualitätsstandards von therapeutisch-psychologischen und (sozial-)pädagogischen Angeboten von Strafanstalten zu überprüfen, vor allem, wie sie den zu Begutachtenden unterbreitet werden und warum sie diese in Anspruch nehmen oder auch nicht. Im Übrigen lässt sich die individuelle Kooperationsbereitschaft, die Stressstabilität usw. kaum umfassend einschätzen, ohne eine Beschreibung der sozialen Vorgänge im Mikro- und Makrogeflecht einer Justizvollzugsanstalt und ohne eine (Auf-)Klärung von Stigmatisierungsprozessen.

Problematisch sind auch Kriminalprognosen, bei denen zwar ein günstiger Verlauf vorausgesagt wird, die Betroffenen jedoch rückfällig werden („falsch Negative“). Diese Fälle geraten meist schnell in das Blickfeld der Öffentlichkeit und der medialen Wahrnehmung. Sie beeinflussen im Gegensatz dazu die Fälle, über die fälschlicherweise eine negative Prognose gestellt wurde und sich die Betroffenen weiterhin in Haft, in Verwahrung oder in einer psychiatrischen Einrichtung befinden („falsch Positive“). Dieser Umstand verdeutlicht eine weitere Problematik: Wer übernimmt die moralisch-politische Verantwortung darüber, wie groß das Feld der „falsch Negativen“ bzw. das Feld der „falsch Positiven“ ist. Wer klärt darüber auf, warum das eine mit dem anderen zusammenhängt und wie damit umgegangen wird? Letztendlich fällen die Richter das Urteil, und ihnen muss der Schutz der Gesellschaft ein Anliegen sein. Demgemäß berücksichtigen Urteilssprüche sowohl gesellschaftliche als auch – bedingt dadurch – kriminalpolitische Anliegen. Sollte es demzufolge nicht das Ziel sein, das Feld der „falsch Negativen“ zu minimieren, gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sich das Feld der „falsch Positiven“ nicht unsachgemäß erhöht, auch wenn das der pragmatischere Weg sein sollte, weil „falsch Positive“ problemloser – da medien- und öffentlichkeitsunwirksam – exkludiert und in die nachträgliche Sicherungsverwahrung verbannt werden können? Diese Frage hat sich durch das EGMR-Urteil zunächst einmal erledigt. Nicht erledigt hat sich allerdings die Frage nach der Verantwortung, denn durch das Urteil präsentiert sich ein neuer Problemkomplex: Nachträglich Verwahrte werden sichtbar, die Kriminalitätsfurcht in der Bevölkerung nimmt zu, Kontrollinstanzen stehen vor schwierigen Aufgaben und die Kriminalpolitik muss handeln in Bezug auf Fragen wie, wohin und im Rahmen von welchen Kontrollmaßnahmen können nachträglich Sicherungsverwahrte entlassen werden? Wäre jetzt nicht die Gelegenheit, vorliegende Kriminalprognosen von Betroffenen noch einmal zu überprüfen, um den möglicherweise zu Unrecht Verwahrten reale Resozialisierungschancen zu ermöglichen? Unter den Gesichtspunkten, dass die öffentliche Meinungsbildung ihrer eigenen Logik und Wahrheitsfindung folgt, sachliche Differenzierung erst nach und nach einsetzt – wie im Fall Dominik Brunner oder im Fall Jörg Kachelmann – und dass auch ein Rechtssystem und -bewusstsein über Fehler und Schwächen dazulernt, müssten sich doch Mutige aus Wissenschaft, Justiz und der Kriminalpolitik finden lassen.

Resümee

Kriminalrückfallprognosen sind Wahrscheinlichkeitsaussagen über zukünftiges menschliches Verhalten und nicht bindende Empfehlungen für die Richter. Sie stellen erhebliche fachliche wie menschliche Anforderungen an die Gutachter. Man bedenke: kontroverse Vorhersagen über gewalttätiges Verhalten, die große Anzahl potenzieller Motive von Rechtsbrechern, eine Vielfalt von Prognosemethoden und -instrumenten, geringe Basisraten, Dunkelfeldproblematiken, öffentlichkeits- und medienwirksame Zwischenfälle aus dem Vollzug oder aus anderen Maßnahmen, der Zwangscharakter einer Begutachtungssituation, die Frage nach der Kooperationsbereitschaft, die Tendenz, Rückfallrisiken zu überschätzen, Stigmatisierungen, mangelndes kriminologisches Basiswissen bei den Sachverständigen. Es liegt in der Natur der Dinge, dass Kriminalprognosen keine einfachen Ja-Nein-Aussagen zur Folge haben können, sondern dass es sich um komplexe Risikoprofile handelt, welche die zu entscheidenden Richter im Prozess ihrer Urteilsbildung zur Frage nach dem Fortbestehen von Taten und dem zukünftigen Rückfallrisiko unterstützen sollen. Im Übrigen wird mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit die Bedingung, dass Wissen sicher sein muss, ausdrücklich aufgegeben.

Dennoch: Die „Macht“ von Kriminalprognosen ist nicht zu unterschätzen! Indem auf der Basis eines hoch entwickelten Prognoseinstrumentariums Wahrscheinlichkeitsaussagen getroffen werden, legen sich Prognostiker informell und zwischen den Zeilen fest. Somit sind sie nicht ohne Einfluss auf den Prozess der richterlichen Urteilsbildung. Aber sie sind ohne Einfluss auf die strafrechtlichen Bedingungen und auf die Bedingungen des Strafvollzugs, unter denen begutachtet wird.

Literatur

  • Dahle, K.-P. (2009): Grundlagen der Kriminalprognose, in: Gutachten im Jugendstrafverfahren, Landesgruppe Baden-Württemberg in der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. (DVJJ), Heidelberg: 51–63.
  • Dahle, K.-P. (2008): Kriminalprognosen und Strafrecht, in: Volbert, Steller (Hrsg.): Handbuch der Rechtspsychologie, Göttingen: 444–452.
  • Dittmann, V. (2000): Was kann Kriminalprognose leisten?, in: Bauhofer, Bolle, Dittmann: Gemeingefährliche Straftäter, Chur / Zürich: 67–82.
  • Egg, R. (2003): Zur Rückfälligkeit von Sexualstraftätern, in: Osterheider (Hrsg.): 17. Eickelborner Fachtagung: Wie sicher kann Prognose sein? Therapie, Prognose und Sicherheit im Maßregelvollzug, Dortmund: 8–21.
  • Graebsch, C. (2009): Der Gesetzgeber als gefährlicher Wiederholungstäter. Empirische Erkenntnis über Kriminalprävention und Kriminalprognose im Recht der Sicherungsverwahrung sowie bei der ausländerrechtlichen Ausweisung, in: Müller, H. E. / Sander, G. M. / Válkova, H. Hg.): Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag, München: 725–740.
  • Leygraf, N. (2008): Die Begutachtung der Gefährlichkeitsprognose, in: Venzlaff, Foerster (Hrsg.): Psychiatrische Begutachtung, München: 483–497.
  • Nedopil, N. (2005): Prognosen in der Forensischen Psychiatrie. Ein Handbuch für die Praxis, Lengerich.
  • Saluz, E. (2000): Verteidigung von gemeingefährlichen Straftätern – Dienst am Recht oder Störfaktor?, in: Bauhofer, Bolle, Dittmann: Gemeingefährliche Straftäter, Chur / Zürich: 257–269.
  • Sollberger, J. (2000): Gemeingefährlichkeit – Versuch der emotionslosen Annäherung an einen Begriff, in: Bauhofer, Bolle, Dittmann: Gemeingefährliche Straftäter, Chur / Zürich: 13-33.

Weblinks

[Berliner CRIME-Studie: http://www.forensik-berlin.de/forschung/crime1.html]