Prognose

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von V.K.

(under construction)

"Prognosen sind schwierig,
besonders wenn sie die Zukunft betreffen"

(Nils Bohr, Physiker)


Etymologie

Prognose w "Vorhersage einer zukünftigen Entwicklung auf Grund kritischer Beurteilung des Gegenwärtigen": Im 18./19. Jh. aus gr. prógnôsis "das Vorherwissen" entlehnt. Zu gr. pro-gignôskein "im voraus erkennen" Von den zahlreichen zum Stamm von gr. gi-gnô-skein gebildeten Substantiven ist gr. gnômôn "Kenner, Beurteiler; Richtschnur" von besonderem Interesse, weil es wahrscheinlich die Quelle ist für lat. nôrma "Richtschnur, Regel".


Definition

Prognose (engl.: prediction) Voraussage, Vorhersage, dass unter bestimmten Bedingungen bestimmte Ereignisse in einem bestimmten Zeitraum eintreten werden. Die Basis der Prognose kann unterschiedlicher Art sein. So finden sich Extrapolationen beobachteter Trends wie auch Prognosen in Form deduktiv-nomologischer Erklärungen auf der Grundlage von Gesetzesaussagen. In der methodologischen Diskussion werden insbesondere die Beziehungen zwischen Prognose, Retrodiktion und Erklärung eines Sachverhalts untersucht. In den Sozialwissenschaften ergeben sich besondere Probleme daraus, dass Menschen auf Prognosen reagieren und sie damit u. U. ungültig werden lassen können. In anderen Fällen kann das Aufstellen der Prognose selbst Ursache für den Eintritt des vorausgesagten Ereignisses werden (self-fulfilling prophecy).
Der Begriff der Prognose selbst ist zunächst kein wissenschaftlicher Terminus und findet sich in alltäglichen Situationen und unterschiedlichen Formen wieder à Wettervorhersagen, ärztliche Diagnosen, Wahlprognosen, Börsentipps etc.
Im kriminologischen Kontext spricht man juristisch korrekt von der "Kriminalprognose" oder ganz allgemein von "Prognose". Synonym werden auch die Begriffe "Legalprognose" oder "Sozialprognose" verwandt. Spezialfälle stellen die "Lockerungs- und Entlassungsprognosen" dar.


Benutzung des Begriffes in der Vergangenheit

Die Frage, ob bzw. wie sich menschliches Verhalten vorhersagen lässt, ist seit je her von kriminologischem Interesse. Gerichte haben über den Verbleib von Rechtsbrechern zu entscheiden und benötigen dazu möglichst empirisches Wissen über das zukünftige Legalverhalten.
In Deutschland wurde die Frage nach der Kriminalprognose erst 1933 mit der Aufnahme des Maßregelvollzuges in das Strafgesetzbuch aufgeworfen. Fortan überließ man es den Psychiatern, sich diesem Problem zu widmen. Die Einschätzung des Risikos künftiger Delinquenz ist solch ein sensibler Bereich, dass man ihn geschulten Experten überlassen wollte.
Ursprünglich war es Aufgabe der Juristen sich dieser Frage zu widmen -beispielsweise, wenn sie eine bedingte Entlassung aus der Haftanstalt erwirken wollten. Aus diesem Grund entstanden die ersten Kriterienkataloge, anhand derer die Entscheidung über eine Kriminalprognose erleichtert werden sollte, durch soziologisch orientierte Kriminologen und Rechtswissenschaftler. Während die erste deutsche Prognosetafel 1936 von Schiedt entwickelt wurde, war in den USA bereits 1928 von Burgess eine der ersten Merkmalssammlungen veröffentlicht worden.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurden bis in die siebziger Jahre große Datenmengen analysiert um rückfällige Straftäter zu charakterisieren. Derartige Kriteriensammlungen wurden bis heute ergänzt oder wieder neu entwickelt und nehmen ganz unterschiedliche Umfänge an. Sie reichen von drei Merkmalen, nämlich "Bettnässen", "Tierquälerei" und "Brandlegung" bis zu Merkmalslisten mit mehr als 80 Items.
Auch werden unterschiedliche Verfahren empfohlen, wie der Gutachter zur Prognoseentscheidung kommen soll. Diese reichen von der Berechnung einfacher Summenscores bis zur Entwicklung komplexer mathematischer Algorithmen.


Zusammenhänge mit anderen Begriffen

Maßregeln der Besserung und Sicherung, Strafvollzug, Kriterienkataloge, Prädiktoren, Prognosemethoden, Gefährlichkeit, Rückfallwahrscheinlichkeit


Zusammenhänge in der materiellen Realität

Im Allgemeinen spricht man in der gängigen Literatur von drei verschiedenen Methoden der Prognoseerstellung: Die intuitive, die statistische und die klinische Prognose. Der Prognostiker versucht anhand des Verhaltens des Probanden in der Vergangenheit und Gegenwart, sowie der Kenntnis der Prädiktoren, mit Hilfe von Erfahrungswissen zu beurteilen, ob der Proband noch gefährlich oder rückfallgefährdet ist. Am Ende der jeweiligen Prognose muss eine Entscheidung stehen: z.B. Straf(rest)aussetzung bzw. Lockerung oder der Erhalt des "Status quo".
Gretenkord gibt an, dass in der deutschen Strafrechtspflege die Kontroverse, welche Prognosemethode die überlegene ist, allem Anschein nach zugunsten der klinischen Methode entschieden sei.
Intuitive Methode à Bei der intuitiven Methode kommt es in erster Linie auf die individualprognostische Erfahrung des Gutachters an. Es wird nicht deutlich, durch welche Faktoren in welcher Gewichtung die Entscheidung herbeigeführt wird. Die Beurteilungsgesichtspunkte bleiben weitestgehend dem subjektiven Empfinden des Prognostikers überlassen. Entsprechend ist dieser Ansatz methodisch umstritten und macht die Darstellung als "Methode" wegen der unklaren Konsistenz schwierig.
Statistische Methode à Bei der Methode der statistischen Prognoseerstellung werden verschiedene objektiv feststellbare Merkmale mit der Begehung rechtswidriger Taten in Beziehung gesetzt. Die Kumulation verschiedener relevanter Variablen wirkt dabei auf das Auftreten des strafbaren Verhaltens. Durch die Gewichtung der Merkmale durch Punktzahlen wurde dieses Instrument verfeinert, sodass anhand einer solchen Prognosetafel eine bessere Einschätzung erfolgen kann. à Durch die Offenlegung der gewichteten Variablen ist eine verbesserteTransparenz und somit Überprüfbarkeit der Methode gewährleistet. à Statistische Prognoseentscheidungen werden in ihrer Gesamtheit gesehen, sodass Treffsicherheit und Fehler systematischer beurteilt werden können (Abkehr vom Einzelfall).
Beispiel eines gängigen statistischen Prognoseinstrumentes à HCR-20 (Historical Clinical Risk Assessment) à Der HCR-20 ist ein Prognoseinstrument zur Vorhersage gewalttätigen Verhaltens. Er wurde 1995 von der amerikanischen Arbeitsgruppe um Webster und Eaves entwickelt. Klinische Methode à Als klinische Methode bezeichnet Volckart die Untersuchung des Probanden mit "...den Mitteln der persönlichen und sozialen Anamnese, der Erhebung des psychologischen und evtl. psychiatrischen Befundes, der körperlichen und insbesondere der neurologischen Untersuchung, der psychologischen Untersuchung und des Aktenstudiums..." à erinnert stark an die intuitive Methode (Erfahrungswissen, Beobachtungen, Fachliteratur etc.), wird aber durch die Verwendung von Kriterienlisten gestützt. à im Gegensatz zur statistischen Methode werden die einzelnen Kriterien nicht mit Zahlenwerten versehen und gewichtet, sondern erhalten die Ausprägung "günstig" oder "ungünstig". Erst in der Gesamtschau ergibt sich der prognostische Schluss.
Beispiel eines gebräuchlichen klinischen Prognoseinstrumentes à Dittmann-Kriterienliste àDiese Kriterienliste ist als Orientierungshilfe zur Beurteilung des Rückfallrisikos zu verstehen, die eine möglichst systematische Fallanalyse unter Berücksichtigung wesentlicher Aspekte gewährleistet.


Kriminologische Relevanz

In den letzten Jahrzehnten hat das wissenschaftliche Interesse an den kausalen Bedingungen von Kriminalität, insbesondere der Rückfallkriminalität, stark zugenommen. Obwohl man zunächst die Möglichkeit der Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens stark bezweifelte, ist man inzwischen der Ansicht, dass es durchaus denkbar ist, unter Berücksichtigung einer gewissen Irrtumswahrscheinlichkeit, "Gefährlichkeitsaussagen" zu machen. Dazu haben sicherlich die Präzisierung der Prognoseinstrumente und die Transparenz der Entscheidungsfindung in nicht unerheblichem Maße beigetragen.
Vorhersagen menschlichen Verhaltens werden benötigt bei à der Verhängung von Maßregeln (§§ 63, 64, 66 StGB), bei der Aussetzung dieser Maßregeln wie auch des Strafrestes zur Bewährung (§§ 57 und 67 StGB) sowie bei der Gewährung von Vollzugslockerungen im Strafvollzug (§ 11 StVollzG).
Bis vor kurzem war das Sachverständigengutachten nur für Gefangene mit lebenslanger Freiheitsstrafe (vor der Strafaussetzung zur Bewährung) zwingend erforderlich (§ 454 StPO). Doch mit der Änderung des "Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten" vom Januar 1998, wird nun auch für die zu mehr als zwei Jahren Freiheitsentzug Verurteilten aus diesem Täterkreis, vor der Aussetzung des Strafrestes, die Einholung eines Sachverständigengutachtens zwingend vorgeschrieben. So wird in Bayern im Strafvollzug bei "groben Gewalttätern" vor der Gewährung von Lockerungen die Begutachtung verlangt und bei Sexualtätern und zu lebenslanger Haft Verurteilten ist die Begutachtung sogar durch externe Sachverständige vorgeschrieben à "Befangenheitsproblem": Therapeut als Gutachter.


Literaturangaben

  • Der große Duden, Band 7: "Herkunftswörterbuch -Die Etymologie der deutschen Sprache", Mannheim, 1963
  • Endres, Johann: "Die Kriminalprognose im Strafvollzug: Grundlagen, Methoden und Probleme der Vorhersage von Straftaten", in: ZfStrVo 2/00
  • Fuchs, W., Klima, R., Lautmann, R., Rammstedt, O., Wienold, H. (Hrsg.): "Lexikon zur Soziologie", Darmstadt, 1988
  • Gretenkord, Lutz: "Empirisch fundierte Prognosestellung im Maßregelvollzug nach § 63 StGB, Bonn, 2001
  • Henner Hess, Terrorismus: Quo vadis? Kurzfristige Prognosen und mittelfristige Orientierungen, in Uwe E. Kemmesies (Hg.), Terrorismus und Extremismus - der Zukunft auf der Spur. München: Luchterhand 2006, 105-150
  • Jöckel, Dieter: "HCR-20: Ein Prognoseschema zur Vorhersage gewalttätigen Verhaltens" in: Müller-Isberner, Rüdiger und Gonzalez Cabeza, Sara (Hrsg.): Forensische Psychiatrie -Schuldfähigkeit, Kriminaltherapie, Kriminalprognose, Mönchengladbach, 1998
  • Nedopil, Norbert: "Forensische Psychiatrie -Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Psychiatrie und Recht", Stuttgart, New York, 2000
  • Schumann, Karl F.: "Prognosen im Strafrecht -Probleme der Methodologie und Legitimation", in: Recht und Psychiatrie 1989, 7. Jg.
  • Schumann, Karl F.: "Prognosen in der strafrechtlichen Praxis und deren empirische Grundlagen", in: Frisch, Wolfgang und Vogt, Thomas (Hrsg.): Prognoseentscheidungen in der strafrechtlichen Praxis, Baden Baden, 1994
  • Volckart, Bernd: "Praxis der Kriminalprognose -Methodologie und Rechtsanwendung", München,1997