MIVEA

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MIVEA steht für die Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse, einem Verfahren zur Erstellung von Kriminalprognosen. Die Anwendung der Methode setzt keine medizinischen oder psychologischen Fachkenntnisse voraus. Sie kann in allen Phasen des Strafverfahrens von Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten, Jugendgerichtshelfern und von Mitarbeitern des Strafvollzuges wie auch Bewährungshelfern genutzt werden. Außerdem lässt sie sich auch in Jugendhilfe, Erziehungsberatung und in der Familiengerichtshilfe verwenden.

Wissenschaftliche Grundlage

Die MIVEA entstand unter der Federführung von Hans Göppinger und unter Mitarbeit von Michael Bock und anderen im Rahmen einer qualitativen Zweitauswertung der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung (TJVU), der bislang aufwendigsten deutschen kriminologischen Vergleichsuntersuchung. Die TVJU wurde 1965 begonnen, die letzten Nachuntersuchungen erfolgten 1995. Außerdem legten Wolfgang Stellny und Jürgen Thomas 2001 einen Vergleich der TVJU mit angloamerikanischen Langzeitstudien vor, wobei sich keine relevanten Abweichungen zeigten.

Bei der TVJU wurde eine Häftlingsstichprobe mit 200 männlichen Strafgefangenen einer ebenso großen Vergleichsgruppe gegenübergestellt, um Differenzen in Sozialverhalten und Lebenszuschnitt zu erfassen und zu systematisieren. In der quantitativen Zweitauswertung wurden aus dem umfänglichen Material der 400 Einzelfalldarstellungen idealtypische Verhaltensweisen und Verlaufsformen für kriminovalentes und kriminoresistentes Handeln destilliert. Die Arbeit mit Idealtypen lehnt sich methodisch an Max Weber an.

Der Begriff Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse wurde erstmals 1985 von Hans Göppinger in seinem Buch Angewandte Kriminologie verwandt, das Kürzel MIVEA wurde von Michael Bock erfunden, der die Methode im Laufe der Jahre behutsam aktualisierte, ohne von ihrer Kernstruktur abzuweichen.

Die MIVEA ist ausdrücklich eine Methode zur Untersuchung von Einzelfällen und versteht sich nicht als Theorie zur Erklärung von Kriminalitätsursachen. Inhaltliche Übereinstimmung besteht am ehesten mit den kriminologischen Bindungstheorien.

Menschenbild

Im Gegesatz zu fast allen Kriminalitätstheorien geht die MIVEA vom Menschen als einem eigenverantwortlichen, zur Selbstbestimmung fähigen Individuum aus. Er ist nicht (wie eine Reaktionsmaschine) natürlichen oder kulturellen Umständen hilflos ausgeliefert. Er muss und kann stets entscheiden, wie er sich gegenüber (auch sehr ungünstigen) Daseinsbedingungen verhält. Anlage- oder umweltbedingtes automatisches kriminelles Verhalten wird von den Vetretern der MIVEA bestritten. Wäre es anders, müssten ja alle Menschen, die beispielsweise quälenden Erziehungsbedingungen ausgesetzt waren, deviantes Verhalten zeigen.

Vorgehen

In einer multidimensionalen Vorgehensweise folgen auf eine Lebenslängsschnittanalyse die Lebensquerschnittanalyse und eine Interpretation von Relevanzbezügen und Wertorientierungen. Schließlich werden unter den Besonderen Aspekten noch Stärken und Schwächen des Probanden beleuchtet, die von der Methodik sonst nicht genügend beleuchtet würden.

Längsschnittanalyse

Für die Lebenslängsschnittanalyse wurden ganze Staffeln von Verhaltensweisen (in den Feldern: Verhalten gegenüber der elterlichen Erziehung, Aufenthaltsbereich, Leistungsbereich, Freizeitbereich, Kontaktbereich sowie Delinquenzbereich) formuliert, in denen das (einerseits kriminovalente und andererseits kriminoresistente) Verhalten beschrieben wird. Dabei sind die idealtypischen Verhaltensweisen stets als unüberschreitbare Außenpunkte eines Möglichkeitsraumes zu betrachten. Innerhalb dieses gedachten Möglichkeitsraumes wird dann das Verhalten des Probanden in den einzelnen Bereichen jeweils verortet. Eine in vielen Bereichen über längere Zeiträume erkennbare Nähe zu den kriminovalenten Außenpolen (in der MIVEA-Terminologie: K-idealtypischen Verhaltensweisen) deutet auf eine erhöhte Kriminalitätsgefährdung beziehungsweise auf hohe Rückfallwahrscheinlichkeit.

Querschnittanalyse

Um zu überprüfen, ob sich die Entwicklung im Lebenslängsschnitt bruchlos fortsetzt oder ob es Heraus- oder Hineinentwicklungen in Bezug auf kriminovalentes Verhalten gibt, wird die Lebenslängsschnittanalyse durch eine (oder, falls mehrere "Wendepunkte" denkbar erscheinenen, auch zwei oder mehr) Querschnittsanalyse(n) ergänzt. Eine Querschnittsanalyse für den Zeitraum der letzten Tat ist bindend vorgeschrieben, kommt es zu einer sehr späten Inhaftierung (wegen langwieriger oder spät angesetzter Gerichtsverhandlungen) bietet sich eine zweite Querschnittsanalyse an. Dabei werden idealtypische Verhaltensweisen per Kriterienliste überprüft, wobei (im Gegensatz zu einfachen Checklisten) das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen der jeweiligen Kriterien ausführlich begründet werden muss.

Wertvorstellungen und Relevanzbezüge

Im dritten Schritt werden die Wertvorstellungen und Relevanzbezüge des jeweiligen Probanden ermittelt. Relevanzbezüge beschreiben das, was ein Mensch am liebsten tut, was ihn am meisten antreibt beziehunsgweise das, was er um keinen Preis tun würde oder in ihm große Aversionen erzeugt. Wertvorstellungen sind meist sehr abstrakt und am schwierigsten zu ermitteln.

Im dann folgenden Analyseschritt wird überprüft, wie Relevanzbezüge und Wertvorstellungen zu den Erkenntnissen aus Längs- und Querschnittanalyse passen.

Besondere Aspekte

Es schließt sich dann noch eine Prüfung besonderer Chancen und Risiken für Interventionen (oder ihres Unterlassens) an, etwa nach besonderen Begabungen und Fertigkeiten (Ressourcen) oder Handicaps.

Die Stellung der Tat im Lebenslängsschnitt

Aus der Längsschnittanalyse wird im Rahmen einer kriminologischen Beurteilung eine Zuordnung zu (ebenfalls idealtypischen) Verlaufsformen gewonnen. Dabei werden fünf Verlaufsformen zu Grunde gelegt, die zu einem Möglichkeitsraum aufgefächert werden. Kein Lebenslängsschnitt ist identisch mit einer dieser idealtypischen Verlaufsformen, es gibt nur Annäherungen oder Positionen, die genau (oder irgendwo) dazwischen liegen.

  • 1. Die kontinuierliche Hinentwicklung zur Kriminalität mit frühem Beginn
  • 2. Die kontinuierliche Hinentwicklung zur Kriminalität mit spätem Beginn
  • 3. Die Kriminalität im Rahmen der Persönlichkeitsreifung
  • 4. Die Kriminalität bei sonstiger sozialer Unauffälligkeit
  • 5. Der kriminelle Übersprung.

Im nächsten Diagnoseschritt wird überprüft, ob die Querschnittsanalyse die Längsschnittanalyse bestätigt oder ob es Wendepunkte (das heißt auch Abweichungen von der ermittelten Position innerhalb des Möglichkeitsraums der idealtypischen Verlaufsformen) gibt. Und schließlich wird geprüft, ob die Wertbezüge und Relevanzbezüge passen oder abweichen. Pauschal wird angenommen, dass bei den kontinuierlichen Hinentwicklungen auch Relevanzbezüge und Wertorientierungen auffällig sind (wie das soziale Verhalten), dass bei der Kriminalität im Rahmen der Persönlichkeitsreifung das Sozialverhalten in einigen Bereichen (aber nicht in allen oder den meisten) auffällig ist, Relevanzbezüge und Wertorientierungen dagegen nicht. Bei der Kriminalität im Rahmen sonstiger sozialer Unaufälligkeit zeigen sich meist Auffälligkeiten bei den Wertorientierungen und/oder Relevanzbezügen. Beim kriminellen Übersprung gibt es keinerlei Auffälligkeiten, diese idealtypische Verlaufsform beschreibt einzelne Affekthandlungen aus völliger Unauffälligkeit heraus.

Prognose

Grundsätzliche Prognose

Die grundsätzliche Prognose ist eine aus Idealtypnen abgeleitete Prognose, wobei für die Die kontinuierliche Hinentwicklung zur Kriminalität mit frühem Beginn und die Die kontinuierliche Hinentwicklung zur Kriminalität mit spätem Beginn eine negative Prognose zu geben ist (beim späten Beginn aber bei Interventionen an bestehende Sozialisationselemente angeknüpft werden kann). Bei der Kriminalität im Rahmen der Persönlichkeitsreifung ist die idealtypische Prognose günstig, weil es sich dabei lediglich um eine Phase krimineller Auffälligkeit handelt. Bei Kriminalität bei sonstiger sozialer Unauffälligkeit ist die Prognose offen. Beim Idealtypus Krimineller Übersprung ist die Prognose günstig.

Da aber kaum ein Verlauf identisch mit den idealtypischen Beschreibungen ist, wird in der grundsätzlichen Prognose diskutiert, wie Annäherungen und Zwischenformnen zu interpretieren sind.

Individuelle Basisprognose

In die individuelle Basisprognose fließen alle Erkenntnisse ein, die bei der Begutachtung des Probanden gewonnen wurden. Die Nähe zu idealtypischen Verlaufsformen wird zwar stets berücksichtigt - aber da kein Mensch ein Idealtyp und jeder Einzelfall anders ist, werden hier Stärken und Defizite, Talente und Eigenarten des Begutachteten gewürdigt und in Beziehung zur Delinquenz und zur Legalprognose gebracht.

Interventionsprognose

In der Interventionsprognose schließlich werden Behandlungsverschläge gemacht, wozu es einer fundierten Kenntnis der juristischen und sozialpädagogischen Interventionsmöglichkeiten bedarf. Auch bei negativen Legalprognosen werden ausführliche Behandlungsvorschläge erarbeitet, denn ...

Ausbildung und Lehrbücher

Der Lehrstuhl für Kriminologie an der Universität Mainz (Michael Bock) bietet MIVEA-Ausbildung im Rahmen des Studiums an. Außerdem bildet Bock jährlich Praktiker in zwei Stufen aus: Anwender- und Zertifizierungskusrse. (Siehe Weblink)

Die aktuelle Version der MIVEA mit ausführlichen Beschreibungen aller Idealtypen findet sich im Kriminologie-Lehrbuch von Michael Bock und etwas kürzer im Kriminologie-Lehrbuch von Hans Göppinger. Eine frühe Version ist in der Angewandten Kriminologie Göppingers zu finden.

Literatur

  • Bock, Michael (1984), Kriminologie als Wirklichkeitswissenschaft, Berlin.
  • Bock, Michael (2007), Kriminologie, 3. Auflage, München.
  • Göppinger, Hans (1985), Angewandte Kriminologie, Ein Leitfaden für die Praxis, Berlin.
  • Göppinger, Hans (2008), Kriminologie, 6. Auflage, München.
  • Graebsch, Ch./Burkhardt, (2006) MIVEA-Young Care? Prognoseverfahren für alle Altersgruppen, oder doch nur Kosmetik? Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 2, 140-147.
  • Oetting, Jürgen: Das wahre Leben pocht zwischen den Idealtypen. Über die "Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse" (MIVEA) in der Praxis der Strafrechtspflege, in: Neue Kriminalpolitik 4/2008, S. 124-129.
  • Stellny, Wolfgang/Thomas, Jürgen (2001) Einmal Verbrecher - immer Verbrecher?, Wiesbaden.
  • Weber, Max (1988), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen.

Weblink