Haus des Jugendrechts

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Als Haus des Jugendrechts wird die räumliche Zusammenführung der für die Redaktion auf Jugenddelinquenz zuständigen Organisationseinheiten mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung bezeichnet. Zu diesen Organisationseinheiten gehören die sachbearbeitenden Dienststellen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendamt sowie gelegentlich auch der - unter Umständen von Freien Trägern wahrgenommenen - Jugendgerichtshilfe und der Bewährungshilfe. Aufgrund der so hergestellten "kurzen Wege" können manche Verfahren im Feld der Jugendkriminalität im Idealfall innerhalb weniger Stunden abschließend bearbeitet werden.

Ursprung

Aus der Unzufriedenheit mit den oft langen Verzögerungen bei der Bearbeitung von Jugendkriminalität, die gelegentlich sogar dazu führten, dass Jugendliche zum Zeitpunkt ihrer Gerichtsverhandlung schon gar nicht mehr an ihre Taten erinnern konnten (Heisig 2010), entstand 1999 in Stuttgart Bad Cannstatt das erste Haus des Jugendrechts. Der Erfolg ergab sich aus der Bereitschaft der Sachbearbeiter zu einem regelmäßigen Austausch sowie aus ihrem Verständnis für ihren Auftrag und für die jeweilige Arbeit der einzelnen Akteure. Es folgten weitere Häuser unter anderem in Ludwigshafen (2005), Mainz (2008), Köln (2009), Wiesbaden (2010) und Frankfurt (Dezember 2010).

Zielsetzungen

Die primären Ziele eines "Haus des Jugendrechts" sind:

  • eine Steigerung der Verfahrensökonomie bei der Verfolgung und Verhütung von Jugendkriminalität durch die Zusammenführung der beteiligten Institutionen in einem Gebäude,
  • die zeitnahe Reaktion auf jugendliche Straftäter mit im Einzelfall angepassten und abgestimmten erzieherischen Maßnahmen,
  • die Unterbindung von delinquenten „Karrieren“ zu einem möglichst frühen Zeitpunkt in der Entwicklung der Jugendlichen,
  • gleichbleibende Ansprechpartner je Institution sowohl für die betroffenen Sachbearbeiter als auch für die Jugendlichen selber.

Voraussetzungen zur erfolgreichen Einrichtung eines „Haus des Jugendrechts“

Die Entscheidung zu einem Haus des Jugendrechtes bedarf grundlegender kommunalpolitischer Aussagen. Sind diese getroffen, vereinbaren die beteiligten Akteure die Rahmenbedingungen (Organisationsform, Kommunikationsprozesse, Koordination etc.) zur Zusammenarbeit. Die Arbeitsorganisationen der unterschiedlichen Institutionen werden aufeinander abgestimmt. Inhaltlich und organisatorisch erfolgt die Arbeit in einer komplementären und koordinierten Form.

Die ersten Evaluationen der bestehenden Häusern des Jugendrechts verdeutlichen einen hohen quantitativen und qualitativen Personalbedarf. Daneben ist auch die persönliche Bereitschaft der Akteure zur interdisziplinären Zusammenarbeit relevant.

Ein Problem zeigt sich bei den Fragen des Datenschutzes. Grundsätzlich ist zwischen dem sozialrechtlichen und strafrechtlichem Datenschutz zu unterscheiden. Es besteht politischer Handlungsbedarf, einheitliche gesetzliche Regelungen zu schaffen. Einheitliche Regelungen erleichtern zum einen den Kommunikationsprozess zwischen den verantwortlichen Trägern und gewährleisten auf der anderen Seite das berechtigte Interesse des Datenschutzes im Sinne der betroffenen Jugendlichen.

Zentrale Elemente des „Haus des Jugendrechts“

Fallkonferenzen

Im Rahmen von Fallkonferenzen werden alle beteiligten Institutionen und/oder Personen an einen Tisch geholt. Die Akteure des Haus des Jugendrechts beziehen in den Fallkonferenzen oft auch einen Vertrauenslehrer, Bewährungshelfer oder andere beteiligte Personen mit ein. Die Gesprächspartner in der Fallkonferenz besprechen die aktuelle Situation des Betroffenen, seine prognostisch zu erwartende Entwicklung und stimmen gemeinsam die zu treffenden Maßnahmen ab. Im Anschluss an die Fallkonferenz informieren die Gesprächspartner den betroffenen Jugendlichen (bei Bedarf mit seinen Eltern) über den Diskussionsstand und vereinbaren mit ihr bzw. ihm die Umsetzung der Maßnahmen.

Koordinierungsstelle

Netzwerkarbeit erfordert eine gute Koordination zwischen den Partnern. Dazu ist in den meisten Häusern des Jugendrechts eine feste Stelle eingerichtet, die Termine koordiniert, bei Konflikten zwischen den Netzwerkpartnern moderiert und weitergehende Kontakte zu sozialen Institutionen außerhalb des unmittelbaren Netzwerkes pflegt und aufbaut. Die Besetzung diese Stelle erfolgt in der Regel durch die Jugendgerichtshilfe.

Kontinuierliche Ansprechpartner

Insbesondere für den mehrfach delinquenten Jugendlichen steht je Institution regelmäßig ein und der selbe Sachbearbeiter als Ansprechpartner zur Verfügung. Sowohl Jugendgerichtshilfe, Staatsanwaltschaft und auch Polizei konfrontieren den Jugendlichen stets mit den gleichen Ansprechpartnern. Die Kontinuität in den Ansprechpartnern signalisiert dem delinquenten Jugendlichen nachhaltig, dass „man sich um ihn kümmert“, sie oder er nicht als „Fall“ sondern als „Person“ von den Institutionen wahrgenommen wird.

Konzeptionelle Ansätze

Die inhaltliche Ausgestaltung der Netzwerkarbeit in einem Haus des Jugendrechtes hängt primär von den politischen Grundintentionen ab. Unterschiedliche Ansätze (quantitativ vs. qualitativ) werden in einem Vergleich der Modelle in Stuttgart Bad Cannstatt und Köln deutlich.

Bad Cannstatt – Ziel des Projektes in Bad Cannstatt ist, Jugendliche an der „Schwelle zur Kriminalität ...[zu erreichen], um kriminelle Entwicklungen verhindern und Delinquenz – Karrieren bereits im Ansatz unterbinden zu können.“ (Rudat, 2000). Die Bearbeitung der Fälle erfolgt nach dem Wohnortprinzip (im Gegensatz zum Tatortprinzip), wonach alle auffälligen Kinder und Jugendlichen (bis zum 21. Lebensjahr), die ihren festen Wohnsitz in dem Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt haben, als „Fälle“ im Haus des Jugendrechts besprochen werden - unabhängig von der Deliktart. Ziel dieses Modells ist es, in einem als Brennpunkt identifizierten Stadtteil, alle auffälligen Jugendlichen und Kinder über Jugendamt, Jugendgerichtshilfe und/oder Polizei frühzeitig zu identifizieren und ggf. mit koordinierten Maßnahmen der delinquenten Entwicklung entgegen zu wirken.

Köln – Im Gegensatz zu dem Stuttgarter Ansatz werden im Kölner Haus des Jugendrechts Intensivtäter in die Sachbearbeitung aufgenommen. Dies begründet sich auf einen Ratsbeschluss, der damit an das bereits vorhandene „Intensivtäterkonzept“ der Polizei Köln anknüpfte. Die Identifikation des Personenkreises wird im Rahmen einer Gewichtung der vorliegenden Straftaten (mind. fünf Delikte, Gewaltdelikte werden höher gewichtet) vorgenommen. Eine "Auswertungsbespechung" unter Beteiligung aller Institutionen legt die Aufnahme von delinquenten Jugendlichen nach vereinbarten Kriterien in das Programm fest. Die „Entlassung“ aus dem Programm erfolgt regelmäßig dann, wenn der oder die Betroffene sich mindestens ein halbes Jahr lang legal bewährt hat und die Kooperationspartner einvernehmlich eine positive Entwicklung prognostizieren. Als Hauptziel wird in Köln angegeben: „Die Beendigung krimineller Karrieren jugendlicher und heranwachsender Intensivtäter im Stadtgebiet Köln ist, in enger Kooperation und unter Ausnutzung der jeweiligen Möglichkeiten, beschleunigt. Vor dem Hintergrund der bekannt hohen Rückfallquote Inhaftierter ist es dabei vordringliches Ziel, die Beendigung der Karriere ohne den Vollzug von Jugendstrafe herbeizuführen.“ (Formative Evaluation, Köln 2010)

Kritische Diskussion

Ein Kritikpunkt an dem Konzept eines „Haus des Jugendrechts“ ist „die anscheinende und für den Betroffenen nicht mehr eindeutig wahrzunehmende Trennung der Organe der Jugendhilfe und des Jugendstrafrechts sowie die augenscheinliche Vermischung der originären und unterschiedlichen Arbeitsaufträge“ (Gerhard, 2003). Die originären Handlungsfelder der sozialarbeiterischen Prävention durch die Jugendhilfe und der strafverfolgenden Repression von Staatsanwaltschaft und Polizei vermischen sich und können durch die betroffenen Jugendlichen nicht mehr getrennt werden. Nach Gerhard findet somit eine Verstärkung der sozialen Kontrolle unter Leitung der Polizei statt.

Eine Hürde, die es bei der Installierung eines „Haus de Jugendrechts“ zu überwinden gilt, beschreiben Feuerhelm, Kügler (2001): „Im »Haus des Jugendrechts« [Bad Cannstatt] wurden verschiedene Institutionen mit denselben Zielen konfrontiert, ohne darauf vorbereitet gewesen zu sein, welche Bedeutung die Ziele und ihre Umsetzung für die jeweilige Institution einnehmen. Genau an dieser Stelle lassen sich auch die Probleme in der Zusammenarbeit der beteiligten Institutionen im »Haus des Jugendrechts« benennen, die nicht zuletzt auf die unterschiedlichen Professionen und die damit verbundenen Arbeitsaufträge der einzelnen Institutionen zurückzuführen sind. Im Interesse eines zukunftsweisenden Umgangs mit Jugendstraftätern ist es erforderlich, dass – initialisiert durch politische Entscheidungen – die konstruktive Zusammenarbeit aller betroffenen Institutionen erfolgt.“

Kriminologische Relevanz

Verschiedene kriminologische Theorien befassen sich mit der Problematik der Jugenddelinquenz (siehe die Zusammenfassungen unter „Jugendgewalt“; „Jugendkriminalität“ sowie Stelly, Thomas 2004). Sie ist geprägt von Episodenhaftigkeit und Ubiquität. Wesentliche Rahmenbedingungen, die zu einer normkonformen Entwicklung der Jugendlichen beitragen sind dabei unter anderem ein sozial stabiles familiäres Umfeld und stabile soziale Kontakte.

Insbesondere vor dem Gesichtspunkt der Episodenhaftigkeit ist es bedeutsam, dass staatliche Reaktionen auf nonkonformes Verhalten in angemessener Weise zeitnah erfolgt. Eine vernetzte Zusammenarbeit der Institutionen Jugendhilfe, Polizei und Staatsanwaltschaft, Bewährungshilfe und anderen kirchlichen, privaten oder öffentlichen Trägern trägt dazu bei, gemeinsam - unter Berücksichtigung unterschiedlichster Ansätze und Interessen – Jugendliche und Heranwachsende in ihrer Entwicklung zu unterstützen.

Die institutionelle Netzwerkarbeit in einem „Haus des Jugendrechts“ greift mit ihrer Arbeit erst bei delinquentem Verhalten und ist somit unter sekundären oder tertiären Präventionsansätzen zu sehen. Eine Bewährung des Modells in der Praxis wurde durch das Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V. (ism) im Rahmen der Evaluation des Projekts in Bad Cannstatt und des in Ludwigshafen dokumentiert.

Literaturverzeichnis

  • Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hg.) (2001): Schnelle Reaktion. Tatverdächtigte Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention. München.
  • Feuerhelm, Wolfgang; Kügler, Nicolle (2001): Das Modellprojekt »Haus des Jugendrechts« in Stuttgart. In: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hg.): Schnelle Reaktion. Tatverdächtigte Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen beschleunigtem Verfahren und pädagogischer Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention. München.
  • Feuerhelm, Wolfgang; Kügler, Nicolle (2003): Das „Haus des Jugendrechts“ in Stuttgart Bad Cannstadt. Ergebnisse einer Evaluation. Mainz.
  • Gerhard, Holger (2008): Das "Haus des Jugendrechts" - Wohnsitz kriminalpräventiver Ansätze oder Unterschlupf repressiven Vorgehens? Herausgegeben von Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte e.V. - Landesgruppe Hessen. Online verfügbar unter http://www.dvjj-hessen.de/content/s03fbei/p22/20080602_HDJR.pdf, zuletzt aktualisiert am 04.06.2008, zuletzt geprüft am 12.02.2011.
  • Heisig, Kirsten (2010): Das Ende der Geduld : konsequent gegen jugendliche Gewalttäter. Basel, Wien: Herder.
  • Juranek, Iris (2009): Über die Bedeutung der Dauer von Jugendstrafverfahren. eine Untersuchung über die Wirkung des Jugendstrafverfahrens auf jugendliche Straftäter. Masterarbeit zum Studiengang Beratung und Vertretung im sozialen Recht. Fachhochschule Köln.
  • Manfred Dorfner, Kriminaloberrat (2002): Das "Haus des Jugendrechts", Stuttgart-Bad Cannstatt, stadtteilorientierte Kooperation von Jugendamt, Polizei und Amtsgericht. Online verfügbar unter http://www.eundc.de/pdf/08106.pdf, zuletzt aktualisiert am 10.04.2004, zuletzt geprüft am 30.01.2011.
  • Stelly, Wolfgang; Thomas, Jürgen (2004): Wege aus schwerer Jugendkriminalität. Eine qualitative Studie zu Hintergründen und Bedingungen einer erfolgreichen Reintegration von mehrfachauffälligen Jungtätern. Herausgegeben von Prof. Dr. Hans-Jürgen Kerner. (Tübinger Schriften und Materialen zur Kriminologie, Band 5).
  • Wendelmann, Wolfgang (2010): Kölner Haus des Jugendrechts. Formative Evaluation. Herausgegeben von Polizeipräsidium Köln. Köln.

Weblinks