Benutzer:JohannP

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Fahndung … aus kriminologischer Sicht (Österreich)

Einleitung Mit dieser Arbeit – Fahndung Österreich – wird Neuland betreten; es gibt dazu aus Österreich kaum Literatur. Nichtösterreichische Literatur kann nicht genutzt werden, da sich die österreichische Fahndung auf österreichisches Recht beziehen muss. In Österreich regeln die Fahndung insbesondere die Strafprozessordnung (StPO) in den §§ 167 bis 169 und das Sicherheitspolizeigesetz (SPG) im § 24.

Fahndung Allgemein Es gibt verschiedene Facetten der Fahndung wie z.B. nationale / internationale, ermittlungsintensive / ermittlungslose, Personen- / Sachenfahndung usw. Fahndung bedeutet hier Ausschreibung zur Festnahme und Anwendung von Zwangsmaßnahmen und wird hier, in weiterer Folge, nur noch auf die Personenfahndung näher eingegangen. Es wird versucht aufzuzeigen, dass (Personen-)Fahndungen dazu dienen (können), den Herrschaftsanspruch und -willen des Staates durchzusetzen, aber auch die Herrschaft des Staates zu sichern (vor allem als Devianz und soziale Kontrolle (SK)). Kontrolltheoretisch ist die (Personen-)Fahndung durchaus geeignet, den Konnex zw. der Polizeiarbeit und der ihr übergeordneten Kriminalpolitik, als Kontrollwirkung einerseits und Kontrollabsicht andererseits, zu demonstrieren. Herrschaftsdurchsetzung und Herrschaftserhalt stehen einander ergänzend gegenüber. Einleuchtend erscheint, dass der Staat, in der Person des Kriminalisten, vor und nach dem Fahndungserfolg ganz besonders massiv in die Menschenrechte eingreift (Stigmatisierung; Observation; Festnahme; Körper-, Persons- und Hausdurchsuchung; Beschlagnahme; Vorführung vor den Richter; Auslieferung an ein anderes Land usw.). Fahndung gilt als planvolles, systematisches zielorientiertes polizeiliches Erforschen des Aufenthaltsortes einer gesuchten, als kriminell angesehenen Person, in Verbindung mit polizeilichen (Zwangs-)Maßnahmen, angeleitet durch den Staatsanwalt (dominus litis). Die exekutive Art der ‚Ansprache’ an den Gefahndeten stellt einen ‚illokutionären Sprechakt’ dar, und sollte der Gefahndete erkennen, dass die betreffende angekündigte Handlung vollzogen wird und dies der Beginn von rechtsverbindlichen Aktionen ist. Als kriminologisch besonders interessant können die sogenannten Interpol (IP), sowie die Schengener Informations-System (SIS) Fahndungen, angesehen werden.

Fahndung und Ermittlung Der Ermittler erforscht den rechtsrelevanten Sachverhalt. Er rekonstruiert durch die Tatortarbeit und die Spurensicherung das tatsächliche (kriminelle) Geschehen und schafft damit eine Wirklichkeit, die er beschreiben, bewerten und beurteilen kann. Auf dieser Basis agiert der Kriminalist, bis die Wirklichkeit - rechtskräftig durch den Richterspruch - feststeht. Zuerst benennt der Ermittler das Geschehen; z.B.: ein Toter liegt am Boden, die Waffe daneben! War es ein Unfall? Ein Selbstmord oder Mord? Bei einem Fremdverschulden ermittelt der Kriminalist den Modus Operandi, das Motiv, den Täter und sichert die Spuren und sonstigen Beweise. Ist der Ermittler in einem Stadium kriminaler Sachverhaltsklärung angelangt, dass er den Tatverdächtigen identifiziert, kann er die nächste Phase seiner (Ermittlungs-)Tätigkeit starten: Zuführung des Täters der Gerichtsbarkeit. Und nur dann, wenn dies nicht möglich ist (der Täter ist unbekannten Aufenthaltes), startet die Fahndung. Ab hier wäre die fahndungsimmanente ‚Ökonomisierung des Sozialen‘ anzunehmen. Aber es gibt auch viele ‚ermittlungs- bzw. tatortlose‘ Fahndungen; das sind Fahndungen, welche in den diversen internationalen Fahndungsdatenbanken ‚schlummern‘ und erst im Trefferfall ‚auflaufen‘. Z.B.: IP Zagreb fahndet nach einer Person, wegen eines Verbrechens ‚X‘, mittels internationalen Haftbefehls (I-HB). Im Trefferfall wird diese Person in Österreich zwecks Auslieferung an den ausschreibenden Staat nach dem ‚Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz‘ festgenommen und das Auslieferungsverfahren zwischen den beiden involvierten Staaten eingeleitet. In Österreich gibt es aber keine Ermittlung, keinen Tatort, kein Opfer und keine Gerichtszuständigkeit für den gefahndeten Verbrecher – aber es gibt eine ‚nationale Konstruiertheit‘ einer (Auslands-)Delinquenz.

Fahndung Vorfilter Das IP-Generalsekretariat kann eine IP-Fahndung auf seiner Datenbank verweigern, wenn diese politisch, rassistisch oder religiös motiviert, und somit ein möglicher kriminaler Herrschaftsmissbrauch, durch den ausschreibenden Staat, gegeben ist. In solchen Fällen kann das ausschreibende Land eine sogenannte Diffusion direkt an einen konkreten Staat schicken und verzichtet auf die Nutzung des IP-Fahndungssystems. Da nicht alle österreichischen Polizisten direkten Zugriff auf die IP-Fahndungen bzw. Diffusions haben, müssen diese zusätzlich in das nationale Fahndungssystem gestellt werden. In Österreich gibt es auch bei den SIS-Fahndungen einen Vorfilter, denn nicht alle SIS-Fahndungen können in Österreich i.S.d. ausschreibenden Landes vollzogen werden, auch wenn die Voraussetzung einer Fahndung zum Zwecke der Festnahme und Auslieferung ein Europäischer Haftbefehl ist. Es gibt in Schengenländern strafrechtlich relevante Normen, die in Österreich lediglich Verwaltungsübertretungen darstellen und auch die von Land zu Land unterschiedlichen Verjährungsfristen oder ob der Gefahndete Österreicher ist, müssen rechtsbeachtlich geprüft werden.

Kriminologie Nach Hans Gross: Kriminologie ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ursachen und Erscheinungsformen sowie mit der Aufklärung, Verhinderung und Bekämpfung von Verbrechen. Es ist nachvollziehbar, dass unterschiedliche Rechtsauffassungen der IP- und SIS- Staaten hinsichtlich Ursachen und Erscheinungsformen von Delinquenz und seiner Verhinderung und Bekämpfung, nicht immer die für Österreich erforderliche Rechtsqualität erreichen, wie im Fahndungsstaat erhofft (z.B.: Fahndung zwecks Festnahme und Auslieferung, da die Ehefrau das Haus ohne Erlaubnis des Ehemannes verlassen hat). Eine solche Fahndung wird mangels Strafbarkeit im Trefferfall in Österreich nicht umgesetzt. Auch unmenschliche Behandlung im Fahndungsstaat (z.B.: Verstümmelung / Todesstrafe) stehen einer Festnahme in Österreich zwecks Auslieferung entgegen (nicht jedoch die Festnahme zwecks Vorführung des Gefahndeten vor ein österreichisches Gericht mit Urteil und Urteilsvollstreckung in Österreich). In welchem Zusammenhang steht eine (Personen-)Fahndung mit der Kriminologie? Wissenschaftliche Delinquenz-Erforschung bedeutet, Verbrechensursachen, Erscheinungsformen und die Aufklärung, Verhinderung und Bekämpfung theoretisch fundiert zu erklären. Als Theorie des ‚Abweichenden Verhaltens‘ kann die Kontrolltheorie (Governing through Crime-These (GtC) bzw. der ‚punitive turn‘ (PT)) verwendet werden. PT ist die kriminalpolitische gesellschaftliche Reaktion darauf, Kriminellen ‚adäquat ‘zu ‚begegnen‘, GtC durch ‚Dramatisierung‘ der Kriminalität und der daraus entstandenen öffentlichen ‚Furcht‘, durch ‚maßgeschneiderte und marktschreierische‘ Problemlösungen, politisch rhetorisch-aktiv, davon zu profitieren.

Fahndung Fakten und Zahlen Ist die Zahl der ‚Fahndungen‘ geeignet, Unruhe in der sozialen Gesellschaft zu erzeugen? Per 31.12.2012 gab es insgesamt 367.274 österreichische Fahndungen im SIS. Alle SIS-Fahndungen zusammen ergaben (seit dem Beitritt Österreichs zum SIS im Jahr 1997) bis zum 31.12.2012, 49.537 Treffer. Insgesamt waren im SIS per 31.12.12 35.925 SIS-Haftbefehle, davon 756 aus Österreich. Insgesamt werden weiters gefahndet: 57.310 Abgängige und 94.316 Personen mittels einer Aufenthaltsermittlung. Insgesamt waren von 28 Schengen-Staaten per 31.12.2012 46.519.655 Fahndungen im SIS, davon 367.274 aus Österreich. Mit Stand Dezember 2011 waren in der Interpol-Personen-Datenbank ca. 170.000 flüchtige Straftäter und vermisste Personen gespeichert. In der Interpol-KFZ-Datenbank waren mit Stand Dezember 2011 ca. 8,2 Mio Datensätze und in der Interpol-SLTD (Stolen and Lost Travel-Documents)-Datenbank waren ca. 31 Mio Reisedokumente gespeichert. Wie schaut die Entwicklung der Gesamtkriminalität in Österreich von 2003 – 2012 aus? 2003 gab es 643.286 der Polizei bekannt gewordene Kriminalfälle; 2010: 535.745 Kriminalfälle; der Trend ist also von 2003 bis 2010 signifikant fallend, mit leichten Anstiegen wieder in den Jahren 2011 und 2012 (auf 548.027). Diebstahl von Kraftfahrzeugen und Einbrüche in Wohnungen und Einfamilienhäuser sind gesunken. Einen Aufwärtstrend gibt es bei der Internetkriminalität sowie bei Tötungsdelikten, Körperverletzungen und im Sittlichkeitsbereich; die Aufklärungsquote liegt bei Gewaltdelikten bei 81,7 Prozent. Die Aufklärungsquote im Jahr 2012 ist die zweithöchste der letzten zehn Jahre und beträgt 42,6 Prozent.

Fahndung und Soziologie sozialer Kontrolle (SK) und GtC bzw. PT Durch sein Handeln wird die gefahndete Person durch die Kontrollinstanzen als kriminell qualifiziert. Eine Fahndung kann zu Stigmatisierung, zu Etikettierung und sekundärer Devianz führen. Das von der Staatsmacht zugesprochene negative Gut führt zu erhöhtem Kontroll-, Delinquenz- und Sanktionsrisiko. Wie oben dargelegt, gibt es tausende von Personenfahndungen und Millionen von sonstigen Fahndungen. Mit diesen Zahlen kann man Fahndungen bzw. die Delinquenz dazu nutzen, um mit einer dramatisierenden Rhetorik opportunistische und populistische Kriminal- und Sozialpolitik zu betreiben. Europaweit spricht man von einer ‚verlorenen Generation‘, prekären Arbeitsverhältnissen, working poor, Exklusion, Ghettoisierung, Stigmatisierung, aber auch von gated communities, Criminal Responsibility, Workfare, Prisonfare, Absicherung der Herrschaft durch Herrschaftsnormen und politischen Dramatisierungsapellen. Heute hat die ‚edle‘ Gesinnung der wahlwirksamen Mittelschichts- und Oberschichtsangehörigen gegenüber den (schlecht qualifizierten, eventuell gefahndeten kriminellen) Unterschichtsangehörigen, keinen Platz mehr. Der ‚turn‘ von Resozialisierung und Inklusion der Kriminellen in das ‚Ganze‘ des Staates, hin zum gesteigerten Wegsperren und Ausgrenzen, wurde oder wird gerade großteils vollzogen. Dem Sozialstaat folgt der punitiv turn, der ‚strafende Staat‘. In Summe sprechen wir von Millionen Fahndungen und weltweit werden hunderttausende Menschen ‚gesucht‘. Die nationalen Fahndungen noch nicht miteingerechnet! Zahlen, die geeignet sind, das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu senken und signifikant auf die Politik einzuwirken. Auf diesem ‚Fundament‘ lässt sich leicht populistische Politik machen und die Menschen manipulieren. Eine Politik, die der Neoliberalismus mit dem ‚GtC‘ und dem ‚PT‘ fast weltweit versucht, in Österreich aufgrund einer erfolgreichen Kriminal- und Sozialpolitik aber noch nicht verwirklicht wurde. Durch die derzeitige Krise wird unterschicht- und mittelschichtspezifisches Humankapital, welches nicht mehr in der Lage ist, am ersten Arbeitsmarkt höherwertiges Vermögen zu erzeugen, freigesetzt. Ohne Einkommen und ohne Zukunftsperspektive könnte sich dieses der Delinquenz zuwenden. Darum muss die Staatsmacht dieses negative Humankapital i.S.d. ‚Sozialen Kontrolle‘ observieren und proaktiv tätig werden, denn eine ‚gefährliche Klasse‘ könnte die instabilen sozial-politischen Verhältnisse gefährden, Dass dabei Stigmatisierung, Etikettierung, sekundäre Devianz, Ressentiments usw. entstehen können, ist durch die stattfindende Kontroll- und Strafverstärkung wahrscheinlich. Auf eine hohe Kontrolldichte folgt eine hohe Festnahme- und Verurteilungswahrscheinlichkeit; und die gerichtlich ausgesprochene Strafe ist in den letzten Jahren ebenfalls gestiegen. Dies sind Anzeichen und Bestätigungen dafür, dass die Politik und die Bevölkerung in gesteigerter Angst vor der Kriminalität leben, auch wenn diese im Vergleich zu den Jahren davor objektiv wenig bzw. gar nicht gestiegen und die Angst davor möglicherweise sozialpolitisch populistisch eigeninduziert ist. Hunderttausende von Personenfahndungen; oder hunderttausende von ‚Delinquenten‘ in Kombination mit ‚Sozialer Kontrolle‘, ‚strafenden Staat‘, Governing through Crime, Punitive Turn, Zero Tolerance und Massenarbeitslosigkeit! Eine brisante Kombination … politisch und ökonomisch machtvoll, sozial beängstigend und kriminologisch faszinierend. Modernisierungsverlierer zuhauf, aber der Österreicher zeigt, dass er (noch) auf der richtigen Seite steht, denn sympathisiert er kaum mit den, mit dieser Angst operierenden, machttheoretisch und polit-ökonomisch argumentierenden Randpartei-Populisten.

Literarturverzeichnis Leitner, Fahndung durch Sicherheitsbehörden und Sicherheitsorgane, Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien - Graz 2002, ISBN: 3-7083-0078-5.

Quelle Die hier angegebenen Daten stammen mit freundlicher Genehmigung vom Bundeskriminalamt Wien, Büro 2.3.