Welt ohne Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse ist den meisten Menschen suspekt - entweder, weil sie glauben, dass man dann automatisch wieder auf die grausamen Körperstrafen des Mittelalters zurückgreifen müßte (das finden sie barbarisch), oder aber, weil sie glauben, dass man dann die Schwerverbrecher frei herumlaufen lassen müßte (das finden sie absurd). Das Gefängnis, glauben sie, ist vielleicht ein Übel, aber es ist - wie das Strafrecht und die Kriminalstrafe - ein notwendiges Übel und damit basta. Sicherlich kann man die Gefängnisse zivilisieren. Unnötige Härten vermeiden und Leute nicht wegen jeder Kleinigkeit hinter Schloss und Riegel bringen. Aber das ändert nichts am Prinzip, dass es in der heutigen Zeit nun einmal ohne Gefängnisse einfach nicht geht. Eine Welt ohne Gefängnisse? Das hat es noch nie gegeben - und das wird es auch nie geben.
Die '''Welt ohne Gefängnisse''' war zwar bis vor einigen Jahrhunderten der Normalfall, doch inzwischen kann man sich das Verschwinden der [[Gefängnis]]se kaum noch vorstellen. Den meisten Menschen erscheinen Gefängnisse als notwendiges Übel, auf das man auch in Zukunft nicht wird verzichten können. Wahrscheinlicher ist allerdings das Verschwinden der Gefängnisse in einer nicht allzu fernen Zukunft.


Für eine Epoche, die sich gerne selbst als "wissenschaftlich-technische Zivilisation" bezeichnet, ist die Festigkeit dieser öffentlichen Meinung (die nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika, in Asien, in Australien und in den Amerikas die "absolut herrschende Meinung" darstellen dürfte) eine bemerkenswerte soziale Tatsache. Denn während in fast allen anderen Bereichen, also im Gesundheits- und im Bildungswesen, in der Ökonomie und vor allem im Bereich der Ökologie und des Umweltschutzes eine Konvergenz von Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen zu konstatieren ist, stehen wir im Bereich der Strafjustiz vor dem rätselhaften Phänomen, dass die Wissenschaft sich immer weiter vom hergebrachten Alltagswissen entfernt - und die alten Vorurteile in der Bevölkerung trotz allen Fortschritts unseres wissenschaftlichen Wissens über Kriminalität und Kontrolle noch genau dieselben sind wie vor drei oder vier Generationen. In mancher Hinsicht scheint es sogar, als bewege sich die Wissenschaft vorwärts, die öffentliche Meinung aber völlig unbeeindruckt von empirischer Forschung und ethischen Diskussionen seit einiger Zeit sogar wieder rückwärts.  
== Geschichte ==
Die Geschichte kann die Dimensionen aufzeigen, um die es sich handelt. Wenn man unter "Welt" das aktuell existierende Universum versteht, dann gibt es die "Welt" seit gut 13 Milliarden Jahren. Versteht man unter "Welt" den Planeten Erde, dann meint man damit einen Himmelskörper, der von seinen voraussichtlich 12 Milliarden Jahren Lebenszeit gerade mal 4,5 Milliarden hinter sich (und logischerweise noch 7,5 Milliarden vor sich) haben dürfte. Pflanzen und Tiere gibt es allerdings erst seit einer halben Miliarde Jahren (und voraussichtlich bestenfalls noch eine weitere halbe Milliarde, so dass die Erde noch einige Milliarde Jahre als toter Brocken auf ihr endgültes Verdampfen wird warten dürfen, längst ungestört vom "homo sapiens", dessen unmittelbare Vorfahren mit der biologischen Bezeichnung "homo" vor ca. 2,5 Millionen Jahren auftauchten und erst vor rund 250 000 Jahren dem "homo sapiens" weichen mußten, der seither die Regierung übernommen hat). Gefängnisse waren allerdings nicht das erste, an was der homo sapiens sapiens dachte, als er sich zu organisieren begann. Es dauerte bis zum Jahr 10 000 vor unserer Zeitrechnung, dass aus den Jägern und Sammlern ganz allmählich Ackerbauern und Viehzüchter wurden und damit auch die ersten festen Siedlungen entstanden. In befestigten Bauten wurden während der letzten Jahrtausende vor der Zeitenwende auch Freiheitsentziehungen möglich und zu verschiedenen Zwecken praktiziert - etwas zwecks Vorhaltung von Gefangenen zwecks Austausch, Lösegeldzahlungen usw.; doch die Erfindung der Institution des Gefängnisses als Form der [[Strafe|Kriminalstrafe]] sollte noch lange auf sich warten lassen.
   
Das Gefängnis als ein Einschließungsmilieu, das der Bestrafung durch Freiheitsentzug und meist auch zugleich der Besserung der Betroffenen dient, ist eine vergleichsweise junge Einrichtung. Während Gotthold Bohne die Entstehung des Gefängnisses auf das 12. bis 16. Jahrhundert (in Norditalien) datierte, sehen andere die Frühform der [[Freiheitsstrafe]] in London (Bridewell, 16. Jahrhundert) zum ersten mal realisiert. [[Michel Foucault]] hingegen erblickte im Gefängnis ein Produkt der "Großen Transformation" von 1760 bis 1840, während derer die nordamerikanischen Gefängnis-Modelle von Philadelphia und Auburn sich über Westeuropa ausbreiteten (Bohne 1925; Foucault 2004).


== Gesellschaften ohne Gefängnisse in der Geschichte ==
Trotz der Tatsache, dass es sich um eine vergleichsweise junge Institution handelt, ist die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse den meisten Menschen suspekt. Was, so denken sie, soll man denn sonst machen? Umbringen will und kann man die [[Verbrechen|Verbrecher]] ja nicht - aber andererseits kann man es sich auch nicht leisten, sie einfach so herumlaufen zu lassen. Deswegen gilt das Gefängnis als notwendiges Übel. Der Glaube an die Notwendigkeit des Gefängnisses ist heute weiter verbreitet als der Glaube an Gott.


Selbst glühende Befürworter des Gefängnisses müssen zugeben, dass es eine Welt ohne Gefängnisse schon einmal gegeben hat - und dass die Nichtexistenz von Gefängnissen diese Gesellschaften jedenfalls nicht daran hindern konnte, über Jahrhunderte und sogar Jahrtausende zu existieren. Denn das Gefängnis ist unzweifelhaft nicht genau so alt wie die Menschheit. Auch wenn man über Einzelheiten streiten mag: absolute Einigkeit besteht unter allen Wissenschaftlern, dass die Menschheit während der längsten Zeit ihrer Existenz ohne Gefängnisse auszukommen wusste. Das Gefängnis ist eine ausgesprochen junge Erscheinung in der Gesellschaftsgeschichte.  
== Die aktuelle Situation ==
Aktuell scheint es für die Institution gut zu laufen: die Zahl der Gefängnisse und der Gefangenen weltweit nimmt kräftig zu und es ist kein Ende in Sicht. Insbesondere in den USA ist der Boom der Gefängnisse ungebrochen. In keinem Land der Erde wächst das System der Gefängnisse so schnell und so grenzenlos wie in den USA. Nirgendwo sonst sitzt von jeweils 100 Bürgern einer hinter schwedischen Gardinen. Aber in den USA mit ihren (mehr als) 200 Millionen Einwohnern gibt es (mehr als) 2 Millionen Gefangene: "One in 100" (Pew 2008). Angesichts dieser exorbitanten Zahlen liegt der Vergleich der USA mit dem einstigen sowjetischen Lagersystem nahe, das wie ein dichtes Netz das ganze Territorium der Sowjetunion überzog (Christie 2000).  


Die ersten Menschen - also die ersten Wesen, die wie der heutige "homo sapiens" von der Biologie unter der Bezeichnung "homo" geführt werden - lebten vor zwei bis drei Millionen Jahren. Diese Menschen lebten in kleinen Gemeinschaften und kannten mit Sicherheit abweichendes Verhalten und Sanktionen, aber eines ist sicher: sie verfügten weder über feste Häuser noch über Gefängnisse.  
== Was kommt nach dem Gefängnis? ==
Nach Gilles Deleuze kommt nach dem Gefängnis ein System der ambulanten elektronischen Überwachung. Jedenfalls sah er in seinem kurzen Aufsatz über "Das elektronische Halsband" die von Foucault beschriebene Disziplinargesellschaft und die für sie typischen Einschließungsmilieus (Hospitäler, Fabriken, Kasernen, psychiatrische Anstalten - vor allem aber Gefängnisse) am Ende ihrer historischen Epoche angekommen. Schon heute befinde man sich im Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, und letztere beruhe auf ganz anderen Arten der sozialen Kontrolle als der Einschließung in festen Räumen.  


Die ersten Menschen unserer Art tauchten erst vor rund 250 000 Jahren auf. Im Gegensatz zu dem noch jüngeren homo floreniensis, der erst vor 100 000 Jahren auftauchte und vor rund 12 000 Jahren ausstarb, hat homo sapiens es mit viel Glück und Verstand vermocht, bis heute zu überleben. Wie lange er noch existieren wird, ist angesichts seines Verhaltens gegenüber den Grundlagen seiner Existenz fraglich. Eines aber ist sicher: mehr als 90 Prozent seiner Geschichte lebte der homo sapiens in einer Welt ohne Gefängnisse. Niemand, der sich jemals mit der Frühgeschichte der Menschen befasst hat, hat je behauptet, dass es in der Frühzeit der Menschen irgendwann auch nur einmal ein Gefängnis gegeben hätte. Bis 10.000 vor Christus war die Welt eine Welt ohne Gefängnisse. Und nach vielen Kriterien, die auch heute noch gelten, waren es keine schlechten Gesellschaften: in vielen Gegenden hatten die Menschen genug zu essen, lebten in stabilen sozialen Netzwerken und wären nicht einmal im Traum darauf gekommen zu glauben, nun könnten sie ohne Gefängnisse nicht weiterleben. Dann, um 10 000 vor Christus, erfand der Mensch den Ackerbau, die Seßhaftigkeit, feste Häuser und eine ganz andere Lebensweise - das war die neolithische Revolution (vielleicht die radikalste Revolution in der gesamten bisherigen Geschichte).  
Andere sehen eher die Wiederkehr des totalitären Maßnahmenstaates, der sich wenig um Strafe und [[Resozialisierung]] kümmert und dafür mehr um die [[Feindstrafrecht|Bekämpfung von Feinden]] mit kriegs- und polizeirechtlichen Mitteln. Dafür sind aber Gefängnisse als Institutionen der Justiz weniger geeignet als andere Aufbewahrungsorte und andere Mittel der Unschädlichmachung. So zum Beispiel "Lager" (Agamben) oder gezielte Tötungen.  


In den frühen Hochkulturen sperrte man Menschen in fest ummauerte Räume ein. Man hielt sie als Geiseln fest, um sie auszutauschen. Oder als künftige Opfer, die man in sakralen Zeremonien töten wollte. Oder man sperrte sie ein, damit sie zum Zeitpunkt ihrer Hinrichtung noch da waren. Aber eine Einsperrung als Strafe für ein begangenes Verbrechen (oder zur Besserung eines Verbrechers) gab es damals noch lange nicht. Ein Gefängnis im Sinne einer Institution zur Abbüßung einer Kriminalstrafe war noch in weiter Ferne. Dies aber nicht - wie es ein heute weit verbreitetes Vorurteil will - weil man noch nicht zivilisiert genug war, sondern weil die Sanktionen im Allgemeinen viel milder waren und man eine Gefängnisstrafe für viel zu hart gehalten hätte. Im frühen europäischen Mittelalter, also zum Beispiel im Recht der Franken, stand sogar auf schwere Verbrechen wie etwa eine vorsätzliche Tötung nicht etwa eine Kapitalstrafe, sondern im Regelfall eher ein finanzieller Ausgleich. Die Devise war Kompensation statt Strafe. Wo es heute Kriminalstrafen gibt, gab es damals Bußen nach einem Bußgeldkatalog, so wie man sie heute im Straßenverkehrsrecht kennt.


Die berühmt-berüchtigte Härte des mittelalterlichen Strafrechts war eine Erscheinung nicht des sechsten, siebten, achten oder neunten Jahrhunderts, sondern der terroristischen Territorialgewalten im zwölften, dreizehnten, vierzehnten, fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert. Das war die Zeit der barbarischen Härte, im Vergleich zu welcher die Gefängnisstrafe in der Tat wie eine Wohltat aussah. (Ein relatives Kompliment an das Gefängnis, von dem diese Institution noch heute profitiert.)
== Einwände ==


Die Freiheitsstrafe entstand erst zwischen den Jahren 1000 und 2000 nach Christus, also in der Sekunde der Menschheitsgeschichte, in der wir gerade leben. Wann genau, darüber streiten sich die Gelehrten. Gotthold Bohne glaubte, dass die Wiege der modernen Freiheitsstrafe in den weit entwickelten Städten Norditaliens stand. Bohne ist heute vergessen. Eine zweite Ansicht sieht den Beginn der modernen Freiheitsstrafe in den englischen Bridewells oder den holländischen Zucht- und Arbeitshäusern in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die meisten Forscher datieren aber die Geburt des Gefängnisses auf die amerikanischen Anstalten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und deren Verbreitung über den Globus. Foucault sieht die Gefängnisse als Teil der "Großen Transformation" im Zeitfenster zwischen 1760 und 1840. Wer recht hat, ist nicht leicht zu sagen. Möglicherweise hat Foucault die besseren Argumente. Aber Bohne sollte man vielleicht auch nicht unbedingt als Unsinn abtun. Was bleibt ist ein Konsens in der Wissenschaft: eine Welt mit Gefängnissen gibt es seit weniger als 1000 Jahren. Davor gab es - je nach Berechnung - seit mehr als einer Million Jahren oder jedenfalls seit rund 249 000 Jahren nur eine Welt ohne Gefängnisse. Mit anderen Worten: in der Wissenschaft gibt es keinen Zweifel daran, dass die Menschheit Hunderttausende von Jahren ohne Gefängnisse, aber erst seit weniger als 1000 Jahren mit Gefängnissen existierte. Die Geschichte beweist also: eine Welt ohne Gefängnisse war möglich. Die Logik führt zu dem Schluss: wenn das, was einmal war, historisch auch wieder werden kann, dann kann man auch für die Zukunft sagen: Menschen werden auch in der Zukunft wieder ohne Gefängnisse existieren können.  
Es sind dies insbesondere drei Einwände.


Was die Geschichtswissenschaft nicht beantworten kann, ist die Frage, ob Gesellschaften wie unsere heutigen Gegenwartsgesellschaften ohne fundamentale Rückschritte auch in der Lage wären, ohne Gefängnisse weiter (und nach Möglichkeit: besser) zu funktionieren.  
Erstens heißt es, die Abschaffung der Gefängnisse sei utopisch; sie übersteige die menschliche Vorstellungskraft - und was man sich nicht vorstellen könne, das könne man auch nicht realisieren. Die wenigen, die auf eine besondere Vorstellungskraft vertrauten und sich eine Welt ohne Gefängnisse ausmalten, seien keine Visionäre, sondern (harmlose oder weniger harmlose) Geisteskranke: eher mit Don Quixote in seinem Kampf gegen die Windmühlen zu vergleichen als mit aufgeklärten Reformern.  


Was dieses Argument angeht, so habe ich der Widerlegung, die sich in diesem Buch findet, nichts hinzuzufügen (zumal der Autor das, was ich dazu zu sagen habe, freundlicherweise schon zitiert hat). Höchstens dieses: das Verhältnis von Vorstellung und Realität ist sehr viel mysteriöser, als die meisten Menschen glauben. Die meisten Menschen sagen: was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das muss logischerweise eine noch geringere Chance auf eine Daseinsform in der Realität haben. Was man sich "gerade noch" vorstellen kann, das hat vielleicht eine minimale Chance auf Realisierung; was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das hat absolut gar keine Chance, jemals Realität zu werden. Doch so ist es gerade nicht. Die reale Geschichte der Welt ist voller Ereignisse, die zur allgemeinen Verblüffung der Zeitgenossen passierten. Wer hat denn 1958 vorhergesehen, dass ein Jahr später eine 50jährige Castro-Herrschaft auf der Insel Cuba beginnen könnte? Wer hat 1916 die Oktoberrevolution in Russland und die Herrschaft Stalins vorhergesehen? Wer hat 1988 den Fall der Berliner Mauer und den Untergang der Sowjetunion vorhergesehen? Und wie wäre das allgemeine Urteil der Mehrheit über die drei oder vier Personen ausgefallen, die solche Vorhersagen gewagt hätten? Hätte man sie nicht für Phantasten, für Spinner und Sonderlinge gehalten? Und war es nicht genau das, was man in den USA über die Vorkämpfer der Sklavenbefreiung dachte, bis es dann plötzlich doch so weit war? Eine Welt ohne Sklaverei - das war für die Südstaatler bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs unvorstellbar. Mit anderen Worten: es sind immer nur wenige Individuen, deren Vorstellungskraft ausreicht, um sich ein Bild von einer möglichen Zukunft zu machen, die mehr ist als nur die Extrapolation eines bekannten Trends.
Um der Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen, kann es manchmal auch nützlich sein, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Was die Gefängnisse angeht, so schrumpft ihr Ewigkeits-Nimbus ganz gehörig, wenn wir einen distanzierten Blick auf die Geschichte des homo sapiens sapiens werfen.


== Gefängnisse heute ==
Das Gefängnis ist also eine sehr junge Institution, und es gibt einige Hinweise darauf, dass sie auch nicht viel älter werden, sondern durch andere Formen der Sanktionierung und Konfliktregelung schon bald abgelöst werden wird. Schon Gilles Deleuze (1992) hatte vielleicht nicht unrecht, als er vor einigen Jahren erklärte: Wie viele andere Einschließungsmilieus ist das Gefängnis eine Einrichtung, die schon längst überholt ist und nur noch auf ihre Abschaffung wartet.


Die heutige Welt scheint mit den Gefängnissen gut zu leben. Die Bevölkerung glaubt an ihre Notwendigkeit. Die Wirtschaft glaubt an ihre Lukrativität - jedenfalls, wenn sie privatisiert sind.  Die Politik erhält Zustimmung für den Bau neuer Gefängnisse. Sie erhält auch Zustimmung für einen harten Kurs in der Kriminalpolitik, der die Zahl der Gefängnisinsassen immer weiter in die Höhe treibt. Besonders ausgeprägt ist dieser Trend in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort befinden sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr Menschen im Gefängnis als jemals zuvor. Aber auch in vielen anderen Staaten nimmt die Zahl der Gefängnisse und der Gefangenen stetig zu. Während manche Wissenschaftler glaubten, dass die große Zeit des Gefängnisses sich allmählich ihrem Ende zuneigte, sprechen die Zahlen eine andere Sprache. Jedenfalls scheinen sie eher darauf hinzudeuten, dass das Gefängnis seine Zukunft noch vor sich hat.
Zweitens heißt es, eine Abschaffung der Gefängnisse sei deswegen unrealistisch, weil sie gar nicht isoliert durchzuführen sei, sondern als Voraussetzung eine Veränderung ganz anderer Strukturen der Gegenwartsgesellschaften erfordere. Ohne eine vorherige Veränderung der politischen und der ökonomischen Machtstrukturen sei die Abschaffung von Gefängnissen eine blanke Illusion.  


Dies ist ein zähes Argument, weil es weder ganz richtig noch ganz falsch ist. Es ist nicht ganz richtig, weil es das Verhältnis zwischen Ökonomie und Recht als Einbahnstraße zwischen der Basis (der Ökonomie) und dem Überbau (dem Recht) betrachtet, während sich doch sogar unter traditionellen Marxisten schon herumgesprochen hat, dass die Dinge sehr viel komplizierter sind und damit auch sehr viel mehr Dynamik entfalten können. Erstens ist die Zuordnung von gesellschaftlichen Phänomenen zu diesen beiden Sphären alles andere als eindeutig regelbar und zweitens führt kein Weg an der Anerkennung starker Wechselwirkungen zwischen "Basis" und "Überbau" vorbei. Viel wichtiger ist aber drittens, dass das Argument auch nicht ganz falsch ist. Tatsächlich geht eine signifikante Veränderung wie die Abschaffung einer Institution (wie z.B. des Gefängnisses) nie ganz isoliert, sondern impliziert auch Veränderungen in benachbarten Sphären. So wäre es z.B. ein durchaus berechtigter Gedanke, dass eine Abschaffung der Gefängnisse nicht möglich wäre ohne eine gewisse (auch tiefgreifende) Veränderung im [[Strafprozess]], in der [[Straftheorien|Straftheorie]] und in der ganzen Konfiguration von staatlichen Akteuren, Tätern und Opfern. Mit anderen Worten: es ist durchaus nicht falsch zu sagen, dass eine Abschaffung der Gefängnisse auch die Veränderung ganz anderer Strukturen der Gegenwartsgesellschaft impliziert. Doch diese Tatsache - und wahrscheinlich ist es eine - wird vielleicht auch falsch interpretiert, wenn man darin ein Hindernis für die Abschaffung der Gefängnisse betrachtet. Schon gar nicht eignet sich dieses Argument, um die Befürworter einer Welt ohne Gefängnisse als naive Trottel darzustellen. Vielmehr kann dieses Argument uns dafür sensibilisieren, dass bereits heute eine solche Entwicklung im Gang ist. Es ist eine Entwicklung, die real ist und die fortschreitet. Zugleich ist es eine Entwicklung, die heute noch kaum wahrgenommen wird, weil sie sich nicht dort vollzieht, wo der Fokus der Aufmerksamkeit liegt, sondern an den Rändern der wahrnehmbaren Welt. Es ist eine Entwicklung, die das Potential besitzt, auf mittlere Sicht das Gefängnis zu besiegen - und es ist eine Entwicklung, die Hand in Hand geht mit einer Transformation der Voraussetzungen, auf denen das Gefängnis beruht: einer Transformation dessen, was unter Gerechtigkeit verstanden wird, und unter der Lösung eines Konflikts.


== Gefängnisse morgen ==
Man darf sich freilich nicht vom Blick auf das Zentrum der Welt blenden lassen. Man muss auf die Ränder blicken.
Doch der Anschein des Erfolgs ist trügerisch. So trügerisch wie der Boom des Sklavenhandels, der seiner Abschaffung vorausgegangen war. Manche Institutionen scheinen ausgerechnet dann noch einmal explosionsartig expandieren zu wollen, wenn sie das Ende nahen spüren - ähnlich wie Sterne, die sich bekanntlich kurz vor dem Sternentod noch einmal ganz gewaltig auszudehnen pflegen. Und ist es nicht eine erwiesene historische Tatsache, dass der Sklavenhandel über den Atlantik seinen Höhepunkt genau in den Jahrzehnten erlebte, die seiner Abschaffung unmittelbar vorausgingen? Wer die wahnsinnige Geschwindigkeit beobachtet, mit der das amerikanische Gefängnissystem alle bisherigen Dimensionen der Einsperrung wie ein Hürdenläufer überspringt, kann gar nicht anders, als an diese Beispiele zu denken. Dies auch deshalb, weil sich in den USA gerade wegen des Irrsinns der Gefängnis-Explosion immer mehr Nicht-Regierungs-Organisationen mit den Ursachen dieser Misere, mit ihren ökonomischen und menschlichen Kosten, mit Alternativen zum Gefängnis und mit Öffentlichkeitsarbeit gegen das Gefängnis befassen. Es ist diese Art der Selbst-Aufklärung und Selbst-Mobilisierung der Zivilgesellschaft, die schon früher die Weichen für große Veränderungen gestellt hatte und die es bald auch in bezug auf die Große Einsperrung tun könnte.


Nur ein Detail könnte die leuchtende Zukunft dieser eigenartigen Institution verdüstern. Es handelt sich um einen Umstand, der quantitativer Forschung nicht leicht zugänglich ist und der deshalb in Gefahr gerät, übersehen zu werden. Es ist der Aspekt der Reputation.  
Vor allem aber ist es ungeheuer wichtig, sich nicht vom Zentrum des Imperiums blenden zu lassen. Wer immer nur auf Amerika und Europa blickt, dem entgeht das Wichtigste, was es im Augenblick zur Zukunft des Gefängnisse zu sehen gibt. Ich meine: die Bewegung zur "[[Restorative Justice]]". Diese Bewegung, die sich zunächst fast unbemerkt an den Rändern der alten angelsächsischen [[Kriminologie]] - in Australien, Neuseeland und Kanada - entwickelte, nimmt Abschied von den langweiligen Ritualen des Streits zwischen linker, liberaler und rechter [[Kriminalpolitik]]. Sie interessiert sich weder für das Ideal der fürsorglichen Behandlung noch für das neo-konservative oder neo-klassische Programm der just deserts. Nicht umsonst entwickelte sich "Restorative Justice" in Gegenden, in denen es noch intakte Gemeinschaften der Urbevölkerung gab - und die ersten Impulse kamen denn auch von der Kulturanthropologie der 60er und 70er Jahre sowie von rechtssoziologischen Forschungen,die sich mit dem Konflikt der traditionellen Rechtsordnung mit dem kolonialen Recht befasst hatten. Aus dieser Perspektive entwickelte sich das Bild einer von dem traditionell "westlichen" Modell radikal abweichenden Art der Lösung von "kriminellen" Konflikten, die gleichwohl (und nach der Ansicht vieler Intellektueller sogar "besser") funktioniert (vgl. Györy 2008).


Die Reputation des heutigen Gefängnissystems ist nicht besonders gut. Genauer: das Gefängnis ist heute sehr viel schlechter angesehen als zur Zeit seiner Entstehung. Das erste Bridewell war ein veritables Schloss des Königs. Er wurde für seine gute Tat gelobt und man lobte auch das Schloss und seine Ausstattung, seine Wirkungsweise, seine Funktion. Das Land war stolz auf die Bridewells. Als die holländischen Zucht- und Arbeitshäuser gegründet wurden, kamen Delegationen aus aller Herren Länder, um diese wunderbaren Werke der Mildtätigkeit und Effizienz zu bestaunen und umgehend zu kopieren. Die zivilisierte Welt war begeistert von diesen Monumenten des Fortschritts und der Humanität. Noch größer war die Begeisterung der Welt für die Gefängnisse der Quäker in Philadelphia und das Gefängnis in Auburn, im Staate New York, das diesem eine andere Philosphie entgegensetzte. Aber Philosophien hatte beide - und Bewunderer auch. Die europäischen Parlamente, aber auch die Zeitschriften für die gebildeten Stände glühten in ihren teils idealistisch, teils ökonomisch und pragmatisch fundierten Auseinandersetzungen darüber, welches das bessere System sei. Herrscher schickten ihre besten Köpfe, um vor Ort zu recherchieren. Ihre Berichte erregten Aufsehen und erzeugten leidenschaftliche Debatten. Da konnte man sicher sein: eine Institution, um deren Optimierung so leidenschaftlich gefochten wird, hat ihre Zukunft wahrlich noch vor sich.  
Nach John Braithwaite ist Restorative Justice eine Form der Rechtsprechung, an der möglichst alle von einer Handlung betroffenen Personen teilnehmen und sowohl die Handlung selbst als auch deren Folgen für alle Betroffenen möglichst zwanglos besprechen. Es geht dabei um die Art und Weise der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sowohl in psychischer als auch in materieller Hinsicht. Es geht um den Gefühls- und den Materialschaden auf der Seite des Opfers wie auch um die Wiederherstellung des Status des Täters in der Gemeinschaft - und last not least geht es um die Wiederherstellung der sozialen Kohäsion, die durch die Handlung geschwächt wurde. Zentral ist dabei die moralische Beschämung des Täters: erst wenn der Täter sich für seine Tat schämt, wenn er das Unrecht und die Notwendigkeit der Wiedergutmachung einsieht und bereit ist, sich dafür auch selbst zu engagieren, wird es möglich, ihm eine Brücke zur Reintegration zu bauen (reintegrative Beschämung). Eine zweite wichtige Voraussetzung ist die Zwanglosigkeit der Kommunikation - das heißt aber auch: die größtmögliche Distanz zu staatlichen Zwangspersonen wie Staatsanwälten oder Richtern. Schon das unterscheidet die Restorative Justice gravierend vom herkömmlichen Strafprozess. Tatsächlich ist aber praktisch alles anders - sogar das Ziel der Verhandlung. Ziel ist nicht eine abstrakte Bestrafung und die Wiederherstellung eines abstrakten Rechtsfriedens, sondern die positive Beendigung des Konfliktsfür die unmittelbar Beteiligten, die "caring community". Das Ziel ist nicht die Strafe und die Stärkung der staatlichen Autorität, sondern die Heilung von Verletzungen.


Welch ein Kontrast bietet die heutige Diskussion um das Gefängnis. Früher war man stolz auf möglichst viele Gefängnisse. Heute ist den USA die Erwähnung ihrer Einsperrungsraten peinlich. Niemand reist in die USA, um die dortigen Gefängnisse als Modell für das eigene Land zu studieren. Das Gefängnis wird als notwendiges Übel akzeptiert, aber nicht gelobt und nicht geliebt. Niemand verzehrt sich vor Leidenschaft für ein bestimmtes Modell. Gefängnisse erwecken keine positiven Kollektivgefühl mehr, sondern nur noch negative.
In einer breit angelegten Sekundäranalyse kommt [[John Braithwaite]] (2001) zu dem Schluss, dass es Alternativen zur traditionellen Strafjustiz und zum Gefängnis gibt, die diesen in jeder Hinsicht überlegen sind. In jeder Hinsicht heißt: im Hinblick auf die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten, aber auch im Hinblick auf die Einwirkung auf die Täter und im Hinblick auf die Erwartungen des sozialen Umfeldes im Stadtviertel oder in der Gemeinde. Interessanterweise zeitigt Restorative Justice in der Praxis sogar im Hinblick auf die Ziele der Abschreckung, der Sicherung (Unschädlichmachung) und Resozialisierung bzw. Rehabilitation bessere Ergebnisse als das herkömmliche Strafsystem. "Aktive Abschreckung" als Teil einer dynamischen Regulationspyramide im Sinne Braithwaites ist geradezu ein Markenzeichen gut funktionierender Restorative Justice in einem dynamischen Eskalationssystem, das jeweils nur dann zur nächsten Stufe übergeht, wenn Reaktionen auf der darunter liegenden Intensitätsstufe wiederholt wirkungslos bleiben. - Die Kritiker können also beruhigt sein: zusammen mit der Abschaffung der Gefängnisse werden gleichzeitig auch noch andere Strukturen unserer Gesellschaft verändert. Sogar die Strukturen der Strafjustiz und die Vorstellungen von der Rolle des Staates und seiner Zwangsinstitutionen bei einer gerechten Konfliktlösung.  


Das wirft einen Schatten auf die Zukunft dieser Institution. Einen Schatten, dessen Kraft man sich um  so mehr bewußt wird, je mehr man auf die historischen Parallelen achtet.  
Der dritte Einwand gegen die Abschaffung der Gefängnisse betrifft die Frage der Wahrung der Grundrechte und der prozessualen Garantien. Wenn die reintegrative Beschämung eine möglichst große Distanz zu den staatlichen Zwangsapparaten erfordert, dann stellt sich sofort die Frage, wie unter solchen Bedingungen die Grundrechte der Beteiligten und ihre prozessualen Garantien zu sichern sind. Das ist tatsächlich ein Dilemma. Denn ohne Staat besteht immer das Risiko der Verzerrung des Gesprächsprozesses durch die unterschiedlich verteilte soziale Macht. Holt man den Staat aber zurück, riskiert man das Scheitern der auf Ungezwungenheit basierenden Konfliktregelung.  


Eine Parallele könnte die Abschaffung der Sklaverei sein. Auch damals, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gab es eine Kombination von quantitativer Expansion und qualitativem Reputationsverlust. Die Sklaverei war unter quantitativen Gesichtspunkten eine Institution mit Zukunft. Niemals zuvor gab es so viele Sklaven auf der Welt und so viele Sklaventransporte von Afrika nach Amerika wie in den Jahrzehnten, die der Abschaffung von Sklavenhandel und Sklavenhaltung unmittelbar vorausgingen. Die Sklaverei ging nicht langsam und graduell, sondern ruckartig und katastrophal zu Ende. Von den ersten politischen Kampagnen gegen den Sklavenhandel bis zur Abschaffung der Sklaverei in den USA vergingen nicht einmal 100 Jahre. Im historischen Prozess ist das blitzschnell - und es bedeutet nichts anderes, als dass die Institution des Gefängnisses, die heute erst unter einem gewissen Reputationsverlust, aber noch nicht unter einer Bedrohung seiner Existenz leidet, in 100 Jahren eine Sache der Vergangenheit geworden sein könnte. Vielleicht ein wenig früher oder später. Aber immerhin. Vielleicht gibt es in zehn Jahren die erste Gesellschaft ohne Gefängnisse in unserer Zeit, in zwanzig Jahren eine kleine Welle an Abschaffungen und in fünfzig Jahren nur noch die USA und einige ander Länder wie China und Zimbabwe, die am Gefängnis als Institution der Kriminalstrafe festhalten. Vielleicht geht es der Gefängnisstrafe so wie heute schon der Todesstrafe: immer mehr Argumente türmen sich gegen die Institution auf, immer mehr Gesellschaften verzichten stolz auf diese Strafe und immer weniger Staaten wehren sich mit immer schlechteren Argumenten und schlechterem Gewissen gegen ihre Abschaffung ...  
Interessanterweise ist es wieder John Braithwaite, der sich dieses Problems angenommen hat, indem er sich mit der Frage nach den "Standards für wiederherstellende Gerechtigkeit" und ihrem Verhältnis zu juristischen Garantien auseinandersetzte (Braithwaite 2002). Gewisse juristische Garantien wie z.B. das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und das des due process können in der Restorative Justice wegen ihrer Konzentration auf die jeweils einzigartige Situation nur beschränkt zur Geltung kommen. Es gelingt John Braithwaite aber, auch die Rolle und die Funktion der strafrechtlichen Konfliktregelung im Rahmen einer neuen Theorie der Gerechtigkeit umzudeuten, deren zentraler Wert die Freiheit von Fremdbestimmung darstellt (freedom as non-domination). Das Ziel von Restorative Justice ist es in John Braithwaites "Republikanischem Modell" der reintegrierenden Beschämung, die richtige Lösung zu finden. Das Maß für die Richtigkeit ist das "Dominium" aller Beteiligten, d.h. die Maximierung von Würde, Freiheit und Eigentum bei allen, die an dem Konflikt beteiligt waren oder sind.


== Ein mögliches Ziel ==
Der vierte Einwand gegen die Abschaffung der Gefängnisse ist ausgerechnet die [[Kriminalität der Mächtigen|Straflosigkeit der Mächtigen]]. Selbst wenn man das Gefängnis abschaffen wolle, müsse man es doch für die großen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beibehalten. Oder wolle man die denn einfach laufen lassen?


Gefängnisse sind Institutionen mit vielen Aufgaben. Eine Aufgabe ist die Besserung der Gefangenen. Sie sollen eine Ausbildung, vielleicht eine Behandlung, eine Therapie, eine Portion Realismus und Selbstvertrauen und einen Kontakt zu positiven Anknüpfungspunkten in der Gesellschaft erhalten. Das ist das Gefängnis als Instrument des rehabilitativen Ideals (Kritiker sagen: das ist das Gefängnis der Behandlungsideologie). Eine andere Aufgabe besteht in der Unschädlichmachung der Gefangenen. Das Gefängnis ist auch dazu da, dass Gefangene während ihrer Haftzeit keine Straftaten mehr begehen können: wer wegen einer Vergewaltigung oder eines Mordes einsitzt, der ist auch deshalb im Gefängnis, weil man sichergehen will, dass er in der Zeit seiner Strafe jedenfalls draußen, also in der freien Gesellschaft, keine weiteren Straftaten mehr begehen kann. Das ist das Gefängnis des Sicherheits-Staates (Kritiker sagen: das ist das Gefängnis der Sicherheitshysterie). Die vorrangige Aufgabe des Gefängnisses aber ist die Bestrafung von Kriminellen. Wer nicht bestraft werden soll, der kommt auch nicht ins Gefängnis. Weder zur Besserung noch zur Sicherung. Am Anfang des Gefängnisses steht die Aufgabe der Bestrafung - und das heißt: am Anfang der Institution steht ihre Aufgabe als Institution der vorsätzlichen Zufügung von Leid.
Abgesehen davon, dass man sie immer hat laufen lassen, gibt es natürlich viele gute Gründe, die oberen Etagen der Macht mit mehr Gründlichkeit nach Delikten zu durchforsten. Auch das hat übrigens John Braithwaite (2005) vorgemacht. Wenn es aber stimmt, dass dem Wohl der Gesellschaft am besten gedient ist mit einer Art der Rechtsprechung, die nicht einfach auf Vergeltung, sondern auf "wiederherstellende Gerechtigkeit" abzielt und auf die Maximierung von Freiheit, Würde und Eigentum aller Beteiligten sowie auf das reintegrierende Beschämen der Täter, dann gibt es keinen guten Grund, das neue System der Konfliktregelung nicht auch auf solche Fälle anzuwenden.
 
Die Suche nach Wegen, die in eine Welt ohne Gefängnisse führt, könnte von einem Werturteil motiviert werden: dem Werturteil, dass es gut wäre, die Summe des in der Welt zugefügten Leides zu vermindern. Eine der kontinuierlichsten, stärksten und verbreitetsten Quellen der vorsätzlichen Leidzufügung aber ist überall auf der Welt das System der staatlichen Strafen und innerhalb dieses Systems sind es vor allem die Todesstrafe und die Gefängnisstrafe. Wenn die positiven und legitimen Zwecke, mit denen diese Institutionen ihre Existenz rechtfertigen, auch anders und besser - d.h. mit der Zufügung von weniger Leid - ebenso gut oder besser erreicht werden könnten, dann stünde aus dieser Perspektive jedenfalls einer Abschaffung der Gefängnisse nichts mehr im Wege. Die entscheidenden Fragen allerdings müßten beantwortet werden: gibt es gute Alternativen zum Gefängnis? Und wie sähe wohl der Weg in eine Welt ohne Gefängnisse aus? Welche Schritte wären zu unternehmen, welche Fehler zu vermeiden?
Ein denkbares Ziel wäre die Abschaffung aller Arten von Einschließung: nicht nur des Gefängnisses als einer Institution der Strafe, sondern auch der Einschließung in psychiatrischen Anstalten ("Die Anstalten öffnen""), im Polizeigewahrsam und überhaupt. Es ist möglich, ein solches Ziel zu wollen und zu wünschen und dafür zu argumentieren.
Unter der Überschrift "Welt ohne Gefängnisse" aber ist das Ziel automatisch bescheidener. Es geht nicht um die Abschaffung der Ausnüchterungszelle auf der Polizeiwache und auch nicht um die Abschaffung der psychiatrischen Anstalten. Es geht auch nicht um die Abschaffung jeder Art des Freiheitsentzugs. Es geht nur um die Abschaffung des Gefängnisses als einer Institution des Freiheitsentzugs.
 
Es geht nur darum, das Gefängnis als Instrument der Bestrafung abzuschaffen. Nicht einmal automatisch um die Abschaffung jeder Bestrafung. Auch das ließe sich diskutieren. Aber das wäre eine andere Diskussion. Eine Welt ohne Gefängnisse lässt dem Gedanken an alternativen Strafen ohne Freiheitsentzug, an extramurale Strafen und an Alternativen zur Freiheitsstrafe gleichermaßen viel Raum. Ein mögliches Ziel besteht darin: nicht jede Einschließung soll abgeschafft werden, sondern nur das Gefängnis als Institution der Strafe. Nur die Politik der Strafen soll sich ändern: entweder sollen Strafen überhaupt nicht mehr stattfinden - oder sie sollen ambulant, nicht-stationär, extramural stattfinden. Dass es Menschen gibt, die in bestimmten Situationen außer Kontrolle geraten und eine Gefahr für sich oder andere darstellen, und die man mangels besserer Interventionsmöglichkeiten aus Gründen der Sicherheit einsperren muss, bis die Gefahr (von selbst oder durch Behandlung) wieder vorüber ist, steht unter der Überschrift "Welt ohne Gefängnisse" nicht zur Debatte. Der Weg in eine Welt ohne Gefängnisse ist auch so eine lohnende Herausforderung. Und wenn sich auf dem Wege zur Welt ohne Gefängnisse noch mehr Abschaffungsmöglichkeiten realisieren lassen - um so besser. So oder so ähnlich jedenfalls argumentieren diejenigen, die sich genau so, wie andere für eine Welt ohne Todesstrafe engagieren, für eine Welt ohne Gefängnisse einsetzen.
 
 
== Welcher Weg, bitte, führt ins Paradies? ==
 
Über den richtigen Weg ins Paradies der gefängnislosen Gesellschaft streiten sich die Gelehrten und die Aktivisten. Das ist nicht anders als im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Damals standen sich die Abolitionisten (die eine sofortige und unbedingte Abschaffung der Sklaverei forderten, in der sie eine "Sünde" sahen) und die Gradualisten (die für eine sozialverträgliche Reduktion und ein allmähliches Herunterfahren der Sklavenhaltung eintraten) in erbitterter Gegnerschaft gegenüber.
Dementsprechend kann man (radikale) Abolitionisten, die sich für eine sofortige und umfassende Abschaffung aller Gefängnisse aussprechen, von Reduktionisten, Minimalisten und Gradualisten unterscheiden, die sich vorläufig auch mit einem Baustopp, einem Moratorium, einer allmählichen oder sektoralen Abschaffung (etwa nur der Jugendgefängnisse) begnügen würden.
 
Andere Unterschiede betreffen die Frage nach der Formulierung und nach der Funktion von Alternativen zum Gefängnis. Die radikalen Abolitionisten verweigern oft die Antwort auf die Frage danach, was denn an die Stelle der Gefängnisse treten solle, wenn diese erst einmal abgeschafft wären. Sie können sich auf Gustav Radbruchs Forderung nach einer "negativen Kriminalpolitik" berufen, die sich zunächst einmal auf die Abschaffung überflüssiger Repression konzentriert, ohne sich in der Gestaltung neuer und angeblich besserer Kriminalpolitik zu verlieren. Sie können sich aber auch auf die Tradition der Kritischen Theorie und auf die Devise ihres berühmten Philosophen Theodor W. Adorno berufen, dass der Gegenstand der Wissenschaft niemals das Gute sein sollte, sondern nur das Schlechte. Was schlecht sei, das ließe sich benennen und bekämpfen, so Adorno, aber wenn Intellektuelle damit begännen, sich Blaupausen für die positive Gestaltung einer besseren Gesellschaft auszudenken, dann überschritten sie ihre Fähigkeiten und ihre Kompetenzen. Dahinter steht natürlich der jüdisch-christliche Gedanke des deus absconditus, der Verborgenheit Gottes: von Gott kann und soll man sich kein Bild machen, das absolut Gute entzieht sich jeder menschlichen Vorstellung und Gestaltung. Was der Mensch kann, ist allenfalls, sich dem Schlechten zu verweigern: was eine Sünde ist, kann man wissen, dagegen kann und soll man sich wehren.
 
Für viele ist diese eher theologische Argumentation nicht ohne weiteres einsichtig. Sie erinnern an die Kampagnen der Kämpfer gegen die Sklaverei, die sehr viel Zeit und Energie investierten, um zweifelnden Gemütern zu erklären, wie sie den ökonomischen Verlust, den die Abschaffung der Sklaverei bedeutete, durch alternative Produkte und neue Formen des Wirtschaftens würden auffangen können. Ihr Argument ist ein pragmatisches: man kann niemandem überzeugen, wenn man ihm nicht vor Augen führt, wie es ohne die Sklaverei weiter gehen könnte. Dementsprechend hätten die Menschen auch ein Recht zu erfahren, was denn nun - wenn es keine Gefängnisse mehr geben sollte - mit Sexualstraftätern, mit Serienkiller, mit Mafia-Mördern und mit anderen gefährlichen Kriminellen passieren solle.
 
 
 
== Interessante Ansätze ==
 
Ansätze, über die nachzudenken sich lohnt, gibt es in größerer Zahl als man allgemein zu glauben geneigt ist. In wenigen Fällen gibt es Beispiele von plötzlichen und radikalen Abschaffungen. Viel häufiger gibt es Beispiele von vorsichtigen, geplanten, partiellen Reduktionen oder teilweisen Abschaffungen. Auf beide Arten lohnt sich ein näherer Blick.
 
Radikale und plötzliche Abschaffungen führen zwar meist zu Krisen, aber interessanterweise nicht zu Katastrophen. Dies gilt für die Abschaffung der Jugendgefängnisse im US-Bundesstaat Massachusetts ebenso wie für ungeplante Massenentlassungen von Menschen aus psychiatrischen Anstalten, die als die gefährlichsten psychisch kranken Straftäter eines ganzen Bundesstaates galten. Vielleicht wäre es sinnvoll, diese wenigen Beispiele noch viel genauer zu untersuchen, als es bisher geschehen ist. Vielleicht könnte man noch mehr Mut schöpfen und noch viel mehr über unsere Tendenzen zur Überschätzung der Risiken durch andere Menschen lernen ...
 
Die meisten Ansätze zur Überwindung von Gefängnissen betreffen vorsichtigere und schrittweise ("gradualistische") Strategien, die sich auf eines der folgenden vier Ziele (oder auf eine Kombination davon) richten:
 
*Abschaffung eines Teils des Gefängnissystems (wie z.B. der Jugendstrafanstalten oder der Arbeitshäuser; sog. segmentärer Abolitionismus)
 
*Verminderung der Gefangenenzahlen und -raten in einem Staat, Bundesland oder einer Region (Abbau der Größe und Ausdehnung des Gefängnissystems; Baustopp; Schließung von Anstalten, Verminderung der Zahl der Haftplätze, Verminderung der Zahl der Inhaftierten --- Vermeidung von Inhaftierung durch Diversion, alternative Strafen, Alternativen zur Strafe; Restorative Justice; Transformative Justice; Sozialtherapie außerhalb des Strafvollzugs; Community Treatment)
 
*Verkürzung der Freiheitsstrafen (Reduzierung der Länge der Strafen durch den Gesetzgeber oder durch die Strafvollzugsbehörden durch extensive Gewährung von vorzeitigen Entlassungen zur Bewährung - z.B. unter Auflagen)
 
*Erleichterung der Haftbedingungen, positive Nutzung der Haftzeit (Verminderung der Tiefe der Strafe: Verbesserung der Ausstattung der Zellen, der Arbeitsbedingungen, Verminderung der sozialen Deprivation durch mehr Ausgänge, Urlaub, Besuchsmöglichkeiten, Kommunikationsmöglichkeiten mit Personen außerhalb der Anstalt usw. - Beratung oder Therapie zur Stärkung der Persönlichkeit; Sozialtherapie im Strafvollzug).
 
== Empirie gegen Gefängnisse ==
 
here are good theoretical and empirical grounds for anticipating that well designed restorative justice processes will restore victims, offenders, and communities better than existing criminal justice practices. Counterintuitively, he also shows that a restorative justice system may deter, incapacitate, and rehabilitate more effectively than a punitive system. This is particularly true when the restorative justice system is embedded in a responsive regulatory framework that opts for deterrence only after restoration repeatedly fails, and incapacitation only after escalated deterrence fails. Braithwaite's empirical research demonstrates that active deterrence under the dynamic regulatory pyramid that is a hallmark of the restorative justice system he supports, is far more effective than the passive deterrence that is notable in the stricter "sentencing grid" of current criminal justice systems.


== Literatur ==
== Literatur ==
http://hepg.org/her-home/issues/harvard-educational-review-volume-44,-issue-1/herarticle/a-case-study-of-the-massachusetts-youth-correction


*Bernhard, Sigrid et al. (1990) Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe. Zeitschrift für Evangelische Ethik 34: 218-294.
*Agamben, Giorgio (    ) ''Was ist ein Lager?'' In: Ders., Mittel ohne Zweck. Notizen zur Politik. 
 
*Bernhard, Sigrid et al. (1990) ''Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe''. Zeitschrift für Evangelische Ethik 34: 218-294.
*Bohne, Gotthold (1922-1925) Die Freiheitsstrafe in den italienischen Stadtrechten des 12.-16. Jahrhunderts. Leipzig: Theodor Weicher (2 Bände; Nachdruck Leipzig 1970).  
*Bohne, Gotthold (1922-1925) ''Die Freiheitsstrafe in den italienischen Stadtrechten des 12.-16. Jahrhunderts''. Leipzig: Theodor Weicher (2 Bände; Nachdruck Leipzig 1970).  
 
*Braithwaite, John (2001) ''Restorative Justice & Responsive Regulation''. Oxford: Oxford University Press.
*Braithwaite, John  
*Braithwaite, John (2002) ''Setting Standards for Restorative Justice''. The British Journal of Criminology 42. No. 3: 563-578.
 
*Braithwaite, John (2005) ''Meta Regulation of Justice''. Regulatory Institutions Network Research Papers. No. 4 ANU (=Australian National University).
*Chamberlain, Patricia
*Chamberlain, Patricia & John B. Reid (1991) ''Using a Specialized Foster Care Community Treatment Model for Children and Adolescents Leaving the State Mental Hospital''. Journal of Community Psychology 19: 266-276.
 
*Christie, Nils (1982) ''Limits to Pain''. Oslo: Universitetsforlaget.
*Christie, Nils
*Christie, Nils (2000) ''Crime Control as Industry'': Towards Gulags Western Style. 3rd ed. London: Routledge.
 
*Cornel, Heinz (2008) ''Alternativen zum Gefängnis zwischen Alibi, Reformpolitik und realem Abolitionismus''. Kriminologisches Journal 40: 54-66.
*Cornel, Heinz
*Davis, Angela Y (2003) ''Are Prisons Obsolete''? New York.
 
*Deleuze, Gilles (1992) ''Postscript on the Societies of Control''. In: October, 59, S.3-7.
*Feest, Johannes & Bettina Paul  
*Feest, Johannes & Bettina Paul (2008a) ''Editorial - Ist das Gefängnis noch zu retten''? Kriminologisches Journal 40: 3-5.
 
*Feest, Johannes & Bettina Paul (2008b) ''Abolitionismus. Einige Antworten auf oft gestellte Fragen''. Kriminologisches Journal 40: 6-20.
*Foucault, Michel  
*Foucault, Michel (2004) ''Vigilar y Castigar. Nacimiento de la prisión''. Mexico, D.F.: siglo XXI.
 
*[http://revistes.ub.edu/index.php/CriticaPenalPoder/article/viewFile/2952/3218 Gómez Jaramillo, Alejandro (2008) Un mundo sin cárceles es posible. Prologado por Sebastian Scheerer. México: Ediciones Coyoacán, Rezension von Alejandro Forero Cuellar Revista Crítica Penal y Poder 2012, nº 2, (pp.232)].
*Knopp, Fay Honey
 
*Miller  & Ohlin
 
*Mitford, Jessica


*Ryan, Mick & Joe Sim
*Györy, Csaba (2008) ''Ein pragmatischer Idealist: John Braithwaite''. Unveröffentlichtes Manuskript Hamburg. 
*Knopp, Fay Honey / Barbara Boward / Mark Morris (1976) ''Instead of Prisons. A Handbook for Abolitionists''. Syracuse/New York. Online: http://www.prisonpolicy.org/scans/instead_of_prisons/
*[http://www.monografias.com/trabajos916/de-la-prision/de-la-prision.shtml Maia, Cândido Furtado Neto: De la prision a las alternativas: la abolicion de la pena privativa de libertad]


*Steadman,  
*Miller, Alden D & Ohlin, Lloyd E (1985) ''Delinquency and Community: Creating Opportunities and Controls''. London: Sage Publications.
*Mitford, Jessica (1977) ''Für die Abschaffung der Gefängnisse''. Telgte-Westbevern.
*Pew (2008) ''The Pew Center on the States: One in 100 Behind Bars in America 2008''. Februar 2008, aufgerufen am 11. 03. 08 unter: http://www.pewcenteronthestates.org/uploadedFiles/One%20in%20100.pdf
*Ryan, Mick & Joe Sim (2007) ''Campaigning for and Campaigning Against Prisons: Excavating and Reaffirming the Case for Prison Abolition''. In: Jewkes, Yvonne (Ed) Handbook on Prisons. Cullompton/Devon.
*Steadman, Henry J. & Cocozza, Joseph J (1974). ''Careers of the Criminally Insane''. Lexington, Mass.: Lexington Book.
*Stern, Vivien (2006) ''Creating Criminals. Prisons and People in Market Society''. London, New York: Zed Books.


*Stern, Vivien
== Weblinks ==


== Links ==
*''Eine Welt ohne Gefängnisse''. FAU-AMSEL. aufgerufen am 3.3.08: http://projekte.free.de/fau-amsel/e107_files/downloads/Umsonsthefte/Umsonst082.pdf
*''Does Abolitionism Have a Future? Documentation of an Email Exchange among Abolitionists'': http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/IKS/KrimInstituteVereinigungenZs/Zusatzmaterial.html


*Eine Welt ohne Gefängnisse. FAU-AMSEL. aufgerufen am 3.3.08: http://projekte.free.de/fau-amsel/e107_files/downloads/Umsonsthefte/Umsonst082.pdf
[[Kategorie:Abolitionismus]]

Aktuelle Version vom 26. Juli 2014, 19:17 Uhr

Die Welt ohne Gefängnisse war zwar bis vor einigen Jahrhunderten der Normalfall, doch inzwischen kann man sich das Verschwinden der Gefängnisse kaum noch vorstellen. Den meisten Menschen erscheinen Gefängnisse als notwendiges Übel, auf das man auch in Zukunft nicht wird verzichten können. Wahrscheinlicher ist allerdings das Verschwinden der Gefängnisse in einer nicht allzu fernen Zukunft.

Geschichte

Die Geschichte kann die Dimensionen aufzeigen, um die es sich handelt. Wenn man unter "Welt" das aktuell existierende Universum versteht, dann gibt es die "Welt" seit gut 13 Milliarden Jahren. Versteht man unter "Welt" den Planeten Erde, dann meint man damit einen Himmelskörper, der von seinen voraussichtlich 12 Milliarden Jahren Lebenszeit gerade mal 4,5 Milliarden hinter sich (und logischerweise noch 7,5 Milliarden vor sich) haben dürfte. Pflanzen und Tiere gibt es allerdings erst seit einer halben Miliarde Jahren (und voraussichtlich bestenfalls noch eine weitere halbe Milliarde, so dass die Erde noch einige Milliarde Jahre als toter Brocken auf ihr endgültes Verdampfen wird warten dürfen, längst ungestört vom "homo sapiens", dessen unmittelbare Vorfahren mit der biologischen Bezeichnung "homo" vor ca. 2,5 Millionen Jahren auftauchten und erst vor rund 250 000 Jahren dem "homo sapiens" weichen mußten, der seither die Regierung übernommen hat). Gefängnisse waren allerdings nicht das erste, an was der homo sapiens sapiens dachte, als er sich zu organisieren begann. Es dauerte bis zum Jahr 10 000 vor unserer Zeitrechnung, dass aus den Jägern und Sammlern ganz allmählich Ackerbauern und Viehzüchter wurden und damit auch die ersten festen Siedlungen entstanden. In befestigten Bauten wurden während der letzten Jahrtausende vor der Zeitenwende auch Freiheitsentziehungen möglich und zu verschiedenen Zwecken praktiziert - etwas zwecks Vorhaltung von Gefangenen zwecks Austausch, Lösegeldzahlungen usw.; doch die Erfindung der Institution des Gefängnisses als Form der Kriminalstrafe sollte noch lange auf sich warten lassen.

Das Gefängnis als ein Einschließungsmilieu, das der Bestrafung durch Freiheitsentzug und meist auch zugleich der Besserung der Betroffenen dient, ist eine vergleichsweise junge Einrichtung. Während Gotthold Bohne die Entstehung des Gefängnisses auf das 12. bis 16. Jahrhundert (in Norditalien) datierte, sehen andere die Frühform der Freiheitsstrafe in London (Bridewell, 16. Jahrhundert) zum ersten mal realisiert. Michel Foucault hingegen erblickte im Gefängnis ein Produkt der "Großen Transformation" von 1760 bis 1840, während derer die nordamerikanischen Gefängnis-Modelle von Philadelphia und Auburn sich über Westeuropa ausbreiteten (Bohne 1925; Foucault 2004).

Trotz der Tatsache, dass es sich um eine vergleichsweise junge Institution handelt, ist die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse den meisten Menschen suspekt. Was, so denken sie, soll man denn sonst machen? Umbringen will und kann man die Verbrecher ja nicht - aber andererseits kann man es sich auch nicht leisten, sie einfach so herumlaufen zu lassen. Deswegen gilt das Gefängnis als notwendiges Übel. Der Glaube an die Notwendigkeit des Gefängnisses ist heute weiter verbreitet als der Glaube an Gott.

Die aktuelle Situation

Aktuell scheint es für die Institution gut zu laufen: die Zahl der Gefängnisse und der Gefangenen weltweit nimmt kräftig zu und es ist kein Ende in Sicht. Insbesondere in den USA ist der Boom der Gefängnisse ungebrochen. In keinem Land der Erde wächst das System der Gefängnisse so schnell und so grenzenlos wie in den USA. Nirgendwo sonst sitzt von jeweils 100 Bürgern einer hinter schwedischen Gardinen. Aber in den USA mit ihren (mehr als) 200 Millionen Einwohnern gibt es (mehr als) 2 Millionen Gefangene: "One in 100" (Pew 2008). Angesichts dieser exorbitanten Zahlen liegt der Vergleich der USA mit dem einstigen sowjetischen Lagersystem nahe, das wie ein dichtes Netz das ganze Territorium der Sowjetunion überzog (Christie 2000).

Was kommt nach dem Gefängnis?

Nach Gilles Deleuze kommt nach dem Gefängnis ein System der ambulanten elektronischen Überwachung. Jedenfalls sah er in seinem kurzen Aufsatz über "Das elektronische Halsband" die von Foucault beschriebene Disziplinargesellschaft und die für sie typischen Einschließungsmilieus (Hospitäler, Fabriken, Kasernen, psychiatrische Anstalten - vor allem aber Gefängnisse) am Ende ihrer historischen Epoche angekommen. Schon heute befinde man sich im Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, und letztere beruhe auf ganz anderen Arten der sozialen Kontrolle als der Einschließung in festen Räumen.

Andere sehen eher die Wiederkehr des totalitären Maßnahmenstaates, der sich wenig um Strafe und Resozialisierung kümmert und dafür mehr um die Bekämpfung von Feinden mit kriegs- und polizeirechtlichen Mitteln. Dafür sind aber Gefängnisse als Institutionen der Justiz weniger geeignet als andere Aufbewahrungsorte und andere Mittel der Unschädlichmachung. So zum Beispiel "Lager" (Agamben) oder gezielte Tötungen.


Einwände

Es sind dies insbesondere drei Einwände.

Erstens heißt es, die Abschaffung der Gefängnisse sei utopisch; sie übersteige die menschliche Vorstellungskraft - und was man sich nicht vorstellen könne, das könne man auch nicht realisieren. Die wenigen, die auf eine besondere Vorstellungskraft vertrauten und sich eine Welt ohne Gefängnisse ausmalten, seien keine Visionäre, sondern (harmlose oder weniger harmlose) Geisteskranke: eher mit Don Quixote in seinem Kampf gegen die Windmühlen zu vergleichen als mit aufgeklärten Reformern.

Was dieses Argument angeht, so habe ich der Widerlegung, die sich in diesem Buch findet, nichts hinzuzufügen (zumal der Autor das, was ich dazu zu sagen habe, freundlicherweise schon zitiert hat). Höchstens dieses: das Verhältnis von Vorstellung und Realität ist sehr viel mysteriöser, als die meisten Menschen glauben. Die meisten Menschen sagen: was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das muss logischerweise eine noch geringere Chance auf eine Daseinsform in der Realität haben. Was man sich "gerade noch" vorstellen kann, das hat vielleicht eine minimale Chance auf Realisierung; was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das hat absolut gar keine Chance, jemals Realität zu werden. Doch so ist es gerade nicht. Die reale Geschichte der Welt ist voller Ereignisse, die zur allgemeinen Verblüffung der Zeitgenossen passierten. Wer hat denn 1958 vorhergesehen, dass ein Jahr später eine 50jährige Castro-Herrschaft auf der Insel Cuba beginnen könnte? Wer hat 1916 die Oktoberrevolution in Russland und die Herrschaft Stalins vorhergesehen? Wer hat 1988 den Fall der Berliner Mauer und den Untergang der Sowjetunion vorhergesehen? Und wie wäre das allgemeine Urteil der Mehrheit über die drei oder vier Personen ausgefallen, die solche Vorhersagen gewagt hätten? Hätte man sie nicht für Phantasten, für Spinner und Sonderlinge gehalten? Und war es nicht genau das, was man in den USA über die Vorkämpfer der Sklavenbefreiung dachte, bis es dann plötzlich doch so weit war? Eine Welt ohne Sklaverei - das war für die Südstaatler bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs unvorstellbar. Mit anderen Worten: es sind immer nur wenige Individuen, deren Vorstellungskraft ausreicht, um sich ein Bild von einer möglichen Zukunft zu machen, die mehr ist als nur die Extrapolation eines bekannten Trends. Um der Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen, kann es manchmal auch nützlich sein, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Was die Gefängnisse angeht, so schrumpft ihr Ewigkeits-Nimbus ganz gehörig, wenn wir einen distanzierten Blick auf die Geschichte des homo sapiens sapiens werfen.

Das Gefängnis ist also eine sehr junge Institution, und es gibt einige Hinweise darauf, dass sie auch nicht viel älter werden, sondern durch andere Formen der Sanktionierung und Konfliktregelung schon bald abgelöst werden wird. Schon Gilles Deleuze (1992) hatte vielleicht nicht unrecht, als er vor einigen Jahren erklärte: Wie viele andere Einschließungsmilieus ist das Gefängnis eine Einrichtung, die schon längst überholt ist und nur noch auf ihre Abschaffung wartet.

Zweitens heißt es, eine Abschaffung der Gefängnisse sei deswegen unrealistisch, weil sie gar nicht isoliert durchzuführen sei, sondern als Voraussetzung eine Veränderung ganz anderer Strukturen der Gegenwartsgesellschaften erfordere. Ohne eine vorherige Veränderung der politischen und der ökonomischen Machtstrukturen sei die Abschaffung von Gefängnissen eine blanke Illusion.

Dies ist ein zähes Argument, weil es weder ganz richtig noch ganz falsch ist. Es ist nicht ganz richtig, weil es das Verhältnis zwischen Ökonomie und Recht als Einbahnstraße zwischen der Basis (der Ökonomie) und dem Überbau (dem Recht) betrachtet, während sich doch sogar unter traditionellen Marxisten schon herumgesprochen hat, dass die Dinge sehr viel komplizierter sind und damit auch sehr viel mehr Dynamik entfalten können. Erstens ist die Zuordnung von gesellschaftlichen Phänomenen zu diesen beiden Sphären alles andere als eindeutig regelbar und zweitens führt kein Weg an der Anerkennung starker Wechselwirkungen zwischen "Basis" und "Überbau" vorbei. Viel wichtiger ist aber drittens, dass das Argument auch nicht ganz falsch ist. Tatsächlich geht eine signifikante Veränderung wie die Abschaffung einer Institution (wie z.B. des Gefängnisses) nie ganz isoliert, sondern impliziert auch Veränderungen in benachbarten Sphären. So wäre es z.B. ein durchaus berechtigter Gedanke, dass eine Abschaffung der Gefängnisse nicht möglich wäre ohne eine gewisse (auch tiefgreifende) Veränderung im Strafprozess, in der Straftheorie und in der ganzen Konfiguration von staatlichen Akteuren, Tätern und Opfern. Mit anderen Worten: es ist durchaus nicht falsch zu sagen, dass eine Abschaffung der Gefängnisse auch die Veränderung ganz anderer Strukturen der Gegenwartsgesellschaft impliziert. Doch diese Tatsache - und wahrscheinlich ist es eine - wird vielleicht auch falsch interpretiert, wenn man darin ein Hindernis für die Abschaffung der Gefängnisse betrachtet. Schon gar nicht eignet sich dieses Argument, um die Befürworter einer Welt ohne Gefängnisse als naive Trottel darzustellen. Vielmehr kann dieses Argument uns dafür sensibilisieren, dass bereits heute eine solche Entwicklung im Gang ist. Es ist eine Entwicklung, die real ist und die fortschreitet. Zugleich ist es eine Entwicklung, die heute noch kaum wahrgenommen wird, weil sie sich nicht dort vollzieht, wo der Fokus der Aufmerksamkeit liegt, sondern an den Rändern der wahrnehmbaren Welt. Es ist eine Entwicklung, die das Potential besitzt, auf mittlere Sicht das Gefängnis zu besiegen - und es ist eine Entwicklung, die Hand in Hand geht mit einer Transformation der Voraussetzungen, auf denen das Gefängnis beruht: einer Transformation dessen, was unter Gerechtigkeit verstanden wird, und unter der Lösung eines Konflikts.

Man darf sich freilich nicht vom Blick auf das Zentrum der Welt blenden lassen. Man muss auf die Ränder blicken. Doch der Anschein des Erfolgs ist trügerisch. So trügerisch wie der Boom des Sklavenhandels, der seiner Abschaffung vorausgegangen war. Manche Institutionen scheinen ausgerechnet dann noch einmal explosionsartig expandieren zu wollen, wenn sie das Ende nahen spüren - ähnlich wie Sterne, die sich bekanntlich kurz vor dem Sternentod noch einmal ganz gewaltig auszudehnen pflegen. Und ist es nicht eine erwiesene historische Tatsache, dass der Sklavenhandel über den Atlantik seinen Höhepunkt genau in den Jahrzehnten erlebte, die seiner Abschaffung unmittelbar vorausgingen? Wer die wahnsinnige Geschwindigkeit beobachtet, mit der das amerikanische Gefängnissystem alle bisherigen Dimensionen der Einsperrung wie ein Hürdenläufer überspringt, kann gar nicht anders, als an diese Beispiele zu denken. Dies auch deshalb, weil sich in den USA gerade wegen des Irrsinns der Gefängnis-Explosion immer mehr Nicht-Regierungs-Organisationen mit den Ursachen dieser Misere, mit ihren ökonomischen und menschlichen Kosten, mit Alternativen zum Gefängnis und mit Öffentlichkeitsarbeit gegen das Gefängnis befassen. Es ist diese Art der Selbst-Aufklärung und Selbst-Mobilisierung der Zivilgesellschaft, die schon früher die Weichen für große Veränderungen gestellt hatte und die es bald auch in bezug auf die Große Einsperrung tun könnte.

Vor allem aber ist es ungeheuer wichtig, sich nicht vom Zentrum des Imperiums blenden zu lassen. Wer immer nur auf Amerika und Europa blickt, dem entgeht das Wichtigste, was es im Augenblick zur Zukunft des Gefängnisse zu sehen gibt. Ich meine: die Bewegung zur "Restorative Justice". Diese Bewegung, die sich zunächst fast unbemerkt an den Rändern der alten angelsächsischen Kriminologie - in Australien, Neuseeland und Kanada - entwickelte, nimmt Abschied von den langweiligen Ritualen des Streits zwischen linker, liberaler und rechter Kriminalpolitik. Sie interessiert sich weder für das Ideal der fürsorglichen Behandlung noch für das neo-konservative oder neo-klassische Programm der just deserts. Nicht umsonst entwickelte sich "Restorative Justice" in Gegenden, in denen es noch intakte Gemeinschaften der Urbevölkerung gab - und die ersten Impulse kamen denn auch von der Kulturanthropologie der 60er und 70er Jahre sowie von rechtssoziologischen Forschungen,die sich mit dem Konflikt der traditionellen Rechtsordnung mit dem kolonialen Recht befasst hatten. Aus dieser Perspektive entwickelte sich das Bild einer von dem traditionell "westlichen" Modell radikal abweichenden Art der Lösung von "kriminellen" Konflikten, die gleichwohl (und nach der Ansicht vieler Intellektueller sogar "besser") funktioniert (vgl. Györy 2008).

Nach John Braithwaite ist Restorative Justice eine Form der Rechtsprechung, an der möglichst alle von einer Handlung betroffenen Personen teilnehmen und sowohl die Handlung selbst als auch deren Folgen für alle Betroffenen möglichst zwanglos besprechen. Es geht dabei um die Art und Weise der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sowohl in psychischer als auch in materieller Hinsicht. Es geht um den Gefühls- und den Materialschaden auf der Seite des Opfers wie auch um die Wiederherstellung des Status des Täters in der Gemeinschaft - und last not least geht es um die Wiederherstellung der sozialen Kohäsion, die durch die Handlung geschwächt wurde. Zentral ist dabei die moralische Beschämung des Täters: erst wenn der Täter sich für seine Tat schämt, wenn er das Unrecht und die Notwendigkeit der Wiedergutmachung einsieht und bereit ist, sich dafür auch selbst zu engagieren, wird es möglich, ihm eine Brücke zur Reintegration zu bauen (reintegrative Beschämung). Eine zweite wichtige Voraussetzung ist die Zwanglosigkeit der Kommunikation - das heißt aber auch: die größtmögliche Distanz zu staatlichen Zwangspersonen wie Staatsanwälten oder Richtern. Schon das unterscheidet die Restorative Justice gravierend vom herkömmlichen Strafprozess. Tatsächlich ist aber praktisch alles anders - sogar das Ziel der Verhandlung. Ziel ist nicht eine abstrakte Bestrafung und die Wiederherstellung eines abstrakten Rechtsfriedens, sondern die positive Beendigung des Konfliktsfür die unmittelbar Beteiligten, die "caring community". Das Ziel ist nicht die Strafe und die Stärkung der staatlichen Autorität, sondern die Heilung von Verletzungen.

In einer breit angelegten Sekundäranalyse kommt John Braithwaite (2001) zu dem Schluss, dass es Alternativen zur traditionellen Strafjustiz und zum Gefängnis gibt, die diesen in jeder Hinsicht überlegen sind. In jeder Hinsicht heißt: im Hinblick auf die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten, aber auch im Hinblick auf die Einwirkung auf die Täter und im Hinblick auf die Erwartungen des sozialen Umfeldes im Stadtviertel oder in der Gemeinde. Interessanterweise zeitigt Restorative Justice in der Praxis sogar im Hinblick auf die Ziele der Abschreckung, der Sicherung (Unschädlichmachung) und Resozialisierung bzw. Rehabilitation bessere Ergebnisse als das herkömmliche Strafsystem. "Aktive Abschreckung" als Teil einer dynamischen Regulationspyramide im Sinne Braithwaites ist geradezu ein Markenzeichen gut funktionierender Restorative Justice in einem dynamischen Eskalationssystem, das jeweils nur dann zur nächsten Stufe übergeht, wenn Reaktionen auf der darunter liegenden Intensitätsstufe wiederholt wirkungslos bleiben. - Die Kritiker können also beruhigt sein: zusammen mit der Abschaffung der Gefängnisse werden gleichzeitig auch noch andere Strukturen unserer Gesellschaft verändert. Sogar die Strukturen der Strafjustiz und die Vorstellungen von der Rolle des Staates und seiner Zwangsinstitutionen bei einer gerechten Konfliktlösung.

Der dritte Einwand gegen die Abschaffung der Gefängnisse betrifft die Frage der Wahrung der Grundrechte und der prozessualen Garantien. Wenn die reintegrative Beschämung eine möglichst große Distanz zu den staatlichen Zwangsapparaten erfordert, dann stellt sich sofort die Frage, wie unter solchen Bedingungen die Grundrechte der Beteiligten und ihre prozessualen Garantien zu sichern sind. Das ist tatsächlich ein Dilemma. Denn ohne Staat besteht immer das Risiko der Verzerrung des Gesprächsprozesses durch die unterschiedlich verteilte soziale Macht. Holt man den Staat aber zurück, riskiert man das Scheitern der auf Ungezwungenheit basierenden Konfliktregelung.

Interessanterweise ist es wieder John Braithwaite, der sich dieses Problems angenommen hat, indem er sich mit der Frage nach den "Standards für wiederherstellende Gerechtigkeit" und ihrem Verhältnis zu juristischen Garantien auseinandersetzte (Braithwaite 2002). Gewisse juristische Garantien wie z.B. das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und das des due process können in der Restorative Justice wegen ihrer Konzentration auf die jeweils einzigartige Situation nur beschränkt zur Geltung kommen. Es gelingt John Braithwaite aber, auch die Rolle und die Funktion der strafrechtlichen Konfliktregelung im Rahmen einer neuen Theorie der Gerechtigkeit umzudeuten, deren zentraler Wert die Freiheit von Fremdbestimmung darstellt (freedom as non-domination). Das Ziel von Restorative Justice ist es in John Braithwaites "Republikanischem Modell" der reintegrierenden Beschämung, die richtige Lösung zu finden. Das Maß für die Richtigkeit ist das "Dominium" aller Beteiligten, d.h. die Maximierung von Würde, Freiheit und Eigentum bei allen, die an dem Konflikt beteiligt waren oder sind.

Der vierte Einwand gegen die Abschaffung der Gefängnisse ist ausgerechnet die Straflosigkeit der Mächtigen. Selbst wenn man das Gefängnis abschaffen wolle, müsse man es doch für die großen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beibehalten. Oder wolle man die denn einfach laufen lassen?

Abgesehen davon, dass man sie immer hat laufen lassen, gibt es natürlich viele gute Gründe, die oberen Etagen der Macht mit mehr Gründlichkeit nach Delikten zu durchforsten. Auch das hat übrigens John Braithwaite (2005) vorgemacht. Wenn es aber stimmt, dass dem Wohl der Gesellschaft am besten gedient ist mit einer Art der Rechtsprechung, die nicht einfach auf Vergeltung, sondern auf "wiederherstellende Gerechtigkeit" abzielt und auf die Maximierung von Freiheit, Würde und Eigentum aller Beteiligten sowie auf das reintegrierende Beschämen der Täter, dann gibt es keinen guten Grund, das neue System der Konfliktregelung nicht auch auf solche Fälle anzuwenden.

Literatur

http://hepg.org/her-home/issues/harvard-educational-review-volume-44,-issue-1/herarticle/a-case-study-of-the-massachusetts-youth-correction

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  • Bohne, Gotthold (1922-1925) Die Freiheitsstrafe in den italienischen Stadtrechten des 12.-16. Jahrhunderts. Leipzig: Theodor Weicher (2 Bände; Nachdruck Leipzig 1970).
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  • Christie, Nils (1982) Limits to Pain. Oslo: Universitetsforlaget.
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Weblinks