Psychotherapie

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Psychotherapie hat sich aus den Wissenschaften Psychologie und Medizin als Behandlungsverfahren etabliert. Psychotherapie ist gerichtet an Personen mit seelischen Leiden wie Ängste, Depressionen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen oder psychosomatische Störungen.

Etymologie

Der Begriff Psychotherapie ist ein Kompositum (Zusammensetzung) aus den Wörtern Psycho (griechisch: ψυχή psychḗ ‚Atem, Hauch, Seele‘) und Therapie (griechisch: θεραπεύειν therapeúein ‚pflegen, sorgen‘). Dies könnte übersetzt werden als „einen Dienst an der Seele“.

Definition

Unter dem Begriff Psychotherapie werden diejenigen therapeutischen Verfahren zusammengefasst, die zur Behandlung von Personen mit seelischen Leiden (genaue Bezeichnung: psychische Störung bzw. psychisch krank) eingesetzt werden. Dabei dürfen bestimmte Verfahren nur von psychotherapeutisch ausgebildeten Psychologen oder Medizinern angewandt werden (Näheres s. Voraussetzungen für Psychotherapie).

Historische Entwicklung

Psychische Erkrankungen sind bereits seit der Antike (ca. 500 v. Chr.) ein bekanntes Phänomen. Schriften belegen, dass es bereits erste psychiatrische Krankenanstalten in dieser Zeit gab, wie z.B. Asklepios als Heilstätten der Antike (Riethmüller 2005). Jahrhunderte später, im alten Rom (ca. 100 n. Chr.), gab es Behandlungsmethoden wie Massagen, Aderlässe und Ölumschläge am Kopf zur Behandlung des Wahnsinns. Über viele Jahrhunderte hinweg wurden psychisch Kranke in Verließen, Stadttoren und Türmen eingesperrt. Bekannt wurde das Bethlehem Hospital in London im 13. Jahrhundert, in dem Geisteskranke menschenunwürdig behandelt und angekettet wurden („Bedlam“ 1843). Im späten Mittelalter (zw. 15. – 17. Jahrhundert) wurden psychisch Kranke von der katholischen Kirche durch Inquisitionsverfahren verfolgt (Richartz 2004). Man ging davon aus, dass psychisch Kranke über eine unnatürliche Magie verfügen (Hexen) oder von dem Teufel besessen seien und deshalb von der Inquisition der katholischen Kirche bestraft werden müssten; häufig mit Folter, Verbrennen (Hexenverbrennung) und Tod. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden psychisch Kranke in Spitälern untergebracht, in denen sie zusammen mit Straftätern und Prostituierten wie Gefangene gehalten, angekettet und körperlich misshandelt wurden, z. B. in Paris das Hôpital général, in Deutschland die Irren-, Arbeits- und Zuchthäuser (Foucault/Köppen 1969; Foucault/Seitter 1977). Zur Behandlung zählten brutale körperliche Foltermethoden, wie Auspeitschen, Eintauchen in eiskaltes Wasser, Hungerkuren und gezielte Verbrennungen. Eine ärztliche Behandlung gab es nicht. Ziel war es, die Seele von ihrer Erkrankung durch körperliche Schmerzen zu befreien. Für eine sozial-humanere Versorgung von psychisch Kranken trat erstmals Philippe Pinel, ein französischer Psychiater, gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein (Dörner 1969). Er hat eine ärztliche Behandlung ohne Zwangsmaßnahmen befürwortet. Dennoch wurden Zwangsjacken bis Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt, die erst durch sozialpsychiatrische Strömungen wie die No-Restraint-Bewegung (keine Zwangsmaßahme) aus England langsam in den Hintergrund traten (Conolly 1856); heute gibt es noch die Fixierung von Patienten in psychiatrischen Kliniken bei Selbst- oder Fremdgefährdung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden psychische Krankheiten mit neurologischen Veränderungen durch den Arzt Paul Broca erklärt. Er forcierte damit eine ärztliche Behandlung von psychisch Kranken in Kliniken. Sigmund Freud sah die intrapsychische Betrachtung des Individuums vordergründig, der mit der Psychoanalyse eine wichtige psychotherapeutische Behandlungsform entwickelte (Hoffmann/Hochapfel 2009). Aus der Psychoanalyse hat sich später die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie entwickelt. Als weitere wichtige Psychotherapiemethode hat sich die aus den psychologischen Lerntheorien entwickelte Verhaltenstherapie gegen Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert (Lieb/Frauenknecht/Brunnhuber 2008: 94). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Karl Marx und Klaus Holzkamp sowie Autoren der Kritischen Psychologie die Bedeutung der Geschichte für die menschliche Entwicklung in den Vordergrund gestellt. Ihre Arbeit beruhte auf gesellschaftstheoretischen Hypothesen und Erklärungen. Dabei stehe der Mensch „nicht außerhalb der Geschichte, sondern in ihr“ (Lück, 2009: 34) und er sei demnach nicht nur Subjekt, sondern auch Resultat der geschichtlichen Entwicklung. In der Psychotherapie werden heutzutage die vorgenannten Erkenntnisse in die Arbeit mit psychisch kranken Patienten einbezogen. Dabei werden in psychiatrischen (und forensischen) Kliniken sowie in ambulanten Psychotherapiepraxen psychisch kranke Personen, darunter auch Straftäter, behandelt. Die Psychotherapie in der Arbeit mit Straftätern wird als täterbezogene Psychotherapie bzw. Kriminaltherapie bezeichnet (ZKPF 2016).

Voraussetzungen für Psychotherapie

In der Psychotherapie werden psychische Störungen mit bestimmten Verfahren behandelt; dazu gehören u.a. die Psychoanalyse, die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowie die Verhaltenstherapie. In Deutschland haben sich bislang diese drei genannten Verfahren in der Psychotherapie als sog. Richtlinienverfahren durchgesetzt. Richtlinienverfahren sind solche, die durch die kassenärztliche Vereinigung genehmigt sind. Die Kosten für diese Psychotherapieverfahren werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, wenn eine Diagnose einer psychischen Erkrankung vorliegt. Die Diagnose wird anhand der vorliegenden Symptome des Patienten auf Basis der Kriterien gemäß den Klassifikationssystemen zur Einteilung von psychischen Störungen, wie die ICD-10 oder die aktuelle DSM-5, bestimmt. Nachdem eine Diagnose für eine psychische Störung gestellt wurde, wird anhand eines Gutachtens geprüft, ob eine Psychotherapie erfolgsversprechend und prognostisch günstig in der Bewältigung der psychischen Störung ist. Die Krankenkassen übernehmen daraufhin die Kosten für die Psychotherapie bei einem approbierten Psychotherapeuten, der eine Kassenzulassung besitzt. Als Psychotherapeut darf in Deutschland arbeiten, der nach dem Studium der Psychologie oder Medizin eine Aus- bzw. Weiterbildung in Psychotherapie absolviert hat.

Verfahrensweise in der kriminologischen Praxis

Es können im Rahmen von strafbaren Handlungen die beteiligten Personen (Täter, Opfer) psychisch krank sein oder werden. Das Opfer einer Straftat könnte durch die Tathandlung (z.B. bei Bedrohungslage, Vergewaltigung) traumatisiert (ICD-10: posttraumatische Belastungsstörung) sein, womit die diagnostischen Anforderungen an eine psychotherapeutische Behandlung gegeben sind. Der Täter könnte eine psychische Störung haben, die maßgeblich für seine Tathandlung sein könnte. Daraufhin kann das Gericht eine ambulante oder stationäre Psychotherapie für den psychisch kranken Täter anweisen (§ 68b StGB) und/oder eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnen (§63 StGB). Kosten für die Psychotherapie werden in der Folge den Ländern auferlegt. Dabei ist insbesondere zu prüfen, welche psychische Störung vorliegt, die das kriminelle Verhalten mitbestimmt und per Gerichtsentscheid therapiert werden sollte. Jede Person kann unabhängig des Vorliegens einer spezifischen psychischen Störung kriminell auffällig werden. Das kriminelle Handeln selbst ist keine psychische Störung, da ein kriminologisch auffälliges unangepasstes Verhalten (wie z.B. bei Diebstahl) noch nicht die diagnostischen Kriterien für eine psychische Störung erfüllt. Dennoch könnte eine Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung (z.B. dissozial, gem. ICD-10, F60-69) und/oder Verhaltens- und emotionale Störung mit Krankheitswert (gem. ICD-10, F90-98) vorliegen, die Anstoß für das kriminelle Verhalten sein könnte. Es gibt viele Gründe und Ursachen für kriminelles Verhalten (multikausale Delinquenz), die Einfluss auf die Arbeit in der Psychotherapie haben. In der psychotherapeutischen Arbeit mit psychisch kranken Straftätern wird zudem geprüft, ob eine Therapiemotivation seitens des Straftäters, eine Introspektionsfähigkeit (Fähigkeit sich selbst zu reflektieren) und eine Bereitschaft mit dem Therapeuten zusammen zu arbeiten (Compliance) besteht. Bei psychisch kranken Straftätern könnte therapeutisches Arbeiten erschwert sein, wenn delinquente bzw. dissoziale Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale vorliegen.

Anwendung von Psychotherapie bei Straftätern

Die Psychotherapieverfahren (Psychoanalyse, Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie) können bei kriminell auffälligen Personen eingesetzt werden; je nach Persönlichkeitsstruktur und Verhaltensauffälligkeit. Hierbei sollen deviante Persönlichkeits- sowie Verhaltensstrukturen erkannt, reflektiert und bestenfalls verändert werden. In der Praxis mit psychisch kranken Straftätern zeigt sich ein Trend zur störungsspezifischen, multimodalen (aus verschiedenen Schulen) und integrativen Therapieform. Die Personen lernen neue Kompetenzen, die ein Leben ohne Gewalt ermöglichen können.

Psychoanalyse

Die Psychoanalyse wurde von Sigmund Freud im 19. Jahrhundert begründet. Psychoanalyse wird als eine Zerlegung der Seele verstanden (von griechisch ψυχή psychḗ ‚Atem, Hauch, Seele‘ und ἀνάλυσις analysis ‚Zerlegung‘). Dabei werden den unbewussten seelischen Vorgängen eine wichtige Bedeutung für die Erklärung von menschlichen Verhalten und Erleben gegeben (Psychologie des Unbewussten). In der Psychoanalyse sollen die unbewussten Gedanken aufgedeckt werden, die sich im Erleben und Verhalten des Patienten oftmals störend manifestieren. Grundlegend sind dabei die unterschiedlichen Faktoren (Kindheitsgeschichte, soziales Umfeld, Strukturniveau des Patienten, Erfahrungen und Erlebnisse etc.) für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen. Kindheitsrelevante Faktoren zur Entwicklung von kriminellen Verhalten können z.B. eine massive Deprivation (Vernachlässigung) durch die Eltern, traumatische Verlusterfahrungen (z.B. Tod einer nahestehenden Person) und fehlende gute Objektbeziehungen sein, wobei diese nicht per se zur Kriminalität führen müssen. In der Psychoanalyse soll die Einsicht des Patienten gefördert und eine positive Beziehungserfahrung mit dem Therapeuten erreicht werden (Wöller/Kruse 2009: 12). In Bezug auf die Arbeit mit Straftätern soll durch diese Arbeit eine Selbstreflexion ermöglicht werden, die Grundlagen für den Erwerb von neuen Bewältigungsstrategien für sozial angepasstes Verhalten schaffen und im besten Fall zu einer Veränderung der gesamten Persönlichkeit führen. Wichtige Theorien sind die Konflikt- und Objektpsychologie, die Übertragung und Gegenübertragung in der therapeutischen Beziehung sowie die Bearbeitung der Abwehr (Mentzos 2013).

Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

Die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist aus der Psychoanalyse durch verschiedene Schulausrichtungen entstanden. Die zentrale Vorstellung der Tiefenpsychologie ist - wie bei der Psychoanalyse -, dass in den Tiefenschichten der Psyche unbewusste Prozesse ablaufen, die das Verhalten stark beeinflussen. Ein wesentlicher Unterschied zur Psychoanalyse liegt bei der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie darin, mit zeitlicher Begrenzung ein klares inhaltliches Ziel zu erreichen (Wöller/Kruse 2009: 13). Dabei wird ein Schwerpunkt auf bestimmte Konflikte, wie z.B. Selbstwertkonflikt oder Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt, gesetzt. Im Rahmen der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mit Straftätern wird der Fokus auf die Selbstwertdynamik, den Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung, den auslösenden Situationen, den aktuellen Beziehungen und dem kriminellen störungsspezifischen Verhalten gelegt.

Verhaltenstherapie

Die Verhaltenstherapie ist entstanden aus den Annahmen des Behaviorismus und den Lerntheorien, bei dem Verhalten als ein Lernergebnis von äußeren Einflüssen verstanden wird. Wichtige Theorien hierzu sind u.a. das klassische Konditionieren von Iwan P. Pawlaw (1849-1936), das operante Konditionieren von Burrhus F. Skinner (1904-1990) sowie das aus dem Jahr 1963 bekannte Lernen am Modell zur sozialkognitiven Lerntheorie von Albert Bandura (Lieb et al. 2009). Dabei kann das Modell des in der Erziehung erlebten „schlagenden Vaters“ durch gewaltfreie Modelle auf Lernebene ersetzt werden, um ein straffälliges Verhalten künftig zu vermeiden (Perry 2011: 227ff.). Wesentlich ist das Erlernen von Strategien, wie z.B. Selbstregulation, Training sozialer Kompetenzen oder der Erwerb von adäquaten Bewältigungsstrategien (Coping). Im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie können negative dysfunktionale Gedanken (z.B. „Die wollen mich nicht“) soweit kognitiv umstrukturiert werden, dass psychisch kranke Straftäter ein gesünderes Lebenskonzept gedanklich entwerfen können (z.B. „Ich habe es selbst in der Hand, was ich aus meinem Leben mache“). In der verhaltenstherapeutischen Arbeit mit psychisch kranken Straftätern steht die Behandlung des störungsspezifischen Verhaltens im Vordergrund.

Ziele in der Psychotherapie bei Straftätern

Ziele und Behandlungsschritte in der Psychotherapie bei Straftätern können sein

  • Rückfallgefahr verringern, Verstärkung prosozialen Verhaltens, differenzierte Wahrnehmung, Selbstkontrolle (Petermann 2011: 507ff.),
  • Selbstreflexion und Einsicht in eigenes Verhalten, kognitives Umstrukturieren dysfunktionaler Gedanken,
  • Erwerb von funktionalen Selbstregulationsstrategien, Copingstrategien, gewaltfreien Verhaltensstrategien, Training sozialer Kompetenzen, Erlernen von zwischenmenschlichen Fähigkeiten,
  • Ich-Funktionen aufbauen (affektive Ausdruckfähigkeit differenzieren, Impulskontrolle verbessern, Realitätsprüfung, Selbst-Objekt-Differenzierung; Wöller/Kruse 2009: 262ff) und
  • Supportives Arbeiten (Stützung des Selbstwertgefühls, Nutzung der Stärken und Ressourcen des Patienten, Anleitung bei der Impulskontrolle; Wöller/Kruse 2009: 275).

Empirische Wirksamkeitsstudien von Psychotherapie bei Straftätern

Das größte Problem bei Straftätern ist das Risiko rückfällig und damit wieder straffällig zu werden. Verschiedene Studien wiesen eine deutliche Verringerung der Rückfallgefahr von Straftätern nach Behandlung durch Psychotherapie auf (Lackinger 2008). Forschungsergebnisse zur Behandlung von Straftätern fasste 2012 der kriminologische Dienst des bayerischen Justizvollzugs mit mehreren Studien in Meta-Analysen zusammen (Endres 2012). Es zeigte sich statistisch wirksam, Straftäter mit Psychotherapie zu behandeln; das Rückfallrisiko hat sich nach Analyse der Erfassung der Rückfallquote deutlich verringert. Die Erfassung der Straftaten zur Belegung der Rückfallquote ist jedoch auch abhängig vom Anzeigeverhalten des Opfers/Bürgers, von der polizeilichen Verfolgung und Aufdeckung der Straftat sowie der Beweislage.

Kriminologische Relevanz und Kritik

Nicht zwangsläufig führt die Diagnose einer psychischen Erkrankung bei einem Täter einer rechtswidrigen Tat und die Zuführung zu psychotherapeutischen Maßnahmen zur Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB (Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen) bzw. verminderten Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB. Bei Vorliegen von Schuldunfähigkeit hätte die kriminell, psychisch auffällige Person als Rechtsfolge keine Strafsanktionen durch die Gerichte in Bezug auf ihre Tathandlungen zu erwarten (nulla poena sine culpa). Maßgeblich für die Bewertung der Schuldfähigkeit ist die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Täters. Dazu wird geprüft, inwieweit die Person aufgrund der psychischen Störung beeinträchtigt ist bzw. zum Tatzeitpunkt war. Ein psychiatrischer Sachverständiger beurteilt, ob krankhafte seelische Störungen (z.B. Psychosen, wie Schizophrenie, krankhafte Wahrvorstellungen), tiefgreifende Bewusstseinsstörungen (z.B. akute Belastungsreaktion), Schwachsinn (intellektuelle Minderbegabung) oder schwere andere seelische Abartigkeiten (z.B. Persönlichkeitsstörung) vorliegen. Für die Beurteilung der Schuldfähigkeit ist der Ausprägungsgrad der Störung entscheidend; daher bedeutet eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung (z.B. dissozial) nicht automatisch schuldunfähig zu sein. Vielmehr ist der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit und die Persönlichkeit des Täters im Gesamten maßgeblich (HRR-Strafrecht 2015; BGH, Urt.v. 21.1.2004 – 1 StR 346/03). Wenn wahnhafte Personen (z.B. Verfolgungswahn bei paranoider Schizophrenie) strafbare Handlungen im akuten Wahnzustand begehen, sind diese Personen nur eingeschränkt handlungseinsichtig und somit schuldunfähig. Unabhängig von dieser rechtlichen Würdigung über die Frage der Schuld kann ein psychisch auffälliger Straftäter aus einer Psychotherapie profitieren. Bei Straftätern hat sich die therapeutische Arbeit auf multimodaler Ebene als erfolgreich erwiesen, in dem flexibel auf den störungsspezifischen Hintergrund des Straftäters und seine aktuelle Therapiemotivation eingegangen werden kann. Begleitend kann die Einnahme von Psychopharmaka zur erhöhten Wirksamkeit der Psychotherapie eine Rolle spielen. Die Situation für eine ambulante Psychotherapie ist aktuell schwierig: für einen ambulanten Psychotherapieplatz bei einem kassenzugelassenen Psychotherapeuten für Richtlinienverfahren muss ein Patient derzeit mehrere Wochen bis Monate warten. Weitere Psychotherapieverfahren (z.B. Gesprächspsychotherapie nach Rogers) werden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht bezahlt. Bei Vorliegen einer Straftat können Opfer wie Täter sofort psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, wenn sie Hilfseinrichtungen (Diakonien, „Weisser Ring“, Sozialpsychologische Dienste) aufsuchen. Zudem können sie Unterstützung bei Psychologen oder psychotherapeutische Heilpraktiker finden, die jedoch ohne die Qualifikation und Berufskunde eines approbierten Psychotherapeuten arbeiten und mögliche Kosten häufig selbst getragen werden müssen.

In Bezug auf die Ursachen von Kriminalität sind neben den psychologischen, intrapsychischen, kulturellen und lerntheoretischen Ansätzen auch Erfahrungen in der sozialen Umwelt wichtig. Durch die Zuschreibung der Gesellschaft, in der ein Täter als kriminell definiert und etikettiert wird, kann in der Folge das deviante Verhalten des Straftäters verstärkt werden (sekundäre Devianz; Lemert 1974). Ein Straftäter könnte die ihm von der Gesellschaft zugewiesene Rolle verinnerlichen. Aufgrund der psychischen Labilität des Straftäters, der Zuschreibung und Voreingenommenheit der Gesellschaft, dem Kontrollverhalten der Polizei und der Würdigung durch die Gerichte hat ein Straftäter wenig Spielraum, sich selbst aus dieser Schleife von Etikettierung und kriminellem Verhalten zu befreien. Psychotherapeutische Maßnahmen sind insoweit hilfreich, als dass dem Straftäter das Wiederholungsmuster seines Verhaltens, seine negativen Gedanken und selbstdefinierten Bewertungen, auch aufgrund von Zuschreibungen der Gesellschaft, bewusst gemacht und bestenfalls verändert werden können. Das bietet ihm Chancen, um Ressourcen für konstruktive Handlungsoptionen zu nutzen und dabei Einsicht in die eigenen Anteile zu fördern. Im Rahmen der täterorientieren Psychotherapie könnte das heißen, dass die Rückfallgefahr verringert werden kann. Um Straftaten und delinquentes Verhalten von psychisch auffälligen Straftätern auch präventiv zu begegnen, kann Psychotherapie erfolgversprechend sein. Damit einher ginge auch eine Abnahme der Stigmatisierung von gesellschaftlich geächteten Kriminellen. Der gesellschaftliche Rahmen kann weitere wichtige Präventionsarbeit leisten.

Literatur

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  • Foucault, Michel; Köppen, Ulrich (1969): Wahnsinn und Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp Verlag.
  • Foucault, Michel; Seitter, Walter (1977): Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.
  • Hoffmann, Sven O.; Hochapfel, Gerd (2009): Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin. 8. Auflage. Stuttgart: Schattauer GmbH.
  • Lackinger, Fritz (Hrsg.) (2008): Psychodynamische Psychotherapie bei Delinquenz: Praxis der Übertragungsfokussierten Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer GmbH.
  • Lemert, Edwin M. (1974): „Der Begriff der sekundären Devianz“. In: Lüderssen, Klaus; Sack, Fritz (Hrsg.) (1974): Abweichendes Verhalten I. Die selektiven Normen der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp. 433-476.
  • Lieb, Klaus; Frauenknecht, Sabine; Brunnhuber, Stefan (2008): Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie. München: Elsevier GmbH.
  • Lück, Helmut E. (2009): Geschichte der Psychologie: Strömungen, Schulen, Entwicklungen. 4. Auflage. Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH.
  • Marzahn, Christian (1980): Das Zucht-und Arbeitshaus: die Kerninstitution frühbürgerlicher Sozialpolitik. Universität Bremen.
  • Mentzos, Stavros (2013): Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven. 23. Auflage. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag.
  • Perry, Milton (2011): „Modelldarbietung“. In: Linden, Michael; Hautzinger, Martin (Hrsg.) (2011): Verhaltenstherapiemanual. Heidelberg: Springer Verlag. 227-231.
  • Petermann, Franz (2011): „Aggressiv-dissoziale Störungen“. In: Linden, Michael; Hautzinger, Martin (Hrsg.) (2011): Verhaltenstherapiemanual. Heidelberg: Springer Verlag. 505-509.
  • Richartz, Mark (2004): „Sozialgeschichte der psychologischen Medizin (Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie)“. In: Machleidt, Wielant; Bauer, Manfred; Lamprecht, Friedhelm; Rose, Hans K.; Rohde-Dachser, Christa (Hrsg.) (2004): Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag. 3-10.
  • Riethmüller, Jürgen W. (2005): Asklepios. Heiligtümer und Kulte. Heidelberg: Verlag Archäologie und Geschichte.
  • Wöller, Wolfgang; Kruse, Johannes (2009): Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. 2. Auflage. Stuttgart: Schattauer GmbH.
  • Wüst, Wolfgang (1996): „Die gezüchtigte Armut. Sozialer Disziplinierungsanspruch in den Arbeits- und Armenanstalten der vorderen Reichskreise“. In: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 89, 95–124.

Weblinks