Otto Gross

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Otto Gross

Otto Hans Adolf Gross (* 17. März 1877 in Gniebing bei Feldbach, Steiermark; † 13. Februar 1920 in Berlin-Pankow), Sohn des bekannten Kriminologen Hans Gross (1847-1915), war ein österreichischer Psychiater, Psychoanalytiker und Anarchist, der zunächst auch eine kriminologische Laufbahn anzustreben schien, sich aber bald mit seinem Vater überwarf und dessen konflikthaftes Leben selbst zum Gegenstand von u.a. auch kriminologischen Analysen werden sollte.

Leben

Kurzbiographie

Otto Hans Adolf Gross (auch Groß, Grosz oder Grohs geschrieben) - Sohn des autoritär patriarchalischen Hans Gross (1847-1915) und seiner Frau Adele Gross, geb. Raymann (1854-1942) - wurde größtenteils von Privatlehrern im Elternhaus und zeitweise an Privatschulen erzogen. Nach dem Abitur und einem in Graz begonnenen Zoologie-Studium, das er zugunsten des Medizin-Studiums in München und Straßburg aufgab, wurde er 1899 in Graz zum Doktor der Medizin promoviert. 1901/02 arbeitete Otto Gross als Psychiater und Assistenzarzt in München und Graz und veröffentlichte erste Arbeiten und Aufsätze. 1902 trat er seine erste Entziehungskur in der Burghölzli-Klinik in Zürich an, wo er u.a. von C.G. Jung analysiert wurde. In seinen Aufsätzen beschäftigte sich Otto Gross vornehmlich mit der noch in den Anfängen stehenden Psychoanalyse von Sigmund Freud (ihn soll er 1904 erstmals persönlich getroffen haben) und deren Anwendung auf Theorie und Praxis des Anarchismus.

1905 reichte er an der Universität Graz seine Habilitation ein und erhielt dort 1906 (wohl auch dank des Einflusses seines Vaters) einen Lehrstuhl für das Fach Psychopathologie. Er lebte dann in München und Ascona und war als Assistenzarzt bei Emil Kraepelin tätig, den er später wegen "fachlicher Unkenntnis" verklagen wollte. Er machte sich in den Bohèmekreisen Münchens und darüber hinaus einen Namen als Anarchist und propagierte ein Leben als antiautoritärer Sexualimmoralist.

1906 vergiftet sich eine Patientin und Geliebte von Gross, Lotte Chattemer, angeblich mit seiner Hilfe, in Ascona (Hurwitz 1988: 125). Im März 1911 beging eine weitere Geliebte und Patientin von Otto Gross, Sophie Benz, in Ascona Selbstmord. Otto Gross wurde für die Bereitstellung des Giftes verantwortlich gemacht, als Arzt der Fahrlässigkeit angeklagt und wegen Beihilfe zum Mord steckbrieflich gesucht. 1913 ging Otto Gross nach Berlin und schloß sich dort der Gruppe "Aktion" um Franz Pfemfert an. Am 09. November wurde er festgenommen und auf Betreiben seines Vaters in der "Privat-Irrenanstalt" Tulln bei Wien interniert.

In der Folge kam es zu einer von Freunden, Intellektuellen und Künstlern getragenen internationalen Pressekampagne, die - wie z.B. der Schriftsteller Franz Jung - Gross' Freilassung aus der Irrenanstalt forderte. Auch Otto Gross selbst beantragt eine neue Begutachtung, jedoch ohne Erfolg. 1914 wurde gegen ihn wegen Wahnsinns mit Genehmigung des k.k. Landesgericht vom Bezirksgericht Graz eine "Kuratel" (Zwangsverwaltung) beschlossen und der Vater zum "Kurator" eingesetzt, der dafür sorgte, dass sein Sohn in die Landesirrenanstalt Troppau in Schlesien verlegt wurde.

Nach seiner Entlassung wurde er von dem österreichischen Psychoanalytiker Wilhelm Stekel (ein Analysand von Freud, der sich 1940 umbrachte) analysiert. Die Kuratel blieb auch nach dem Tod des Vaters im Dezember 1915 bestehen und wurde erst 1917 in eine beschränkte Kuratel wegen des gewohnheitsmäßigem Missbrauchs von "Nervengiften" umgewandelt.

Nach Ausbruch des Krieges arbeitete Otto Gross als Arzt in verschiedenen Lazaretten unter anderem in Slawonien und Temesvar. Gleichzeitig kämpft er weiter für seine Rehabilitation und gab zusammen mit Franz Jung und anderen 1916 die Zeitschrift "Die freie Straße" heraus. Wieder kam es zu Aufenthalten in psychiatrischen Anstalten. Dennoch wurde Gross Mitherausgeber der Zeitschriften "Die Erde" und "Das Forum" und wohnte in Berlin und München.

Am 13.02.1920 starb er in einem Sanatorium in Pankow.

Sein Vater

Zu seinem Vater Hans Gross, der jahrzehntelang als Staatsanwalt und Richter sowie seit 1898 als Professor für Strafrecht in Czernowitz gewirkt hatte und schon damals als eine der führenden Autoritäten auf dem Gebiet der Kriminalistik und als Mitbegründer der Kriminalpsychologie galt, hatte Otto Gross sein Leben lang ein intensives, aber äußerst zwiespältiges Verhältnis. Auf der einen Seite war er immer wieder auf dessen finanzielle Unterstützung angewiesen, auf der anderen Seite war der Vater für ihn die unmittelbar wirksame Verkörperung der Norm der väterlichen Gesellschaft. Nicht ohne Grund bezeichnet Gerhard Dienes (2005: 13) in Anlehnung an Martin Green (1999) Otto Gross als lebende Antithese zu seinem Vater, der sich nachdrücklich für ein hartes Vorgehen gegen "Revolutionäre" und "Degenerierte" auszusprechen pflegte.

Seine Beziehungen zu Frauen

In der Beziehung zu Frauen offenbarten sich viele Aspekte seiner Weltsicht, seiner Probleme mit gesellschaftlichen Konventionen und seiner inneren Zerrissenheit. Über das Verhältnis zu seiner hochgebildeten Mutter, die aus Retz bei Wien stammte und das Leben einer folgsamen Ehefrau und Mutter führte, ist zwar leider - im Vergleich zur Vaterbeziehung - relativ wenig bekannt (vgl. Dienes 2005: 12). Auch spielten Frauen in seinen Studienjahren, während derer er zweierlei aus dem Wege zu gehen pflegte - nämlich weiblichem Verkehr und Alkohol - kaum eine Rolle. Offenbar scheute er sich davor, Frauen in einer Weise zu verfallen, die ihm dann keine anständige Lösung erlaubte (Hurwitz 1988: 54). Das Mitleid, für ihn die Wurzel aller Ethik, machte es ihm schwer, einmal eingegangene Beziehungen aufzugeben, weshalb er sie, zumindest anfangs, ganz vermied. Später hat er versucht, die Unfähigkeit, sich abzugrenzen und die depressiven Verstimmungen, mit denen Frauenbeziehungen verknüpft waren, medikamentös zu betäuben (Hurwitz 1988: 68), wobei es ihm immer mehr gelang, sich von den konventionellen ethischen Normen zu lösen und sich seinen Furchtvorstellungen kritisch gegenüberzustellen. Nachdem er im Jahr 1903 in Graz Frieda Schloffer (1876-1950) geheiratet hatte, eine Konvention an elterliche und gesellschaftliche Erwartungen, begann er, sich für die sexuelle Freiheit einzusetzen und diese auch zu leben. Er ging mit mehreren Patientinnen Beziehungen ein, von denen sich dann zwei, ohne dass er es zu verhindern vermochte, umbrachten. 1907 hatte Gross Beziehungen zu den beiden Richthofen Schwestern, Frieda und Else, die anderweitig verheiratet waren. Er schwängert beide im gleichen Jahr, beide Söhne wurden Peter genannt (Pate war jeweils Max Weber). 1906 begann er eine Beziehung zu Marianne Kuh (1894-1948), der Schwester des Schriftstellers Anton Kuh, mit der zusammen er eine Tochter hatte. Mit ihren Schwestern soll er ebenfalls Liebschaften gehabt haben. Um 1908 bekam Gross noch eine Tochter zusammen mit der Schweizer Schriftstellerin Regina Ullmann (1884-1961).

Seine Kinder

Der eine Sohn Peter starb mit 7 Jahren an Scharlachfieber, der andere 1946 an Lungentuberkolose (Dienes 2005: 29). Am 23. November 1916 wurde seine Tochter Sophie als uneheliches Kind von Marianne Kuh geboren. Sophie Templer-Kuh, die ihren Vater nie persönlich kennengelernt hatte, ist heute Ehrenvorsitzende der Internationalen Otto Gross Gesellschaft. Camilla Ullmann, die nach ihrer Geburt zu Pflegeeltern gegeben worden ist, arbeitete später u.a. als Krankenpflegerin und lebte in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft bis zu ihrem Tod am 28. Mai 2000 in Hamburg.

Sein Umfeld

Gross hatte Kontakt zu einer Reihe von Intellektuellen und Geistesschaffenden, zu denen er zum Teil auch freundschaftliche Beziehungen pflegte. Er machte unter anderem Bekanntschaft mit Max Weber (der sich 1907 weigerte, einen Artikel von Gross in seiner Zeitschrift zu publizieren), Erich Mühsam, Franz Werfel, Karl Otten, Leonard Frank und Franz Jung. Insbesondere mit Letzterem, der auch nach dem Tode von Gross versuchte dessen Werk einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, verband Gross eine besondere Beziehung. 1917 lernte Otto Gross auch Franz Kafka kennen und plante mit ihm gemeinsam die (nie realisierte) Herausgabe der "Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens". Analysiert hatte Gross unter anderem den italienischen Psychoanalytiker Vittorio Benussi, der sich 1927 umbrachte.

Seine Dämonen und sein Werk

Hurwitz teilt das Werk von Otto Gross in drei Perioden ein:

  • Naturwissenschaftlich-psychiatrische Phase. Hierzu gehören die ersten Artikel, die 1901/02 in der Zeitschrift seines Vaters (dem "Archiv") erschienen.
  • Psychopathologisch-psychoanalytische Phase. Hierzu gehören z.B. "Zur Frage der socialen (sic.) Hemmungsvorstellungen" oder "Zur Phyllogenese (sic.) der Ethik", bzw. "Über Psychopathische Minderwertigkeiten" (1909).
  • Zeit- und gesellschaftskritische Phase: Hierzu gehören etwa "Zur Überwindung der kulturellen Krise" (1913 in "Die Aktion"); "Zur funktionellen Geistesbildung des Revolutionärs" (1919).

Werk und Person sind bei Otto Gross stärker als sonst üblich verwoben. Vieles von dem, was er theoretisch formulierte, hat er persönlich erlebt: Er hat über psychische Krankheiten geforscht und geschrieben, und war selbst mehrfach in psychiatrischer Behandlung. Er hat theoretische Ansätze über Ursachen von und Umgang mit Kriminalität veröffentlicht, und wurde selbst strafrechtlich verfolgt. Er hat die Probleme einer patriarchalischen Gesellschaft analysiert, und wurde selbst auf Betreiben seines Vaters in einer Heilanstalt interniert.

Gross hatte mit einigen Dämonen zu kämpfen, vor allem mit seiner Drogensucht, die um 1901 bei Fahrten als Schiffsarzt nach Südamerika entstand, bei denen er mit Morphium, Kokain und Opium in Berührung kam. Er begab sich 1902 wegen seiner Kokainsucht in seine erste Entziehungskur in die Psychiatrische Klinik Burghölzli bei Zürich. Weitere Entziehungskuren sollten folgen, es gelang ihm jedoch nie gänzlich, von den Drogen loszukommen.

Ein weiteres Problem, mit dem Otto Gross zu kämpfen hatte, waren psychische Störungen, zu deren Bekämpfung er mehrfach in (teils stationärer) psychiatrischer Behandlung war. Unklar ist, wie eine etwaige psychische Störung oder Krankheit nach heutigen diagnostischen Maßstäben benannt werden könnte bzw. würde. Während eines Aufenthalts in Burghölzli wurde Otto Gross aufgrund eines Attestes von Sigmund Freud von C.G. Jung analysiert. Die zuvor von C.G. Jung gestellte Diagnose der "Zwangsneurose" änderte dieser nach der Flucht von Otto Gross aus der Klinik nach fünf Wochen in die Diagnose "Dementia Praecox" (dem Formenkreis der Schizophrenie angehörig). Klar ist zumindest, dass Gross unter erheblichen psychischen Problemen litt. Er war zeitlebens von Schlaflosigkeit geplagt und konnte nur bei Licht und in einen Teppich eingerollt schlafen (Gross 2000: 187/188). Auch die Selbstmorde seiner Patientinnen Chattemer und Benz hatten für Gross nicht nur strafrechtliche Folgen, sie stürzten ihn auch in schwere seelische Krisen. In seinen fragmentarisch überlieferten Selbstanalysen sprach er u.a. davon, dass die wissenschaftliche Selbstachtung nur ein Hohn auf die wirkliche sei und er den beneiden müsse, der zuversichtlich sei und einen echten Glauben an Sieg und eine Liebe zum Leben besäße (Gross 2000: 177).

Der große Traum von Otto Gross war es, bis zum 45. Lebensjahr zu leben und dann zugrundezugehen, am liebsten bei einem anarchistischen Attentat. Angeblich soll er sogar mit dem Gedanken gespielt haben, ganz Wien in die Luft gehen zu lassen (Heuer 2003: 114). Dieser Traum hat sich nicht erfüllt. Am 13. Februar 1920 starb Otto Gross in Berlin an den Folgen einer Lungenentzündung. Kurz zuvor war er halb verhungert und frierend in einem Durchgang zu einem Berliner Lagerhaus von Freunden aufgefunden worden, die er im Streit verlassen hatte, nachdem diese sich geweigert hatten, ihm bei der Beschaffung von Drogen behilflich zu sein. Irrtümlicherweise wurde er auf einem israelitischen Friedhof beigesetzt (Hurwitz 1988: 225).

Seine Bedeutung für die Kriminologie

Wenngleich Otto Gross sich nicht ausschließlich mit kriminologischen Fragestellungen befasst hat, liefert die Analyse seines Lebens und Werks wertvolle Erkenntnisse über mögliche Ursachen von abweichendem Verhalten, dessen gesellschaftlichen Bedingungen und die Reaktionen darauf. Durch seine Konzepte des Vater- und Mutterrechts lieferte er, lange vor den Vertretern des labeling approach, aufschlußreiche Verstehens- und Interpretationsmöglichkeiten staatlichen Handelns. Gleichzeitig hat er durch seine Darlegungen zur sozialen Bedingtheit psychologischer Handlungsmotivationen überzeugende Ansätze zu einer Ätiologie normabweichenden Verhaltens bereitet. Grob skizziert lassen sich folgende Phasen seiner kriminologischen Einstellung feststellen: Zunächst hat er gesellschaftliche und gesetzliche Normen noch, zumindest zum großen Teil, anerkannt, wobei er deren innere Rechtfertigung bereits in Frage zu stellen begann. In der nächsten Stufe seiner Entwicklung stellte er die Verbindlichkeit bestimmter Normen grundsätzlich in Frage, da es sich um Normen einer im moralischen Sinne kranken Gesellschaft handelte. Schließlich stellte er die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit auf den Prüfstand und betrieb in einem revolutionären Sinne deren Umwälzung.


Positivistischer Ansatz

Die Perspektive, aus der Otto Gross das Problem der Kriminalität betrachtet hatte, war zunächst primär die eines Mediziners, wobei auch hier bereits philosophische, gesellschaftstheoretische und andere Erwägungen mit eingeflossen sind. Auch hat er sich keinesfalls nur mit dem "Täter" beschäftigt, sondern auch mit der Frage, warum die Gesellschaft straft. Bezüglich des Straftäters stellte Gross Überlegungen über die Physiologie des Gehirns an, um die Frage zu beantworten, die ihn zu jener Zeit am meisten interessierte: Warum wird eine sozial schädliche Handlung begangen oder unterlassen? Sein Ansatz hinsichtlich dieser Frage kann als positivistisch, naturalistisch und monistisch bezeichnet werden, da er davon ausging, dass es keine Zweiteilung der Welt in körperliche und seelisch-geistige Bezirke gab, sondern dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse Grundlage aller Geisteswissenschaften seien. Es gab für ihn damit keinen freien Willen, der Mensch sei (unterbewusst) determiniert und damit von Natur aus für das Verbrechen vorbestimmt (Hurwitz 1988: 63/ 64). Konsequenterweise war Grundlage der Bestrafung für Gross nicht eine individuelle Schuldzuweisung, gleichwohl hielt er eine Bestrafung bestimmter antisozialer Handlungen für notwendig. Der Anspornung durch Vorteile einer Tat stünden nämlich Hemmungen durch soziale Instinkte und Hemmungen durch Furchtvorstellungen entgegen. Diese Furchtvorstellungen (Angst vor der Privatrache Einzelner, Rache durch eine entrüstete Gesellschaft, Rache durch eine gekränkte Gottheit) seien für das Bestehen einer Gesellschaft notwendige, auf dem Arterhaltungstrieb gründende Impulse, die den antisozialen Impulsen entgegenwirkten. Strafe sei also eigentlich ein Unrecht, das aber aus general- und spezialpräventiven Gründen unvermeidbar sei. Derjenige, der bestraft wird, muss bestraft werden, damit die anderen sehen, dass auf bestimmte Taten eine Strafe folgt. Straftäter müssten also leiden, damit das Bestehen antikrimineller Furchtvorstellungen in den Gehirnen anderer und ihrer selbst erzeugt oder befestigt und wenigstens bei einem Teil von allen den antisozialen Impulsen dadurch erfolgreich entgegengearbeitet wird. Das Wohl der Gesellschaft stünde höher als das jedes Individuums. Gross hat sich auch zu der Frage geäußert, warum "Irrsinnige" nicht bestraft werden (müssten): Durch Bekanntwerden der Tatsache, dass ein Irrsinniger sicher vor Strafe sei, würden Furchtvorstellungen nur aus dem Gehirn anderer Irrsinniger getilgt, und da Irrsinnige ohnehin nicht durch normale Motive normal bestimmbar seien, könne hier vermieden werden, einem Individuum weh zu tun, ohne dass die Allgemeinheit darunter Schaden leiden würde (Hurwitz 1988: 65).

Psychoanalytisches Erklärungsmodell

Otto Gross war ein Schüler Sigmund Freuds und Zeit seines Lebens ein großer Anhänger und Verfechter der Psychoanalyse. Über die psychotherapeutische Methode nach Freud hielt er bereits 1902 Probevorlesungen (Hurwitz 1988: 68). Dieser hatte Gross neben C.G. Jung als einzigen wirklich originellen Denker unter seinen Schülern bezeichnet, distanzierte sich später aber immer mehr von ihm. Auch Gross unterschied sich in seinen Ansichten in einigen Punkten wesentlich von dem von Sigmund Freud entwickelten klassischem theoretischem Konzept. Vor allem war er, anders als Freud zu dieser Zeit, der Ansicht, dass die Psychoanalyse nicht nur eine Methode zur Behandlung und Heilung krankhafter Zustände sei, sondern auch wichtige Beiträge zur Erkenntnisgewinnung über Kultur, Ethik und Politik enthalte. Sein Interesse verschob sich immer mehr von den Problemen des Individuums hin zu gesellschaftlichen Fragen. Psychoanalyse wird somit für Gross eher Sozial- als Naturwissenschaft. Er hat damit als erster die soziale Bedingtheit psychoanalytischer Befunde erkannt und herausgearbeitet (Hurwitz 1988: 79).

Auch sein kriminologisches Wirken kann nur vor diesem Hintergrund verstanden werden. Eine strafrechtliche Schuldzuweisung unter der Prämisse eines freien Willens ist mit den psychoanalytischen Grundannahmen, wonach sich wesentliche handlungsbestimmende Motivationen im unbewussten Bereich der Psyche entfalten, grundsätzlich unvereinbar. Gross ging noch weiter: Wenn ein Wille, ob frei oder nicht, primär auf Handlungen gerichtet ist, die gesellschaftlichen Normen entsprechen, dann sei dies nur über den Preis der Selbstaufgabe oder der Krankheit, dem Leiden an sich selbst, zu erreichen. Wenn also die klassische Psychoanalyse geneigt war, den Straftäter zu exkulpieren, da ihn unbewusste innere Vorgänge zur Handlung getrieben hätten, dann verortete sie "das Problem" dennoch beim Individuum. Gross dagegen diagnostizierte eine kranke Gesellschaft mit kranken Normen, in ihr läge damit das Problem, nicht (zumindest nicht notwendigerweise) in dem Individuum, das den Normbereich verlässt, ob als Kranker oder als Straftäter. Konkret begründete Gross seine Ansicht wie folgt: Zu dem bei jedem Menschen von Geburt an herrschendem Trieb zum Anschluss an andere Menschen und der damit verbundenen Angst vor der Einsamkeit käme nämlich eine andere, ebenfalls angeborene, menschliche Eigenschaft. Es gebe eine jedem Menschen gegebene ethische Grundtendenz, die auf die Einhaltung der eigenen Individualität und der liebend - ethischen Beziehung zur Individualität des anderen zugleich gerichtet sei, und die man auch bezeichnen könne als das Streben, sich nicht vergewaltigen zu lassen und andere nicht zu vergewaltigen. Diese natürliche Ethik würde aber nach Ansicht von Gross der gegebenen sozialen Struktur widersprechen, nach der in einer vom Vaterrecht bestimmten patriarchalischen Gesellschaft Beziehungen auf der Unterdrückung und Vergewaltigung der Frau, auf einer Macht des Väterlichen über alles Mütterliche, basieren würden. So käme es bei dem Kind zum Konflikt: Es möchte weder vergewaltigen noch vergewaltigt werden, braucht aber Anschluss und hat Angst vor der Einsamkeit. Auf diese grenzenlose Angst des Kindes in der Einsamkeit hat die Familie nach Meinung von Gross aber nur die eine Antwort: Sei einsam oder werde, wie wir sind! (Gross 2000: 84). Dadurch käme es unweigerlich zum Konflikt des Eigenen mit dem Fremden, das Kind werde gezwungen, sich anzupassen. Letztlich war dieser Konflikt für Gross ein ethischer: Die natürlichen ethischen Vorstellungen stehen denen der Gesellschaft entgegen. Wenn aber die Gesellschaft und ihre Normen, an die sich die meisten hielten aus Bequemlichkeit oder Angst vor dem inneren Konflikt, krank waren, sollte man sich dann an diese Normen halten?

Gesellschaftskritisches Wirken

Indem Gross die Ethik und Normen der Gesellschaft in Frage stellte, wurde er immer mehr politisch, bis zu dem Punkt, an dem er den Umsturz des Systems und damit eine Aufhebung der geltenden Normen propagierte. Die Menschen in der damals gegenwärtigen Gesellschaft waren für ihn unfrei und durch rechtlich-moralische Verpflichtungen in ihren Beziehungen verkümmert und erkrankt (Hurwitz 1988: 275). Die Psychologie des Unbewußten war für ihn eine Philosophie der Revolution, sie diente der Befreiung der vom eigenen Unbewußten gebundenen Individualität und sei berufen, zur Freiheit innerlich fähig zu machen.

Insbesondere den Kampf gegen das Vaterrecht, gegen das Urprinzip der Autorität, gegen die Vergewaltigung in ihrer ursprünglichsten Form, sah Gross als Aufgabe dieser Revolution, die nach seiner Ansicht mit Hilfe der Psychologie des Unbewußten die Beziehung der Geschlechter in einer freien und glückverheißenden Zukunft sah. Im Unterschied zum Vaterrecht, das den Schwerpunkt der rechtlichen Bindungen auf die Seite der Individuen untereinander verschoben hätte, konnte für ihn im Herrschaftsbereich des Mutterrechts alle Selbsthingabe nur im Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft und alles Machtempfinden nur kollektiv zur Geltung kommen. Die Verwirklichung seiner Ideen versuchte er u.a. in einer „Hochschule zur Befreiung der Menschheit“, die in einer Mühle im Wald von Ascona einquartiert war und zu einem anarchistischen Zentrum wurde. 1918 forderte er bei einer Demonstration revolutionärer Arbeiter und Soldaten für sich ein "Ministerium zur Liquidierung der bürgerlichen Familien und Sexualität" (Gross 2000: 187). Die Gesellschaft hat auf ihre Weise reagiert: Gross wurde als "Geisteskranker" entmündigt.

Otto Gross heute

Internationaler Otto Gross Kongress

Der 1. Internationale Otto Gross Kongress fand vom 28. - 30. Mai 1999 in Berlin statt. Vom 03. - 05. Oktober 2008 fand in Dresden zuletzt der 7. Internationale Otto Gross Kongress statt unter dem Motto: "Fröstelnde Einsamkeit" und "Schrei nach Liebe" - Otto Gross, Psychoanalyse und Expressionismus.

Internationale Otto Gross Gesellschaft

Die Internationale Otto Gross Gesellschaft wurde auf dem 1. Internationalen Otto Gross Kongress gegründet. In der Satzung heißt es über Ziele und Aufgaben: "Aufgabe der Gesellschaft ist es, das Werk und die gesellschaftliche Wirkung der Tätigkeit des Arztes, Wissenschaftlers und Revolutionärs Otto Gross zu erforschen, seinen Einfluss auf die geistesgeschichtliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts darzustellen und die Ergebnisse dieser Arbeit öffentlich zugänglich zu machen, auch durch Veröffentlichungen und Veranstaltungen aller Art und durch sonstige Maßnahmen, welche den Zielen und Zwecken der Gesellschaft zu dienen geeignet sind" (Paragraph 2, Abs.1)

Werke

  1. Compendium der Pharmako-Therapie für Politiker und junge Ärzte. Leipzig: Vogel 1901.
  2. Zur Frage der socialen Hemmungsvorstellungen. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Neurologie. Bd. 7. 1901, Nr. 1/2, S. 123-131.
  3. Über Vorstellungszerfall. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. 11 1902, S. 205-212.
  4. Die Affektlage der Ablehnung. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. 12 1902, S. 359-370.
  5. Beitrag zur Pathologie des Negativismus. In: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. Bd. 5 1903/04, Nr. 26, S. 269-273.
  6. Das Freud'sche Ideogenitätsmoment und seine Bedeutung im manisch-depressiven Irreseins Kraepelins. Leipzig: Vogel 1907.
  7. Elterngewalt. In: Die Zukunft. Bd. 65. 1908, S. 78-80.
  8. Über psychophatische Minderwertigkeiten. Saarbrücken 2006.
  9. Zur Überwindung der kulturellen Krise. In: Die Aktion. Bd. 3 1913, Sp. 384-387.
  10. Die Einwirkung der Allgemeinheit auf das Individuum. In: Die Aktion. Bd. 3 1913, Sp. 1091-1095.
  11. Über Destruktionssymbolik. In: Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie. Bd. 4 1914, S. 525-534.
  12. Vom Konflikt des Eigenen und Fremden. In: Die freie Straße. Bd. 4 1916, S. 3-5.
  13. Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik. In: Sowjet. Bd. 1 1919, S. 12-27.
  14. Orientierung des Geistigen. In: Sowjet. Bd. 1 1919, S. 1-5.
  15. Protest und Moral im Unbewußten. In: Die Erde. Bd. 1 1919, S. 681-685.
  16. Zur funktionalen Geistesbildung des Revolutionärs. In: Räte-Zeitung. Bd. 1 1919, Nr. 52.
  17. Drei Aufsätze über den inneren Konflikt. Bonn: Marcus & Weber 1920 (Abhandlungen aus dem Gebiete der Sexualforschung. Bd 2, Nr. 3).
  18. Zur Phyllogenese der Ethik. In: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik. Bd. 9. 1902, S.101-103.
  19. Anmerkungen zu einer neuen Ethik. In: Die Aktion. 1913. Sp. 1142-1144.
  20. Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Mit einem Essay von Franz Jung zu Werk und Leben von Otto Gross. 1. Auflage, Hamburg 2000.

Literatur

Kongressbände

  • 1. Internationaler Otto-Gross-Kongress (Berlin 1999). Hrsgg. von R. Dehmlow und G. Heuer. Marburg 2000 ISBN 3931614905
  • 2. Internationaler Otto-Gross-Kongress (Zürich 2000). Hrsgg. von G. Heuer. Marburg 2002 ISBN 3936134014
  • 3. Internationaler Otto-Gross-Kongress (München 2002). Bohème, Psychoanalyse & Revolution. Hrsgg. vpm R. Dehmlow und G. Heuer. Marburg 2003 ISBN 3936134065
  • 4. Internationaler Otto-Gross-Kongress (Graz 2004). Die Gesetze des Vaters. Hrsgg. von A. Götz von Olenhusen und G. Heuer. Marburg 2005 ISBN 3-936134-08-1
  • 5. Internationaler Otto-Gross-Kongress (Zürich 2005). Utopie & Eros—Der Traum von der Moderne. Hrsgg. von G. Heuer. Marburg 2006 ISBN 3936134189
  • 6. Internationaler Otto-Gross-Kongress (Wien 2006). „… da liegt der riesige Schatten Freuds nicht mehr auf meinem Weg.“ Die Rebellion des Otto Gross. Hrsgg. von R. Dehmlow, R. Rother und A. Springer. Marburg 2008 ISBN 978-3936134216

Weitere Literatur

  • Anz, Thomas & Jung, Christina, Hg. (2002) Der Fall Otto Gross. Eine Pressekampagne deutscher Intellektueller im Winter 1913/14. Marburg an der Lahn.
  • Böhle, Andrea (2005) Otto Gross: Ein vergessener Kulturrevolutionär?, 1. Auflage, München/Ravensburg.
  • Dienes/Von Olenhusen/Heuer/Kocher, Hg. (2005) Gross gegen Gross. Hans & Otto Gross: Ein paradigmatischer Generationskonflikt, Marburg.
  • Green, Martin (1976) Else und Frieda. Die Richthofen-Schwestern. München (engl. orig. 1974).
  • Green, Martin (1999) Otto Gross. Freudian Psychoanalyst, 1877-1920. Literature and Ideas. Edwin Mellen Press, Lewiston Queenston Lampeter.
  • Hurwitz, Emanuel (1988) Otto Gross. Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung, Zürich.
  • Hasler, Eveline (2007) Stein bedeutet Liebe, München.
  • Lamott, Franziska: Die Kriminologie und das Andere. Versuch über die Geschichte der Ausgrenzung. In: Kriminologisches Journal 3/1988, S. 168-190.
  • Dienes, Gerhard/Rother, Ralf, Hg. (2003) Die Gesetze des Vaters. Hans Gross, Otto Gross, Sigmund Freud, Franz Kafka, Wien.
  • Kreiler, Kurt, Hg.(1980) Otto Gross. Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Frankfurt.
  • Laska, Bernd A.: Otto Gross zwischen Max Stirner und Wilhelm Reich. In: Dehmlow, Raimund & Heuer, Gottfried, Hg.: 3. Internationaler Otto Gross Kongress. Ludwig-Maximilians-Universität, München. Marburg: LiteraturWissenschaft.de 2003, S. 125-162.
  • Madison, Lois, Hg. (2000) Otto Gross. Werke. Die Grazer Jahre. New York: Hamilton.
  • Michaels, Jennifer E. (1983) Anarchy and Eros: Otto Gross' Impact on German Expressionist Writers. Frankfurt, New York.
  • Raub, Michael (1994) Opposition und Anpassung. Eine individualpsychologische Interpretation von Leben und Werk des frühen Psychoanalytikers Otto Gross. Frankfurt, New York (Europäische Hochschulschriften. Reihe 6: Psychologie. Bd. 441).
  • Sombart, Nicolaus (1991) Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt - ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos. München (s. 5. Kapitel: Der »wahre« Feind: Otto Gross).

Weblinks