Mystic River

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wird bearbeitet von Imke Haase, J. Nickel und Maike Riethmüller


Mystic River ist ein preisgekrönter Thriller von Clint Eastwood aus dem Jahr 2003. Aus kriminologischer Sicht interessant ist seine Darstellung krimineller Subkulturen. Der Film, der in einem Arbeiterviertel Bostons spielt, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. zwei Oscars für Sean Penn und Tim Robbins als bester Schauspieler bzw. bester Nabendarsteller.


Über den Film

Abschnitt bearbeitet von Imke Haase

Setting

Mystic River spielt im Norden Bostons, in einem Arbeiterviertel, wo der Mystic River in den Boston Harbor fließt. Das Viertel wird durch die Mystic River Brücke vom größeren, urbanisierteren und lebendigeren Teil der Stadt abgeschnitten. Dies zeigt die geografische Isolation des Viertels. Die Gegend ist geprägt durch seine irisch- katholischen Wurzeln und ist arm. Wegen seiner eigenen Geschichte, Codes und spezifischen Sorgen bildet sie eine eigene Subkultur. Eine klaustrophobische Atmosphäre des Films unterstreicht die Natur dieser Subkultur, welche durch die Auslassung digitaler Effekt zustande kommt. Die Menschen in dem Viertel werden als toughe Frauen bzw. viel trinkenden, oft aggressiven und manchmal gewalttätigen Männern dargestellt.

Handlung

Im Mittelpunkt steht die Freundschaft dreier Männer: Jimmy Markum (Sean Penn), Tim Robbins (Dave Boyle) und Kevin Bacon (Sean Devine). Als Kinder erleben diese einen schrecklichen Vorfall, bei dem der kleine Dave Boyle von zwei Männern vor den Augen seiner beiden Freunde in ein Auto gezerrt und vier Tage lang vergewaltigt wird. Dies wird in der Eröffnungsszene dargestellt, danach macht der Film einen Sprung in die Gegenwart, 25 Jahre nach der Tat. Dave Boyle ist mittlerweile verheiratet und hat einen kleinen Sohn. Es wird deutlich, dass er das Trauma, welches er als kleiner Junge erlebte, nie überwinden konnte. Er ist noch immer ein permanentes Opfer, das sich zerstreut bewegt und spricht. Jimmy Markum ist Besitzer eines kleinen Supermarkts. Er hat eine 19-jährige Tochter, deren Mutter seit langem verstorben ist und zwei jüngere Töchter mit seiner jetzigen Frau. Sean Devine ist Polizist, dessen schwangere Ehefrau vor sechs Monaten verschwunden ist, die ihn regelmäßig versucht anzurufen, aber nicht sprechen kann. Die drei Jugendfreunde sehen sich zwar kaum noch, bleiben aber durch die gemeinsame Erinnerung an Daves Vergewaltigung untrennbar miteinander verbunden. Unter tragischen Umständen kreuzen sich die Wege der drei Jugendfreunde wieder: Jimmy weiß nicht, dass seine geliebte, älteste Tochter Katie plant mit ihrem Freund, dem Nachbarsjungen Brendan Harris nach Las Vegas durchzubrennen. Ihre Abschiedsfeier mit ihren Freundinnen endet mit dem Tanzen auf den Tresen einer Bar, wo Dave ein Bier trinkt. Am nächsten Morgen entdeckt Jimmy, dass Katie nicht zu Hause ist: aber anstatt ihre Pläne zu verfolgen, wird in einem Park ihre Leiche entdeckt. Jimmys Trauer ist unendlich, er schwört seine Tochter zu rächen. Währenddessen erfährt der Zuschauer, dass am Abend zuvor Dave erst spät nach Haue kommt, blutverschmiert. Seiner Frau erzählt er vollkommen aufgelöst, dass er vielleicht einen Mann getötet hat, der ihn angegriffen hat. Nach und nach wird deutlich, dass Jimmy Teil einer kriminellen Gang war, mit den Savvage Brüdern und Brandans Vater, Just-Ray Harris. Dieser hatte Jimmy vor Jahren verraten, sodass Jimmy zwei Jahre ins Gefängnis musste und deshalb beim Tod von Jimmys erster Frau, Katies Mutter, nicht da war. Dafür hat er ihn nach seiner Haftentlassung umgebracht und in den Mystic River geworfen. Der Frau und den Kindern von Just-Ray Harris schickt er im Namen von Just-Ray Harris monatlich 500Dollar, sodass diese glauben, er sei einfach nur abgehauen. Sean und sein Kollege sind die ermittelnden Polizisten, um den Mörder Katies zu finden. Dave, der die Geschichte seiner Handverletzung immer wieder ändert, wird schnell von der Polizei verdächtigt, Katie umgebracht zu haben. Auch seine Ehefrau beginnt ihn zu verdächtigen Katies Mörder zu sein und konfrontiert Jimmy mit ihren Befürchtungen. Daraufhin beauftragt Jimmy die Savage Brüder Dave in eine Bar am Mystic River zu bringen. Die Szene, in der Dave in das Auto der Savage Brüder steigt weist Parallelitäten zu der Eröffnungsszene auf, in der der kleine Dave von seinen zwei Vergewaltigern mit dem Auto davonfährt. Dort füllen sie Dave mit Alkohol ab. Jimmy erschießt und tötet Dave am Strand, im Glauben er sei Katies Mörder. Noch einmal wird Dave zum Opfer. Gleichzeitig zu der Szene der Tötung Daves wird eine weitere Szene mit Brendan, seinem stummen Bruder Silent-Ray und dessen Freund gezeigt. Die Unfähigkeit (oder Ablehnung) zu sprechen ist ein weiteres Zeichen für die im Film gezeigte Isolation und die Unmöglichkeit von Kommunikation in einer subkulturellen Welt. Es stellt sich heraus, dass Silent Ray und sein Freund Katie umgebracht haben als Katie bemerkte, dass sie eine Waffe haben. Die Waffe stammte noch von Just-Ray Harris, der sie im Haus versteckte bevor Jimmy ihn umbrachte. Die Polizisten finden die Leiche eines Pädophilen im Gebüsch, die die Unschuld Daves bestätigt. Als Jimmy seiner Ehefrau gesteht, einen Unschuldigen umgebracht zu haben, erfährt er von ihr Verständnis und Bewunderung, da es ein Weg sei, die Macht in der Nachbarschaft auszubauen und es „nie falsch ist“ , etwas zu tun, um seinen Geliebten zu helfen. In der Schlussszene wird eine Feiertagsparade gezeigt. Zum ersten Mal ist es ein sonniger Tag. Seans Frau ist mit dem mittlerweile geborenen Baby zu ihm zurückgekehrt, ein Hinweis, dass Heilung möglich ist. Trotzdem bleibt Kommunikation zumeist unmöglich in einem solchen Umfeld. Die Ehefrau Jimmys blickt triumphierend zu der Witwe Daves, die versucht Kontakt zu ihrem Sohn aufzunehmen, der auf einem der Umzugswagen sitzt, seine Mutter aber nicht bemerkt. Sean zeigt durch eine Handformung einer imaginären Pistole Jimmy, dass er weiß, dass dieser Dave umgebracht hat. Im Moment sind Jimmy und seine Ehefrau allerdings zu stark um den Zirkel des Schweigens zu brechen. Die Kamera lenkt den Blick des Zuschauers noch einmal auf die Ursprünge des ganzen Leids- die auf den Gehweg eingravierten Namen der drei Jungen, die diese kurz vor der Vergewaltigung in die frisch asphaltierte Straße schrieben und zeigt dann noch einmal die Mystic River Brücke, aber diesmal mit Blick von der anderen Seite des Hafenbeckens auf die Gegend, in der Gewalt von Generation zu Generation weitergegeben wird. Dies verdeutlicht den Lernprozess der Gewalt. In solchen Subkulturen nehmen die Menschen die Normen ihrer Umgebung auf, wie etwa die Überzeugung, dass man das Gesetz in die eigene Hand nehmen muss.

Kriminologische Rezeption

2011 veröffentlichen die us-amerikanischen Kriminologinnen Nicole Rafter und Michelle Brown eine Einführung in die kriminologische Theorienlandschaft (Rafter, Nicole; Brown, Michelle: Criminology Goes to the Movies. New York University Press, 2011). Ausgehend von ihrer Beobachtung der Kriminologie als ein Feld, das gleichermaßen von Wissenschaftlern wie von Produzenten und Rezipienten populärer Kultur bestellt wird, griffen sie in Ihrer Lehrtätigkeit häufig auf Spielfilme als illustrierende Beispiele zurück. Diese Vorgehensweise machten sie zur Grundlage ihrer Einführung und trugen damit einem zweiten Aspekt Rechnung: das konkrete Beispiel soll Studierenden helfen, die Entwicklungslinien innerhalb der Kriminologie und die Argumentationsstränge einzelner Theorien zu verstehen und zu verinnerlichen. Die gleichzeitige Teilhabe von Wissenschaft und Popkultur an der Entwicklung kriminologischer Theorien bot hier einen gerechtfertigten Anlass.

Kriminologische Theorien

Abschnitt bearbeitet von Maike Riethmüller


Es gibt verschiedene kriminologische Theorien die nach Rafter und Brown in Bezug zu diesem Film gesetzt werden können. Dazu gehören die Social Learning Theories und die Subcultural Theories of Crime, die hier erläutert werden sollen.



Social Learning Theories


Die Social Learning Theories argumentieren, dass jegliches Verhalten aus einem Lernprozess hervorgeht, also auch kriminelles Verhalten. Somit sind diese Theorien Gegenstücke zu Theorien mit einer biologischen Erklärung. Kriminelles Verhalten kann also nicht entstehen, wenn man keinen Kontakt zu Menschen hat, die kriminell handeln. Die Wurzeln dieser Theorien liegen in Behaviorismus und kognitiven Lerntheorien: Menschen lernen auch durch Beobachtung. Das bedeutet, dass Wissen und Erfahrungen anderer an andere Menschen weitergegeben werden können. So kann neues Wissen und Verhalten erlernt werden, indem man andere Menschen und ihr Verhalten wahrnimmt, beobachtet und dann nachahmt. (Schmitt) Nachgeahmt wird das Verhalten, wenn es als sinnvoll erscheint und dann in einen sinnvollen sozialen Zusammenhang gesetzt wird. (Angermeier)


Beispiel: Differential Association Theory


Sutherland setzte diese Theorien in einen kriminologischen Kontext. Er entwickelte die Differential Association Theory in den 1920er Jahren. Der Ausgangspunkt dieser Theorie ist die Aussage, dass kriminelles Verhalten erlernt ist. Dies bringt zum Ausdruck, dass es sich um eine soziale Theorie von krimineller Kausalität handelt. Kriminelles Verhalten werde außerdem in Interaktion mit anderen in einem Kommunikationsprozess erlernt. Dies finde vor allem in kleinen, persönlichen Gruppen statt. Somit spielen Massenmedien keine große Rolle. Die Technik, die beim Begehen eines Verbrechens benötigt wird, aber auch die Einstellung gegenüber dem Gesetz, sind von Bedeutung. Das Herzstück der Theorie ist die Aussage, dass die Überzeugungen und Werte, die ein Mensch hat, darüber entscheiden, ob er straffällig wird oder nicht. Überwiegen die Einstellungen, die kriminelles Verhalten favorisieren, so ist es wahrscheinlich, dass dies zu kriminellen Verhalten führt. Dasselbe gilt auch für gesetzeskonformes Verhalten. Hierbei ist aber auch der Prozess der Entscheidung von Bedeutung. Die Kontakte zu anderen Menschen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Überwiegen die Kontakte zu kriminellen Menschen, was auch etwas mit der Intensität und der Dauer dieser zu tun hat, ist es wahrscheinlicher, dass man selbst zu kriminellen Verhalten neigt. Abschließend hebt Sutherland noch hervor, dass kriminelles Verhalten ein Ausdruck von Grundbedürfnissen und Werten ist, aber nicht davon erklärt werden kann, weil gesetzestreues Verhalten auch ein Ausdruck dieser Bedürfnisse und Werte sei. Diese Erkenntnis zeigt seiner Theorie nach deutlich, dass die Erklärungen kriminellen Verhaltens hauptsächlich in die Richtung von Zuständen gehen, die kriminelles Verhalten begünstigen, und nicht psychologisch oder biologisch erklärbar sind. (Criminology goes to the Movies, S.103-105)


Subcultural Theories of Crime


Nach Nicole Rafter und Michelle Brown kann man auch die Subcultural Theories of Crime auf Mystic River beziehen. Das Interesse an kriminellen Verhalten von Subkulturen entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, da sich vor allem zu dieser Zeit viele jugendliche Subkulturen in Amerika entwickelten. In der Kriminologie gab es zwei unterschiedliche Traditionen, die sich mit Subkulturen und Gangs befassten. Die eine entwickelte sich aus der Chicago School, welche sich mit kulturellen Unterschieden,städtischen Unterschieden und sozialer Desorganisation innerhalb der ganzen Gesellschaft beschäftigte, die andere aus Mertons Anomietheorie. Diese beschäftigt sich mit der Entstehung von kriminellen Subkulturen und versucht eine Erklärung dafür zu finden, warum diese meist aus männlichen Jugendlichen aus der Arbeiterklasse bestehen. Grund dafür ist nach Merton das Unvermögen, Mittelklasseziele zu erreichen, aufgrund von Benachteiligungen der Arbeiterklasse. Dieses Spannungsfeld könne auf unterschiedliche Weise bewältigt werden. Es gäbe die Möglichkeit dieses auf einem legalen Wege zu überwinden. Ein anderes Mittel ist nach Cohen ein Wechsel der Bezugsgruppe und der dritte Weg sei eine bewusste Abgrenzung zur Mittelschicht und eine Entwicklung eigener Normen und Werte.

Dies könne im Ergebnis als Subkultur beschrieben werden und zu einer Rechtfertigung von kriminellen Vorgehensweisen führen. Cloward und Ohlin entwickelten Mertons Anomietheorie weiter und verknüpften diese mit der Subkulturtheorie von Cohen. So kamen sie zu dem Schluss, dass die Kriminalitätswahrscheinlichkeit nicht nur aufgrund eines Mangels an legalen Mitteln um Ziele in einer Gesellschaft zu erreichen ansteige. Entscheidend sei vor allem die Verfügbarkeit illegitimer Mittel. Diese seien in Subkulturen leicht zugänglich.



Interpretation des Films aus kriminologischer Sicht – Kritik am interdisziplinären Ansatz von Rafter/Brown

Rafter und Brown begründen ihre Entscheidung für Mystic River als illustrierendes Beispiel mit seiner ihrer Lesart nach starken Darstellung einer kriminellen Subkultur. Sie sehen in diesem Film drei Dimensionen einer in sich geschlossenen Welt dargestellt: die geographische, die psychologische und die soziologische Abgeschlossenheit des Viertels und seiner Bewohner.

Grundlegende Lesart des Films

Noch vor der Wiedergabe des Plots nehmen die Autorinnen einige Deutungen vor. Bereits die erste Kamerafahrt, die die Lage der Flats zeigt, interpretieren Rafter und Brown als Betonung der geographischen (und metaphysischen) Isolation des Viertels (Rafter; Brown 2011: 108). Ihre Interpretation vergleicht die in den Flats lebende Gemeinschaft mit den völlig abgeschotteten Gemeinschaften von Inselbewohnern, wie sie von der frühen Subkulturforschung vorgefunden wurden. Auch die Inhaltsangabe ist durch einige deutende Anmerkungen unterbrochen – so wird z.B. die Stummheit des jungen Silent-Ray als Metapher für die Isolation dieser Subkultur und die in ihr herrschende Unfähigkeit zur Kommunikation gelesen.

Dass ihre Lesart des Films als Darstellung einer völlig isolierten Subkultur mitunter den Blick der Autorinnen verstellt, zeigt sich z.B. an einer Interpretation eines Zitats der Figur des State-Police-Officers Sean Devine (Rafter; Brown 2011:111). Sean spricht an dieser Stelle als Erwachsener über die nicht endenen Folgen der Vergewaltigung (Zeitangabe: 01:59:12). Rafter und Brown gehen in ihrer Deutung davon aus, dass die Vergewaltiger des kleinen Dave nicht gefunden wurden und dass bis zu ihrer Festsetzung die Gewalt weitergehen werde. In einer früheren Szene hat der Zuschauer aber bereits erfahren, dass die Täter kurz nach der Tat gefasst worden waren und mittlerweile beide tot sind (Zeitangabe: 00:40:13). Das zentrale psychologische Thema des Films – die Schuldgefühle der beiden davongekommenen Jungen und heutigen Männer Jimmy und Sean gegenüber dem Opfer Dave – wird in der Interpretation von Rafter und Brown nicht berücksichtigt.

Hinsichtlich der soziologischen Dimension ließe sich jenseits der von Rafter und Brown gewählten Lesart einer isolierten Subkultur eine andere Interpretation denken: Mystic River ist gerade nicht eine Erzählung über soziales Lernen, sondern eine Reflexion über den Determinismus. Denn Dave hat nicht gelernt, Opfer zu sein, sondern ein schicksalhaftes Ereignis, dass zufällig ihn als Opfer zurückließ, ist verantwortlich für den späteren 'Brudermord' („fratricidal murder“ (Rafter; Brown 2011:101). Mehrfach sprechen Sean und Jimmy die Zufälligkeit des Geschehens an, fragen sich, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie an Stelle von Dave entführt und vergewaltigt worden wären (Zeitangaben: 00:36:00 und 01:59:12). Dabei kommen ihre irrationalen Schuldgefühle ebenfalls immer wieder zur Sprache.

Als die Leiche von Jimmys Tochter Katie gefunden wird, zeigt sich das vom Glauben an die Prädestination geprägte Weltbild des Polizisten Sean, als er sich fragt, was er Katies Vater, seinem Jugendfreund Jimmy, sagen soll: „Hey Jimmy, Gott dachte, Du seiest ihm noch was schuldig. Sieh mal, er hat kassiert“ (Zeitangabe: 00:32:17). Dieses Bild wird noch verstärkt, wenn am Ende des Films festgestellt wird, dass Katie mit einem Hockeyschläger erschlagen wurde. 25 Jahre zuvor spielten die drei Freunde ebenfalls Hockey, als der Wagen mit den Entführern auftauchte und das ‚Schicksal’ seinen Lauf nahm. Das deterministische Grundthema wird außerdem symbolisch anhand der Namenszüge inszeniert, die die drei Jungen bei ihrem Spiel auf der Straße in ein Feld frischen Beton ritzen. Dave kommt nicht dazu, seinen Namen ganz zu schreiben, er wird vom Eintreffen der Entführer unterbrochen. Ebenso wie sein Namenszug bleibt auch er ein Rudiment, kann infolge des Verbrechens seine Persönlichkeit nicht entwickeln.

Die wie ‚in Stein gemeißelten’ Folgen des traumatischen Erlebnisses wirken fort bis in die weite Zukunft – entsprechend gibt es eine Szene, in der der erwachsene Dave das Rudiment seines Namens in dem alten Betonfeld betrachtet (Zeitangabe: 00:08:51). Dave wird in vielerlei Hinsicht Opfer: Zuerst durch seine Entführer und Vergewaltiger, später durch den Verrat seiner Ehefrau, die Jimmy ihren Verdacht mitteilt und durch die Strafvereitelung durch Sean, der den Mord an Dave nicht verfolgt. Eine solche Lesart des Films legt als grundlegendes Erzählmotiv weder die Isolation der Subkultur noch die erlernte und sich fortsetzende Dominanz kriminellen Verhaltens nahe, sondern die psychische Unfähigkeit aller Beteiligten, mit einem Opfer gewordenen Menschen umzugehen und (hier lässt sich die Einschätzung von Rafter und Brown teilen) die Unfähigkeit zur Kommunikation (und damit zur Überwindung der Schuldgefühle).


Bezugnahme auf Edwin Sutherland: Differential Association Theory

Bei der Entwicklung seiner Theorie der differentiellen Assoziation ging Sutherland von Lern-, Interaktions- und Kommunikationsprozessen als Grundlage der Erklärung von Kriminalität aus. Bereits die erste der neun Thesen seiner Theorie der differentiellen Assoziation stellte fest: Kriminelles Verhalten wird erlernt.

Damit schloss er, so Rafter und Brown, psychologische und biologische Erklärungen von vornherein aus und setzte die soziologische Perspektive als Ausgangspunkt an. Schon bei der Betrachtung dieser ersten These stellt sich die Frage, wieso die Autorinnen Rafter und Brown ein psychologisch komplex gebautes Drama auswählen, wenn die zu illustrierende Theorie psychologische Erklärungen für Kriminalität ausschließt. Zwar ließe sich anführen, dass es Rafter und Brown nicht um die einzelne, möglicherweise aus Leidenschaft verübte Tat ging, sondern um den Automatismus der Selbstjustiz, der Jimmy zum ‚Brudermörder’ werden lässt. Allerdings ist der Automatismus – und er wäre hier der soziologisch interessante Aspekt – nicht das zentrale Erzählmotiv des Films.

Sutherlands Thesen 2 und 3, die kriminelles Verhalten als in Interaktion und durch Kommunikation innerhalb direkter sozialer Kontakte gelerntes Verhalten beschreiben, verweisen bereits auf den Bereich einer Subkultur. In den Thesen 4 und 5 vertieft sich der Blick auf Subkulturen, denn Sutherland sieht nicht nur kriminelle Techniken und Praktiken, sondern auch bestimmte Haltungen und Einstellungen gegenüber gesetzeskonformem Handeln als Gegenstand des Lernprozesses. In These 6 schließlich entwickelt Sutherland den Kerngedanken der differenziellen Assoziation: Eine Person wird kriminell, wenn innerhalb ihres sozialen Beziehungsgeflechts diejenigen Haltungen überwiegen, die dem Gesetztesbruch positiv gegenüberstehen. Umgekehrt wird diejenige Person nicht kriminell, die innerhalb ihres Umfelds überwiegend Einstellungen und Werte kennenlernt, die gesetzestreu sind. Dass die Lernprozesse in solchen Begegnungen mit gesetztestreuen oder gesetzesablehnenden Haltungen und Einstellungen denselben Mechanismen folgen, wie jeder andere Lernprozess auch, stellt Sutherland abschließend fest. Das Subjekt ist bei Sutherland also einerseits durch sein Umfeld bestimmten Lernprozessen unterworfen, hat aber andererseits eine gewisse Entscheidungsfreiheit. Das Ausmaß der Entscheidungsfreiheit ist durch die Offenheit seines Umfelds bestimmt. Je in sich geschlossener eine Gemeinschaft/ eine Subkultur, desto schwieriger wird es für den Einzelnen sein, freie Entscheidungen über seine den Unterschied zwischen kriminellem und nicht-kriminellem Handeln begründende Beziehungen zu fällen.

Um Mystic River erfolgreich als Illustration der Sutherlandschen Theorie nutzen zu können, hätte er über ein breiter angelegtes Erzählmotiv verfügen und sich weniger mit der psychologischen Komponente des Schuldgefühls befassen müssen. Soziales Lernen von deviantem Verhalten ist in Clint Eastwoods Film allenfalls an der Selbstverständlichkeit festzumachen, mit der Silent-Ray und sein Freund die gefundene Waffe des Vaters als Spielzeug benutzen, Katie aus Spaß bedrohen und sie schließlich umbringen. Dass sie keinen anderen Weg wissen, mit dem Konflikt (Katie könnte ihre Waffenspielerei verraten) umzugehen, als das Mädchen zu erschlagen, verweist darauf, dass sie Gewalt als Lösung für Konflikte kennengelernt haben und akzeptieren.

Inwieweit Jimmy seine kriminelle Karriere aufgrund eines Lernprozesses einschlug, lässt sich nicht sagen. Allerdings ist festzuhalten, dass von den drei Jungen, die in den Flats aufwuchsen, nur einer kriminell wurde: Jimmy. All diese Einwände lassen Mysic River als nicht geeignet erscheinen, die Theorie der differentiellen Assoziation zu illustrieren. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob die Verwendung im Sutherlandschen Zusammenhang dem Film gerecht wird, da auf diese Weise eine Interpretation nahegelegt wird, die am Kern der Erzählung vorbeigeht.


Bezugnahme auf Albert K. Cohen: Subkulturtheorie

Auch die zweite der beiden Theorien, die Rafter und Brown im entsprechenden Kapitel ihrer Einführung vorstellen und die der Sutherland-Schüler Albert Cohen entwickelte, ließe sich anhand eines anderen Films besser darlegen.

Cohen beschäftige sich mit der Frage, woher jene Beziehungen kommen, die den Unterschied zwischen delinquentem und nicht-delinquentem Verhalten ausmachen. Seine Arbeit verfasste er in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als sich in den USA die ersten jugendlichen Subkulturen bildeten und sich einige in Gangs wandelten. Sutherlands Theorie einer engen Gemeinschaft, die durch das Vermitteln von Normen und Werten, Haltungen und Einstellungen das Erlernen kriminellen Handelns ermöglicht oder verhindert, floß in der Arbeit von Cohen mit Robert K. Mertons Anomietheorie zusammen.

Zwar spielt Mystic River in einer Arbeitergegend und zeigt eine sozial benachteiligte Gemeinschaft, aber zentrales Erzählmotiv ist auch dies nicht. Im Gegenteil – die Karriere von Sean Devine zeigt die soziale Durchlässigkeit an: Sean studierte vier Jahre lang und wurde State-Police-Officer. In Deutschland entspricht dies einem Kommissar beim Landeskriminalamt. Ähnliches gilt für Jimmy Markum: er beendete seine kriminelle Laufbahn und betreibt einen Tante-Emma-Laden. Erst die Konfrontation mit der Vergangenheit, ausgelöst durch all die Verstrickungen zwischen Dave, Sean, Familie Harris und Jimmy, bringt ihn dazu, seinen alten Status als Gangchef wieder anzunehmen.

Die Geschichte der Isolation, die in Mystic River erzählt wird, ist die Isolation der Psyche, nicht die des Viertels und der dortigen Gemeinschaft.

Literatur

  • Rafter, Nicole; Brown, Michelle: Criminology Goes to the Movies. Ney York University Press, 2011
  • Mystic River. USA 2003, 138 Min., Regie: Clint Eastwood, Drehbuch: Brian Helgeland, Romanvorlage: Dennis Lehane, Verleih: Warner Brothers Pictures

Weblinks