Selbstjustiz

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Selbstjustiz ist die (Wieder-) Herstellung von Gerechtigkeit durch Betroffene, ohne Einbezug Dritter (Gerichte). Sie ist eine Form der Konfliktregelung, welche in vorstaatlichen Gesellschaften ein zentrales Element dieser darstellte. Mit der Entstehung von Zentralgewalten geriet Selbstjustiz als Regelung von Konflikten in den Hintergrund und ist heute bis auf wenige Ausnahmen verboten. Dennoch ist sie weiterhin ein weit verbreitetes Phänomen mit unterschiedlichen Ausprägungen und findet sich in allen Gesellschaften.

Siehe auch: Selbstjustiz in Lateinamerika

Definition

Von Selbstjustiz spricht man, wenn jemand seine streitigen Rechte nicht mit Hilfe der Gerichte sondern selbst durchsetzt. Vorgegangen wird gegen erlittene Straftaten oder sonstige als rechtswidrig oder ungerecht empfundene Handlungen. Darüber hinaus ist Selbstjustiz häufig ein Ausdruck von Missständen. Gemeinschaften können für die Handlungen einzelner verantwortlich gemacht werden. Bspw. könnte ein Polizist zufällig angegriffen werden aufgrund der Verhaltensweisen von Kollegen in der Vergangenheit. Menschen werden verantwortlich gemacht wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nachbarschaft, sozialen Klasse, Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit. Selbstjustiz ist häufig mit Rache verbunden.

Sie ist besonders verbreitet in Gesellschaften mit gering entwickelter sozialer Kontrolle und Recht bzw. in solchen in denen das Gesetz nicht adäquat verfügbar ist. Dies gilt auch für Gesellschaften in denen das Recht für bestimmte Bevölkerungsgruppen (z.B. ethnische Minderheiten) oder in bestimmten Situationen (z.B. häusliche Konflikte) nicht oder nicht ausreichend verfügbar ist.


Verwandte Begriffe

Selbsthilfe ist die Durchsetzung bestrittener Rechte unter Umgehung der rechtlichen Mittel, Selbsthilfe ist nur im Ausnahmefall zulässig, wird sie trotzdem ausgeübt spricht man von Selbstjustiz.

Vigilantismus (engl. vigilantism) bezeichnet i.d.R. ein spezifischeres Phänomen. Der Wortursprung liegt im angelsächsischen. Vigilantism (von lat. "vigil", "wachsam", span. "vigilante", "Wächter, Wachmann, Schutz") wird z.T. übersetzt mit Selbstjustiz. Gebräuchlicher ist jedoch die Übersetzung mit der Bildung von Bürgerwehren, d.h. in Komitees organisierte Selbstjustiz. Die Gruppenmitglieder nehmen das Gesetz in die eigene Hand. Vigilantismus meint eine konservative Selbstjustiz (i.d.R. in Gruppen) um eine soziale Ordnung zu kreieren, zu erhalten oder wieder herzustellen.

Vigilantismus beinhaltet sechs Bestandteile: 1. Planung und Vorsatz bei den Gruppenmitgliedern 2. Gruppenmitglieder sind Privatpersonen, die freiwillig Mitglied der Gruppe sind 3. es ist eine Form einer sozialen Bewegung 4. Zwang und Gewalt werden angewandt bzw. deren Anwendung angedroht 5. Vigilantismus tritt auf, wenn eine etablierte Ordnung durch Verstöße in Gefahr ist, aufgrund potentieller Verstöße oder unterstellter Normübertretung 6. Ziel ist die Kontrolle von Kriminalität oder anderen Formen sozialer Abweichung um Sicherheit für die Gruppenmitglieder und andere zu gewährleisten, ein weiteres Ziel kann die Kontrolle von sozialen Gruppen darstellen

Viele dieser Gruppen engagieren sich in Bereichen in denen das Recht ihrer Meinung nach ineffektiv oder institutionell nicht ausreichend unterstützt ist. Häufig entstehen Bürgerwehren aufgrund von Unsicherheitsgefühlen und dem Bedürfnis nach Schutz.

Lynchjustiz, Bestrafung (insbesondere durch Tötung) ohne richterliches Urteil durch eine aufgebrachte Volksmenge

Privatstrafrecht, Strafrechtsform früher Gesellschaften, beruhte auf Selbstjustiz und Selbsthilfe

Notwehr, Recht zu einer Verteidigung die notwendig ist um einen gegenwärtigen Angriff von sich abzuwehren, Nothilfe, Recht auf Verteidigung zur Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf andere, Notstand, Lage in der jemand gezwungen ist zur Abwehr von Gefahren in Rechtsgüter anderer einzugreifen, Notwehr, Nothilfe und Notstand stellen Grenzen der Selbstjustiz dar


Geschichte

In vorstaatlichen Gesellschaften war die Konfliktregelung selbst im Grunde nur Selbstjustiz. Das Recht entwickelte sich in einem sich selbst regulierenden Prozess. Die Gesellschaft schaffte sich ihre Regeln und war auch für die Durchsetzung verantwortlich. Konflikte endeten mit einem Konsens oder Selbsthilfe Mit der Entstehung des Staates veränderte sich das Recht. Es wird immer mehr von oben bestimmt (Herrscher, Fürst, König). Im 3. und 2. Jahrtausend vor Christus mit der Entstehung von Protostaaten begann die Rechtsstruktur sich zu verändern. Es entstanden staatliche Gerichte die nicht mehr im Konsens schlichten sondern autoritär entscheiden. Diese zogen jedoch nur einen Teil der Delikte an sich (Tötungsdelikte, Zauberei, schwere Tabubrüche, Beleidigung des Häuptlings); für die Regelung der restlichen, bestanden weiterhin privatstrafrechtliche Mechanismen. Bis zum Hochmittelalter herrschte das klassische Privatstrafrecht. Privatrecht und Strafrecht waren eins, bzw. existierten z.T. nebeneinander. Im 12. Jahrhundert gab es den endgültigen Durchbruch zum öffentlichen Strafrecht. Auf der einen Seite entwickelte sich die öffentliche Strafe, auf der Anderen der private Schadensersatz. Der hauptsächliche Grund für die Entstehung öffentlichen Strafrechts ist die Existenz staatlicher Ordnung, angetrieben wird sie durch das Wachsen des Staates. Ein weiterer Grund ist die Bevölkerungsexplosion der damaligen Zeit. Die Städte entwickelten sich. Das alte Privatstrafrecht ist auf nahe Beziehungen in kleinen Gemeinden ausgelegt und war mit dieser Entwicklung überfordert. Darüber hinaus entstand eine neue Kriminalität und somit die Notwendigkeit für ein anderes Strafrecht. Selbsthilfe, Fehden und Blutrache wurden mit Hilfe des neuen Rechtes bekämpft.


Trotz Verbotes gab es weiterhin Fälle von Selbstjustiz. Der wahrscheinlich berühmteste Fall ist die Chronik des Hans Kohlhase, von Heinrich von Kleist als Held seiner gleichnamigen Erzählung Michael Kohlhaas literarisch verarbeitet. Im 16. Jahrhundert wollte Hans Kohlhase durch einen Feldzug sein erlittenes Unrecht rächen. Er erklärte seinem persönlichen Widersacher sowie dem Land Dresden die Fehde, nachdem es ihm nicht gelang sein Recht mit offiziellen Mitteln zu erlangen.

Vigilantismus war in den USA historisch insbesondere in den Bundesstaaten Montana und Kalifornien während der Zeit des Goldrauschs verbreitet, sowie zur Zeit der Arbeiterunruhen zwischen den Weltkriegen.

Im deutschsprachigen Raum existierten Bürgerwehren zur Verteidigung der Städte. In Freiburg bereits 1293 erwähnt, spielten sie vor allem während der badischen Revolution (1848) eine bedeutende Rolle.


Rechtlicher Rahmen (Deutschland)

Selbstjustiz ist verboten, da der Staat das Recht für sich in Anspruch nimmt als einziger Bestrafungen auszusprechen. Er beansprucht das Straf- und Rechtsprechungsmonopol. Somit bleibt Selbstjustiz grundsätzlich jede rechtliche Anerkennung versagt. Je nach Art der eingesetzten Mittel kommt auch eine Strafbarkeit in betracht.

Als Ausnahme dieses Grundsatzes ist "Selbstjustiz" (im tatsächlichen Ausnahmefall kann dann nicht von Selbstjustiz gesprochen werden) erlaubt, wenn obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist. Näheres dazu regelt § 32 StGB Notwehr/Nothilfe sowie strafrechtlicher (§ 34 StGB, § 16 OWiG) und zivilrechtlicher Notstand (§§ 228, 904 BGB). Weitere Selbsthilferechte sind geregelt in § 229 BGB. Demnach ist Selbsthilfe zulässig, wenn obrigkeitliche Hilfe nicht zu bekommen ist, aber die Gefahr besteht, dass ohne sofortiges Handeln die Verwirklichung eines Anspruchs erschwert oder vereitelt wird. Im besonderen Teil des BGB gibt es zudem Selbsthilferechte in den §§ 562b, 895 und 1029.


Selbstjustiz und Vigilantismus in heutiger Zeit

Die Art der Fälle von Selbstjustiz bzw. die Gründe haben sich seit der Zeit des reinen Privatstrafrechts bis heute nicht maßgeblich geändert. Sie stellen eine Reaktion auf abweichendes Verhalten dar. Tötungsdelikte sind damals wie heute häufig verbunden mit Ehebruch bzw. beziehen sich auf Sex, Liebe, Loyalität oder Streitigkeiten über häusliche Angelegenheiten. Vandalismus, Raub und Diebstahl können ebenfalls häufig mit Selbstjustiz und Rache verbundene Delikte sein.

Fälle von Selbstjustiz und Vigilantismus finden sich in allen Gesellschaften. So finden sich in den USA verschiedene Bürgerwehren bzw. Selbstschutzgruppen wie bspw. die Bewegung der Abtreibungsgegner, Patrouillen in Nachbarschaften sowie U-Bahnen und Gruppen zur Bewahrung der Grenzsicherheit. Diese Erscheinungsformen werden auch als "Neo-Vigilantism" bezeichnet. Daneben stehen Formen des "Cyber-Vigilantism". Im Internet wird gegen Sexualstraftäter, Terroristen, Spam-Mails, Betrüger und Copyright-Verletzer vorgegangen. Auch im Rahmen von Megan`s Law, welches die Veröffentlichung von Daten (einschließlich Wohnort) vorbestrafter Sexualstraftäter regelt, sind einige Fälle von Selbstjustiz durch Einzelpersonen und Gruppen aufgetreten.

Weiterhin sind Vigilantismus und Selbstjustiz verbreitete Phänomene in Afrika, Asien und Lateinamerika. Für lateinamerikanische Gesellschaften können ebenfalls verschiedene Arten von Vigilantismus und Selbstjustiz unterschieden werden. Zum einen gibt es Gewalttätigkeiten von Bürgern gegen Autoritäten und von Bürgern gegen andere Bürger (Lynchjustiz), quasi-justizielle Gewalt gegen Bürger durch pensionierte Polizisten, Militärs und z.T. Zivilisten (diese werden z.T. für ihre Dienste bezahlt). Weiterhin existiert Gewaltanwendung durch death-squads und paramilitärische/parapolizeiliche Gruppen. Die Verhaltensweisen dieser Gruppen werden häufig durch die jeweilige Regierung geduldet und geschehen mit deren Einverständnis und z.T. deren Einbindung. Gewalt von Polizeibeamten gegen vermeintliche und tatsächliche Kriminelle, sowie Staatsfeinde, stellt eine weitere Form von Selbstjustiz dar.

Ehrenmorde sind ebenfalls eine Art von Selbstjustiz. Sie setzen eine Definition des Begriffs der Ehre voraus. Handlungen die das Ehrgefühl oder den Ehrbegriff von Einzelnen oder Gruppen (z.B. Familien, Dorfgemeinschaften, etc.) verletzten, werden als Unrecht empfunden, welches gesühnt werden soll. Viele Beispiele werden aus der Türkei berichtet. Ehrenmorde sind aber darüber hinaus in vielen weiteren muslimischen und nicht muslimischen Ländern verbreitet.

Bei mafiosen Vereinigungen findet sich Selbstjustiz bei Verstößen gegen, durch die Organisation selbst gesetzte Regeln, einem so genannten Codex.


Berühmte Fälle in deutschen Gerichtssälen

Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu Fällen von Selbstjustiz in deutschen Gerichtssälen. Der wahrscheinlich spektakulärste Fall fand im März 1981 statt. Eine Mutter erschoss in einem Lübecker Gerichtssaal den mutmaßlichen Mörder ihrer siebenjährigen Tochter vor Beginn der Verhandlung am 3. Verhandlungstag. Im Jahr 1994 erstach ein 57 Jähriger den Mörder seiner früheren Geliebten nach der Urteilsverkündung im Gerichtssaal des Hamburger Strafjustizgebäudes. Im März 1994 erschoss ein wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilter Mann den Richter und sechs weitere Menschen. Anschließend tötete er sich selbst mit einer Handgranate. Im Februar 1995 erschoss ein Vater den mutmaßlichen Mörder seines Sohnes im Kölner Landgericht. Dabei verletzte er einen Mitangeklagten. Im Mai 1995 tötete der Bruder eines Mordopfers in einem Bremer Gericht den mutmaßlichen Täter während einer Verhandlungspause.


Literatur

  • [lhttp://www.aljazeera.com/news/americas/2014/05/mexico-legalises-vigilantes-fight-cartels-2014510184150424971.htm Mexico legalizes vigilantes 2014]

Black, D. (Hrsg.) (1984).Towards a General Theory of Social Control. London.

http://www.abendblatt.de/daten/2005/04/19/423234.html

http://www.lexexakt.de

http://www.taz.de

http://www.wikipedia.de

Huggins, M. (Hrsg.) (1991). Vigilantism and the State in Modern Latin America. New York.

Johnston, L. (1996). What is Vigilantism?. In: British Journal of Criminology 36, S. 220 – 236.

N.N. (o.J.). Vigilantism, Vigilante Justice and Victim Self-Help. Auf: http://faculty.ncwc.edu/toconnor/300/300lect10.htm

Wesel, U. (1997). Geschichte des Rechts. München